Gil Evans
Gil Evans (* 13. Mai 1912 als Ian Ernest Gilmore Green in Toronto, Ontario; † 20. März 1988 in Cuernavaca, Mexiko) war ein kanadischer Jazzmusiker (Arrangeur, Komponist, Bandleader und Pianist); in den 1940 bis 1970er Jahren war er ein bedeutender Neuerer der konzertanten Big-Band-Musik in den Stilrichtungen Cool Jazz, Modaler Jazz, Free Jazz und Jazzrock. Evans hat die Orchestrierung als neue Qualität in den Jazz eingeführt; beispielsweise hat er mit wechselnden Kombinationen unüblicher oder unüblich eingesetzter Holz- und Blechblasinstrumente wie Oboe, Waldhorn und Tuba das Klangfarbenspektrum dieser Musik erweitert.<ref name="Kunzler.351">Martin Kunzler: Das Jazz-Lexikon. Rowohlt, Reinbek 2002, Band 1, S. 351</ref> Bekannt wurde er in den 1940er Jahren für seine Arrangements im Claude Thornhill-Orchester. Seine Arbeit mit Miles Davis, die mit den Birth of the Cool-Sessions 1949 begann, erreichte ihren Höhepunkt mit orchestralen Produktionen wie Miles Ahead (1957) und Sketches of Spain (1960), die „den Miles Davis-Ton am vollkommensten in orchestralen Klang verwandelte eine Big Band mit den besten Jazzmusikern um sich und gab ihnen jede nur erdenkliche Freiheit zur Improvisation. Die musikalischen Ergebnisse dieses Monday Night Orchestra – freier und ‚offener‘ als alles, was der damals über 70 Jahre alte Gil Evans in seiner reichen Karriere geschaffen hat – gehören zum Besten, was je im Bereich des Jazz Rock an orchestraler Musik geschaffen wurde.“<ref>Joachim Ernst Berendt, Günther Huesmann: Das Jazzbuch. Fischer TB, Frankfurt/M. 1994, S. 519</ref>
Von den zahlreichen Konzerten entstanden Mitschnitte von unterschiedlicher Qualität (Live at Sweet Basil, Bud and Bird, Farewell).<ref group="Stein">Stein, S. 303 ff</ref> 1987 feierte er seinen 75sten Geburtstag mit einem Konzert im Londoner Hammersmith Odeon; Ehrengäste waren Airto Moreira, Steve Lacy und Van Morrison. Es folgten Auftritte auf dem Umbria Jazz in Perugia im Juli 1987, u. a. mit Sting; eine Neubearbeitung des Albums Dream of You (1956) mit Helen Merrill (Collaboration), im Herbst eine Brasilien-Tour und ein Paris-Aufenthalt, wo er mit der Band von Laurent Cugny und dem Orchestre National de Jazz Aufnahmen einspielte. Ebenfalls in Paris nahm er am 30. November und am 1. Dezember sein letztes Album Paris Blues im Duo mit Steve Lacy auf.<ref group="Stein">Stein, S. 322</ref>
Auszeichnungen (Auswahl)
Als bester Komponist gewann Evans 1960 den Down Beat Readers Poll und den ersten Preis des Melody Maker als Komponist. Zusammen mit Miles Davis wurde er für Sketches of Spain in den Grammy Awards 1961 in der Kategorie Beste Jazz-Komposition ausgezeichnet. 1962 gewann er den International Jazz Critics Award; 1964 erneut den Downbeat Readers Poll. Im selben Jahr wurde sein Album Individualism für den Grammy nominiert.<ref group="Stein">Stein, S. 255.</ref> 1971 und 1978 wurde er als Founding Artist in Washington D.C. geehrt.<ref group="Stein">Stein, S. 297.</ref> 1981 überreichte ihm seine Heimatstadt Stockton den STAR Award des Stockton Arts Council.<ref group="Stein">Stein, S. 302.</ref>
Würdigung
„Seine Mutter sagte ihm, er sei von einem Stern gefallen,“ beginnt Stephanie Stein Crease ihre Biografie über Gil Evans. „Tatsächlich ist um [ihn] etwas ätherisches. Er überschritt zahlreiche Grenzen – musikalisch und persönlich – die zahlreiche seiner Zeitgenossen einschränkten. Sein Gefühl für Freiheit und Herausforderung ließen ihn zu einem schonungslos innovativen Arrangeur und Komponisten werden.“ Stein Crease geht auf die Gründe ein, die ihn häufig im Schatten von Miles Davis stehen ließen; „die Jazzgeschichte fokussierte sich immer auf die Star-Musiker und Solisten. Gil arbeitete meist hinter dem Vorhang, unsichtbar für alle außer jenen, die vertraut mit dem Wesen dieser Arbeit sind.“ Einen weiteren Grund sieht Stein in Evans selbst; er war meist zurückhaltend und hatte kein Interesse an geschäftlichen Dingen und der eigenen Promotion.
