Bereitschaftspotential
Das Bereitschaftspotential ist ein elektrophysiologisch messbares Phänomen, das kurz vor willkürlichen Bewegungen in bestimmten Arealen der Großhirnrinde (im supplementärmotorischen Cortex) auftritt und als Ausdruck von Aktivierungs- und Vorbereitungsprozessen interpretiert wird.
Inhaltsverzeichnis
Elektroenzephalografie
Die Erstbeschreibung erfolgte 1964 durch eine britische Arbeitsgruppe um den Neurophysiologen William Grey Walter in der Fachzeitschrift Nature<ref name="PMID14197376">W.G. Walter, R. Cooper, V.J. Aldridge, W.C. McCallum, A.L. Winter: Contingent negative variation: An electrical sign of sensorimotor association and expectancy in the human brain. In: Nature. Band 203, Juli 1964, ISSN 0028-0836, S. 380–384, PMID 14197376.</ref> und kurz darauf (1965) – nun erstmals unter der Bezeichnung Bereitschaftspotential – durch die deutschen Hirnforscher Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke.<ref>Hans H. Kornhuber und Lüder Deecke: Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale. In: Pflügers Arch Physiol (1965), 281, S. 1-17. doi:10.1007/BF00412364 PDF</ref> Letztere ließen die Probanden spontane Fingerbewegungen ausführen und zeichneten ein kontinuierliches Gleichstrom-EEG auf. Es zeigte sich mehr als eine Sekunde vor Ausführung der Bewegung eine charakteristische negative Potentialwelle, vor allem in frontalen und parietalen Ableitungen. Der Nachweis dieser, als Bereitschaftspotential oder readiness potential bezeichneten, elektrischen Wellen veränderte das Verständnis vom zeitlichen neuronalen Ablauf motorischer Aktionen grundlegend.
Da das Bereitschaftspotential mit einer messbaren Spannung von bis zu 20 µV<ref>Hiroshi Shibasaki und Mark Hallett: What is the Bereitschaftspotential? In: Clinical Neurophysiology (2006), 117, S. 2341–2356. PDF</ref> im Vergleich zu anderer Gehirnaktivität schwach ist, kann es nicht einfach zum Zeitpunkt seines Auftretens gemessen und ausgewertet werden, sondern muss über eine Vielzahl von Versuchsdurchläufen gemittelt werden. Die Versuchspersonen in den bekannten Libet-Experimenten mussten denselben Vorgang etwa vierzigmal wiederholen. Angaben über Zeitabstände vor oder nach dem Maximum des aufgezeichneten Potentials sind deshalb in der Regel Durchschnittswerte.<ref>Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2003, ISBN 3518583832, S. 486 ff.</ref>
Subjektiv erlebte Entscheidung
Etwa 500 ms vor Beginn einer willkürlichen Bewegung ist bereits ein Potentialanstieg messbar. Die subjektiv erlebte Entscheidung eines Probanden für die Bewegung wird von diesem jedoch erst ca. 200 ms vor dieser Bewegung wahrgenommen.<ref>Adina L. Roskies: How Does Neuroscience Affect Our Conception of Volition? In: Annual Review of Neuroscience (2010), 33, S. 109-130</ref> Diese Zeit wurde ermittelt, indem Versuchspersonen während einer EEG-Messung den rotierenden Zeiger einer Uhr betrachteten. Wollten die Versuchspersonen nun eine willkürliche Bewegung, wie etwa das Drücken eines Knopfes, ausführen, teilten sie die Position des Uhrzeigers zu dem Zeitpunkt mit, als ihnen ihre Entscheidung zur Handlung bewusst wurde. Um die individuelle Zeitverzögerung der einzelnen Personen bei der Beschreibung der Position des Uhrzeigers zu bestimmen, wurden Kontrollexperimente durchgeführt bei denen die Versuchspersonen die Position des Zeigers während eines zeitlich festgelegten Stimulus der Haut mitteilen sollten.
Die Libet-Experimente und erweiterte Nachfolgeexperimente bekräftigten für manche die Vermutung, dass freier Wille eine Illusion sei, da der Wunsch, eine spontane Bewegung auszuführen, erst nach einer neuronalen Einleitung dieser Bewegungsabläufe entstehe.
