Akutes Koronarsyndrom
Klassifikation nach ICD-10 | ||
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I20.0 | Instabile Angina pectoris | |
I21 | Akuter Myokardinfarkt | |
ICD-10 online (WHO-Version 2013) |
Der Begriff akutes Koronarsyndrom (ACS; Acute coronary syndrome) beschreibt ein Spektrum von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die durch den Verschluss oder die hochgradige Verengung eines Herzkranzgefäßes verursacht werden. Es reicht von der instabilen Angina pectoris (UA) bis zu den beiden Hauptformen des Herzinfarkts, dem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und dem ST-Hebungsinfarkt (STEMI) (vgl. EKG-Nomenklatur).<ref name="Fox1">K. A. A. Fox et al.: British Cardiac Society Working Group on the defenition of myocardial infarction. In: Heart. 2004; 90, S. 603–609. doi: 10.1136/hrt.2004.038679</ref><ref name="Hamm1">C. W. Hamm: Leitlinien: Akutes Koronarsyndrom (ACS) - Teil 1: ACS ohne persistierende ST-Hebung. In: Zeitschrift für Kardiologie 2004; 93, S. 72–90. doi: 10.1107/s00392-004-1064-2</ref> Ursache des akuten Ereignisses ist eine kritische Reduktion des Blutflusses durch die Ausbildung eines lokalen Thrombus auf dem Boden einer Plaqueruptur oder Plaqueerosion. Während das Blutgerinnsel beim STEMI das Gefäß in der Regel vollständig verschließt, bleibt bei der instabilen Angina pectoris und beim NSTEMI der Blutfluss erhalten.<ref name="DGK">Deutsche Gesellschaft für Kardiologie - Herz- und Kreislaufforschung e.V. (Hrsg.): Pocket-Leitlinien: Akutes Koronarsyndrom ohne ST-Hebung (NSTE-ACS)- Update 2009</ref>
In der Notfallmedizin dient der Begriff akutes Koronarsyndrom in erster Linie als primäre Arbeitsdiagnose bei einer noch unklaren, akuten und länger anhaltenden (> 20 min) Herz-Symptomatik. Diese Arbeitsdiagnose geht dabei grundsätzlich von einer lebensbedrohlichen Situation des betroffenen Patienten aus. Bei fast einem Drittel der rund 2 Millionen jährlichen Notfälle in Deutschland mit der Arbeitsdiagnose akutes Koronarsyndrom bestätigt sich der Anfangsverdacht: Bei 15 Prozent wird eine instabile Angina pectoris diagnostiziert, bei weiteren 15 Prozent ein NSTEMI oder STEMI.<ref name="Post F">F. Post, T. Münzel: Das akute Koronarsyndrom. Eine in der Praxis unscharf gehandhabte Diagnose. In: Der Internist. 2010; 8, S. 953–962.</ref> Mögliche Differentialdiagnosen zum akuten Koronarsyndrom können vielfältiger Natur sein: Sie reichen von weiteren kardiovaskulären Erkrankungen (z. B. Herzrhythmusstörungen, Myokarditis) über pulmonale Erkrankungen (z. B. Lungenembolie), Skeletterkrankungen (z. B. Rippenfrakturen), Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts (z. B. akute Pankreatitis, perforiertes Magengeschwür) bis zu Tumorerkrankungen des Skeletts und der Thoraxwand.<ref name="Hamm1" />
Inhaltsverzeichnis
Einteilung
Zur Risikostratifizierung und zielgerechten therapeutischen Behandlung der betroffenen Patienten wird das akute Koronarsyndrom in drei klar definierte Kategorien unterteilt:
- ST-Hebungsinfarkt (STEMI)
- Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI)
- instabile Angina pectoris (UA)
Eine genaue Diagnose erfolgt über die Messung biochemischer Marker (insbesondere kardiales Troponin T und I) und die Elektrokardiographie (EKG).<ref name="Fox1" /> Die für Deutschland geltenden Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie bewerten STEMI und NSTEMI als endgültige Diagnosen.<ref name="Hamm1" /><ref name="Hamm2">C. W. Hamm: Leitlinien: Akutes Koronarsyndrom (ACS) - Teil 2: Akutes Koronarsyndrom mit ST-Hebung. In: Z Kardiol. 2004; 93, S. 324–341. doi: 10.1007/s00392-004-0109-x</ref> Die gemeinsamen Leitlinien des American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association (AHA) bevorzugen dagegen die finalen Diagnosen Q-wave myocardial infarction (Qw MI) oder Non-Q-wave myocardial infarction (NQMI).<ref name="Antmann">E. M. Antmann et al.: ACC/AHA Guidelines for the Management With ST-Elevation Myocardial Infarction. In: J Am Coll Cardiol. 2004; 44, S. §1–E211.</ref> Diese Unterscheidung zwischen transmuralen (die gesamte Dicke der Wandschicht des Herzens betreffend) und nicht-transmuralen Myokardinfarkten ist auch in den deutschsprachigen Ländern gebräuchlich. Sie wird anhand von Veränderungen des QRS-Komplexes im EKG getroffen, die in der Regel frühestens nach 12 Stunden nachweisbar sind.
ST-Hebungsinfarkt
Von einem ST-Hebungsinfarkt ist auszugehen, wenn einer der folgenden EKG-Befunde vorliegt:
- ST-Streckenhebung von ≥ 0,1 mV in mindestens zwei zusammenhängenden Extremitätenableitungen<ref name="Hamm2" />
- ST-Streckenhebung von ≥ 0,2 mV in mindestens zwei zusammenhängenden Brustwandableitungen<ref name="Hamm2" />
- Linksschenkelblock mit infarkttypischer Symptomatik<ref name="Hamm2" />
In der Regel kommt es beim STEMI darüber hinaus zum Anstieg kardialer Marker. Bei Patienten mit einem STEMI steigt der Troponinwert erstmals nach etwa 3 Stunden und bleibt bis zu 2 Wochen erhöht. Lässt sich ein solcher Anstieg nicht nachweisen, muss die Diagnose STEMI in Frage gestellt werden.<ref name="DGK" /><ref name="Hamm2" />
Nicht-ST-Hebungsinfarkt und instabile Angina pectoris
Weist das EKG keine ST-Hebungen auf, so ist von einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt oder einer instabilen Angina pectoris auszugehen. Eine genaue Diagnose lässt sich frühestens nach 3 Stunden über den Troponinwert stellen. Während beim NSTEMI geringfügig erhöhte Werte für bis zu 72 Stunden nachweisbar sind, weisen die kardialen Marker bei der instabilen Angina pectoris keine erhöhten Werte auf.<ref name="Hamm1" /><ref name="DGK" />
Risikofaktoren
Der Erstmanifestation des akuten Koronarsyndroms geht in der Regel eine langjährige Entwicklung voraus. Die Atherosklerose ist dabei die Erkrankung, die fast allen kardiovaskulären Ereignissen zugrunde liegt. Verschiedene Risikofaktoren fördern Entstehung und Fortschreiten der Atherosklerose:
Nicht-beeinflussbare Risikofaktoren:<ref name="DGK" /><ref name="Libby">Peter Libby: Current Concepts of the Pathogenesis of the Acute Coronary Syndromes. In: Circulation. 104, Nr. 3, 2001-07-17, S. 365–372.</ref>