Auch wenn sein Leben nicht so spektakulär verlief wie das von Charlie Parker oder Charles Mingus, wäre es dennoch „voll von Pathos. Da waren die Tiefs: seine künstlerischen Pläne wurden links und rechts zusammengestrichen, von den Plattenfirmen wurde er gelinkt, und ignoriert von Kritikern und Promotern, die lieber Porgy and Bess hören wollten als seine aktuellen Entwicklungen.“ Er lebte jahrelang von der Hand in den Mund; kommerzielle Angebote, die ihn nicht interessierten, schlug er aus. Seine resoluten Entscheidungen brachten ihm auch seine „unschätzbaren Höhen: ein harmonisches Familienleben, lang andauernde Freundschaften mit kreativen Menschen wie Davis und Lacy; ihn verehrende Musiker waren bereit, auch ohne Geld für ihn zu spielen, und die Möglichkeit, ein Werk von unvergleichlicher Kraft zu schaffen, dessen Frische noch gesteigert wurde, als er älter wurde.“<ref group="Stein">Stein, S. Xi-xii</ref>
Nach Ansicht von Martin Kunzler hat Gil Evans „die Orchestrierung gewissermaßen als neue Qualität in den Jazz eingeführt“; dabei hat er die strenge Gliederung nach Bigband-Sections (Holzbläser, Trompeten, Posaunen) gesprengt; wechselnde Kombinationen im Jazz unüblicher Instrumente haben „das Klangfarbenspektrum dieser Musik erweitert.“ Evans habe sich nicht als Songwriter oder Melodienerfinder verstanden, sondern in erster Linie als Arrangeur und Entdecker neuer Orchesterfarben: „Charakteristisch für seine impressionistischen Arrangements sind Klangschichtungen und die Kombination extremer Tonlagen unter Hervorhebung der unteren Register.“ Typisch sei ferner ein „meist über weite Strecken gedehnter dynamischer Aufbau und die Vermischung tonikal und auch modal begründeter Noten in der Harmonik.“<ref name="Kunzler.351" /> Nur vergleichbar mit Duke Ellington oder Charles Mingus habe er für die „Improvisatoren eine bei aller Kompliziertheit wie selbstverständlich fließende Klangwelt“ geschaffen.<ref name="Kunzler.351" />
Für Raymond Horricks betont Evans Individualität, die er vor allem in seiner janusköpfigen Haltung zu Jazztradition sieht: „‘He’s looking back at the same time as looking forward’. Immer wieder benutzt er etwa Jelly Roll Mortons King Porter Stomp, um ihn zu analysieren und dann auf eigene Weise neu zu erschaffen. […] Er hat Klänge durch die Kombination verschiedener Instrumente zusammengestellt, von denen seine Kollegen seit Jahrzehnten meinten, dies würde nicht funktionieren. […] Zu seinen direkten Einflüssen gefragt, entgegnete er: ‘Everything I’ve ever heard. The good and the bad. With the bad being especially important because it teaches you what to avoid. But it isn’t just music. As a boy it was the sounds in the street, police sirens, all of that.’“<ref>Raymond Horricks: Svengali, or the Orchestra Called Gil Evans. Spellmount, 1984, S. 13, 96 S., englisch</ref>
Für Joachim-Ernst Berendt wurde das Gil Evans Orchestra „die großorchestrale Realisation von Miles Davis’ Trompetensound.“ Seiner Ansicht nach ist Evans kein „fleißiger“ Arrangeur wie etwa Quincy Jones; „er läßt die Musik lange in sich reifen, und er schreibt nichts Fertiges. Noch während der Aufnahme feilt und ändert er und baut oft ganze Kompositionen und Arrangements um. Oft entstehen seine Arrangements erst, wenn sie gespielt werden – fast wie beim frühen Ellington.“<ref>Joachim Ernst Berendt, Günther Huesmann: Das Jazzbuch. Fischer TB, Frankfurt/M. 1994, S. 518 f.</ref>