Libet selbst schrieb in späteren Veröffentlichungen den bewusst erlebten Entscheidungen jedoch die Möglichkeit eines Veto-Recht zu. Damit sei eine Person in der Lage, bis 200-100 ms vor der Handlung – bis etwa zum Maximum der Amplitude des Bereitschaftspotentials – eine neuronal bereits eingeleitete Bewegung noch kurzfristig abzubrechen.<ref>Benjamin Libet: Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action In: Behavioral and Brain Sciences (1985), 8, S. 529-566</ref> Die Versuchspersonen könnten somit de facto die motorische Handlung noch unterdrücken.
Neuere Experimente
Neuere Experimente zur Bewusstheit willentlicher Entscheidungen von Kühn und Brass deuten darauf hin, dass auch Veto-Entscheidungen unbewusst getroffen werden und erst nachträglich als freie Entscheidungen empfunden werden.<ref name="PMID18952468">S. Kühn, M. Brass: Retrospective construction of the judgement of free choice. In: Consciousness and cognition. Band 18, Nummer 1, März 2009, ISSN 1090-2376, S. 12–21, doi:10.1016/j.concog.2008.09.007, PMID 18952468.</ref> Libets ursprüngliche Interpretation seiner Bereitschaftspotentiale wäre somit bestätigt.
Bedeutungswandel des Begriffs
Die erste Hälfte des Begriffs, also Bereitschaft, hatte ihren Ursprung in der Vorstellung, dass das Gehirn spontan eine Handlungsbereitschaft herstellt. Bei dann gegebener Bereitschaft könne der Proband sich für die Ausführung der Handlung entscheiden.<ref>Hans H. Kornhuber und Lüder Deecke: Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale. In: Pflügers Arch Physiol (1965), 281, S. 1-17. doi:10.1007/BF00412364, S. 15, PDF</ref> Spätere Versuche, einschließlich Zellableitungen, zeigten dann allerdings, dass die Vorlaufsphase keine Bereitschaftsphase war sondern eine Vorbereitungsphase mit automatisch folgender Ausführung der Handlung. Der Proband löste die Handlung nicht bewusst aus, sondern sie wurde ihm erst bewusst bei der Ausführung.<ref>Steven P. Wise: Movement selection, preparation, and the decision to act: neurophysiological studies in nonhuman primates, in: Marjan Jahanshahi, Mark Hallett (Hrsg.): The Bereitschaftspotential: Movement-Related Cortical Potentials, Springer Science & Business Media 2003, S. 249-268, ISBN 0306474077, S. 260-262.</ref> Bis dahin hatte sich der Begriff Bereitschaftspotential jedoch schon international etabliert und wurde nicht mehr geändert. In neueren Fachbüchern wird er jedoch auch schon ersetzt - gemäß der gewandelten Bedeutung - durch preparation potential (Engl.)<ref>Roger Bartra: Anthropology of the Brain. Consciousness, Culture, and Free Will, Cambridge University Press 2014, ISBN 9781139952798, S. 125.</ref> und Vorbereitungspotential<ref>Michael Trimmel: Angewandte und Experimentelle Neuropsychophysiologie, Band 35 von Lehr- und Forschungstexte Psychologie, Springer-Verlag 2013, ISBN 3642758924, S. 216-230.</ref>
Literatur
- Marjan Jahanshahi, Mark Hallett (Hrsg.): The Bereitschaftspotential: Movement-Related Cortical Potentials, Springer Science & Business Media 2003, ISBN 0306474077.
- W.G. Walter, R. Cooper, V.J. Aldridge, W.C. McCallum, A.L. Winter: Contingent negative variation: An electrical sign of sensorimotor association and expectancy in the human brain. In: Nature. Band 203, Juli 1964, ISSN 0028-0836, S. 380–384, PMID 14197376.
- Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke: Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale In: Pflügers Arch Physiol (1965), 281, S. 1-17. doi:10.1007/BF00412364 PDF
- Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke: Readiness for movement – The Bereitschaftspotential-Story In: Current Contents Life Sciences (1990), 33, S. 4.PDF
- Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke: Wille und Gehirn Bielefeld u. Locarno Edition Sirius (im AISTHESIS Verlag) 2007. ISBN 978-3-89528-628-5.
Einzelnachweise
<References />