- Alter
- männliches Geschlecht
- positive Familienanamnese für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Beeinflussbare Risikofaktoren:<ref name="DGK" /><ref name="Libby" />
- Rauchen
- ungesunde Ernährung
- Bewegungsmangel
- Stress
- Übergewicht
- Diabetes mellitus
- hohe Blutzuckerwerte (HbA1c)
- hohe LDL-C-Werte ("schlechtes Cholesterin")
- niedrige HDL-C-Werte ("gutes Cholesterin")
- erhöhte Triglyceride
- Bluthochdruck
Prognose und Folgerisiko
Während die Krankenhausmortalität beim akuten Koronarsyndrom in den vergangenen Jahren reduziert werden konnte,<ref name="Robert">Robert Koch-Institut (Hrsg.): Gesundheitsberichterstattungen des Bundes 2006; Nr. 33</ref> bleibt die prähospitale Mortalitätsrate weiterhin überaus hoch: 37 Prozent der Patienten mit einem Myokardinfarkt versterben noch vor dem Erreichen des Krankenhauses.<ref name="Schiff">J. H. Schiff, H. R. Arntz, B. W. Boettinger: Das akute Koronarsyndrom in der Prähospitalphase. In: Der Anaesthesist. 2005; 54 (10), S. 957–974.</ref>
Innerhalb der initialen Hospitalisierung versterben rund 3 Prozent der Patienten an den Folgen eines akuten Koronarsyndroms. Mit 6 Prozent ist die Mortalität beim ST-Hebungsinfarkt dabei erheblich höher als beim Nicht-ST-Hebungsinfarkt (3 Prozent) und der instabilen Angina pectoris (1 Prozent).<ref name="Fox2">K. A. A. Fox et al: Underestimated and under-recognized: the late consequences of acute coronary syndrome (GRACE UK-Belgian Study). In: Eur Heart J. 2010, (online). doi: 10.1093/eurherartj/ehq326</ref>
Über das akute Ereignis hinaus besteht nach einem akuten Koronarsyndrom ein erhebliches Risiko, ein weiteres kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden (residuales Risiko). Analysen der 5-Jahres-Mortalität von Patienten mit einem akuten Koronarsyndrom belegen, dass sich ein großer Anteil der ACS-Todesfälle erst im ambulanten Umfeld, das heißt nach der initialen Hospitalisierung ereignet (STEMI: 68 Prozent; NSTEMI: 86 Prozent; UA: 97 Prozent). Insgesamt liegt die 5-Jahres-Mortalität beim akuten Koronarsyndrom bei ca. 20 Prozent. Das langfristige Mortalitätsrisiko ist dabei weitgehend unabhängig von der Art der Erstmanifestation des akuten Koronarsyndroms: Die 5-Jahres-Mortalität beim STEMI (19 Prozent), NSTEMI (22 Prozent) und der instabilen Angina pectoris (17 Prozent) unterscheiden sich nur geringfügig.<ref name="Fox2" />
Sekundärprävention
Primäres Ziel der Sekundärprävention nach einem akuten Koronarsyndrom ist, das Fortschreiten der Atherosklerose zu hemmen und das hohe residuale Risiko zu reduzieren, das heißt ein erneutes kardiovaskuläres Ereignis zu verhindern. Mit Hilfe von Änderungen des Lebensstils, z. B. dem Verzicht auf das Rauchen, regelmäßiger körperlicher Aktivität und einer Ernährungsumstellung, lässt sich das Risiko eines Folgeereignisses reduzieren. Insgesamt ist der Effekt von Änderungen des Lebensstils jedoch begrenzt, so dass in der Regel zusätzlich medikamentöse Therapien zum Einsatz kommen.
Aggregationshemmende Therapie
Es werden sogenannte Plättchenhemmer (z. B. Acetylsalicylsäure, Prasugrel, Ticagrelor, Clopidogrel) verwendet, die der erneuten Ausbildung von Thromben vorbeugen sollen.<ref>L. Wallentin: Ticagrelor versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. In: N Engl J Med. 2009 Sep 10;361(11), S. 1045–1057. doi:10.1056/NEJMoa0904327.</ref>
Cholesterin-senkende Therapie
Die Behandlung mit Lipidsenkern, in erster Linie Statinen (z. B. Simvastatin), ist Standard in der Sekundärprävention nach einem akuten Koronarsyndrom. Die Statin-Therapie zielt dabei in erster Linie auf eine Senkung des LDL-Cholesterins auf die empfohlenen Zielwerte von unter 80 mg/dl (European Society of Cardiology)<ref name="Graham">Graham et al.: European guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice: executive summary. In: Eur Heart J. 2007; 28, S. 2375–2414. doi: 10.1093/euroheartj/ehm316</ref> bzw. 70 mg/dl (Deutsche Gesellschaft für Kardiologie).<ref name="DGK" /> Der Einfluss hoher LDL-Cholesterin-Spiegel auf das kardiovaskuläre Risiko ist eindeutig belegt. Verschiedene Studien belegen zudem, dass der Einsatz von Statinen die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse um bis zu 38 Prozent reduziert.<ref name="Libby2">P. Libby et al.: The Forgotten Majority. Unfinished Business in Cardiovascular Risk Reduction. In: J Am Cardiol. 2005; 46, S. 1225–1228. doi: 10.1016/j.jacc.2005.07.006</ref> Das weiterhin überaus hohe residuale Risiko von über 60 Prozent lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass ein Großteil der Patienten die empfohlenen Zielwerte für verschiedene Parameter wie Blutdruck oder Blutfette nicht erreicht: Trotz Statin-Therapie sind lediglich ein Viertel der Patienten beim LDL-Cholesterin und HDL-Cholesterin im angestrebten Bereich.<ref name="Gitt">A. K. Gitt et al.: Prevalence and overlap of different lipid abnormalities in statin-treated patients at high cardiovascular risk in clinical practice in Germany. In: Clinical Research in Cardiology 2010; 99, S. 723–733. doi: 10.1107/s00392-010-0177-z</ref>
Die medikamentöse Erhöhung des HDL-Cholesterins ("gutes Cholesterin") gilt als ein möglicher therapeutischer Ansatz zur zusätzlichen Reduktion des residualen Risikos kardiovaskulärer Ereignisse. Epidemiologische Daten belegen, dass hohe HDL-C-Spiegel mit einem niedrigen Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse korrelieren.<ref name="Barter">P. Barter et al.: HDL cholesterol, very low levels of LDL cholesterol, and cardiovascular events. In: N Engl J Med. 2007; 357, S. 1301–1310.</ref> Einfluss auf das HDL-Cholesterin nehmen beispielsweise Nikotinsäurederivate und Fibrate. Beide Präparate haben jedoch multiple Effekte auf den Lipidstoffwechsel. Spezifischer lässt sich das HDL-Cholesterin über eine Inhibition des Cholesterinester-Transferproteins (CETP) erhöhen. Mit dem CETP-Inhibitor Anacetrapib befindet sich aktuell noch einer (von insgesamt bisher drei) Substanzen in klinischer Untersuchung, die eine Erhöhung des HDL-Cholesterins über eine komplette bzw., selektive CETP-Hemmung bewirken.<ref name="cannon">C. P. Cannon et al.: Safety of Anacetrapib in Patients with or at High Risk for Coronary Heart Disease In: N Engl J Med. 2010; 363, S. 2406–2415.</ref><ref name="Niesor">J. Niesor et al.: Dalcetrapib Binds to and Changes the Conformation of CETP in a Unique Manner. In: Circulation. 2009; 120: 445: Abstract 1092.</ref> Die Phase-III-Studie zu Dalcetrapib mit 15.000 Probanden wurde Anfang Mai 2012 aufgrund mangelnder klinischer Wirksamkeit von Roche beendet.<ref>Roche informiert über Phase-III-Studie mit Dalcetrapib (PDF; 81 kB) Presseerklärung der Roche GmbH vom 7. Mai 2012.</ref>
Einzelnachweise
<references />
Siehe auch
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