Miles Davis würdigte seinen Freund folgendermaßen: „He never wasted a melody, he never wasted a phrase … Students will discover him, they’ll have to take his music apart layer by layer. That’s how they’ll know what kind of genius he was.“<ref>Zitiert bei Leonard Feather, Ira Gitler: The Biographical Encyclopedia of Jazz. Oxford University Press, Oxford usw. 1999, ISBN 978-0-19-532000-8, S. 215</ref>
Evans, ein „musicians’ musician“
Persönliche Freiheit und Konzentration auf die Musik waren Evans zeitlebens wichtiger als Starglanz und großes Geld; so nahm seine öffentliche und finanzielle Karriere im Land des „big showbiz“ einen etwas durchwachsenen Verlauf. So waren im Jahr 1979 seine Haupteinkommenquellen der monatliche Scheck der Social Security über 330$, ungefähr 2.000$ jährlich an Tantiemen durch die BMI und Kredite der Musikergewerkschaft Local 802.<ref group="Stein">Stein, S. 296</ref> Einhellig rühmten die Musiker seine integere, bescheidene und freundliche Art; ebenso seine Großzügigkeit gegenüber Anderen – solange es nicht um die musikalische Präzision ging. Auch wenn es in seiner Beziehung zu Miles Davis negative Aspekte wie die Tantiemenfrage gab, hielt Evans die Freundschaft aufrecht und weigerte sich auf Drängen seines Umfeldes, ihn um Geld anzugehen:
- „Nun, Miles braucht das Geld. Damit fühlt er sich gut. Er braucht das Auto, und das große Haus und die Kleider und das ganze Geld, um sich gut zu fühlen. Solche Dinge brauche ich nicht. Ich brauche überhaupt nichts.“<ref group="Stein">Stein, S. 130, 296</ref>
Seine Instrumentierungen und die in Melodie und Rhythmik, bei den Harmonien noch bis in die inneren Stimmenführungen subtil ausgearbeiteten Arrangements (manchmal eher Rekompositionen der Vorlagen) und seine eigenen Kompositionen gaben den Spielern immer einen idealen Raum zur solistischen und improvisatorischen Entfaltung. Bei Bedarf konnte er jedoch auch schwierigste ‚Improvisationen‘ überzeugend notieren und wusste genau, wie ein Instrument bei einem bestimmten Spieler herüberkam – Evans war ein echter und hoch geschätzter „musicians’ musician“. Mit den Traditionen bestens vertraut, hatte er darüber hinaus stets ein ‚pfadfinderisch‘ offenes Ohr für ‚neue Töne‘.
Die Kritik sieht ihn im Rang wegweisender Innovatoren neben Ellington/Strayhorn oder Mingus. Später einmal gefragt, ob etwa seine meisterlichen Davis-Alben mehr zur Klassik oder zum Jazz zählten, entschied er nüchtern: „Das ist ein Verkäuferproblem, nicht meines.“
Diskografische Hinweise
→ Hauptartikel Gil Evans/Diskografie
- 1949-50: Birth of the Cool (Capitol, 1957)
- 1957: Miles Ahead (Columbia)
- 1957: Gil Evans and Ten (Prestige)
- 1958: Porgy and Bess (Miles Davis & Gil Evans, Columbia)
- 1958: New Bottle, Old Wine (Pacific Jazz)
- 1959: Great Jazz Standards (Pacific Jazz)
- 1960: Sketches of Spain (Miles Davis & Gil Evans, Columbia)
- 1961: Out of the Cool (Impulse!)
- 1964: The Individualism of Gil Evans (Verve)
- 1971: Where Flamingos Fly (A&M)
- 1973: Svengali (Atlantic)
- 1974: The Gil Evans Orchestra Plays the Music of Jimi Hendrix (RCA)
- 1975: There Comes a Time (RCA)
- 1977: Priestess (Antilles)
- 1980: Live at the Public Theatre (New York 1980)
Sammlung
- Miles Davis & Gil Evans the Complete CBS Studio Recordings (1957 - 1968) - (Mosaic Records 1996) - 11 LPs mit Ernie Royal, Bernie Glow, Taft Jordan, Johnny Carisi, Frank Rehak, Jimmy Cleveland, Willie Ruff, Lee Konitz, Danny Bank, Paul Chambers, Wynton Kelly, Johnny Coles, Gunther Schuller, Cannonball Adderley, Philly Joe Jones, Julius Watkins, Jimmy Cobb, Jerome Richardson, Elvin Jones, Harold Shorty Baker, Jay Jay Johnson, Steve Lacy, Wayne Shorter, Bob Dorough, Buddy Collette, Herbie Hancock, Ron Carter, Tony Williams, Howard Johnson, Hubert Laws
Kompositionen (Auswahl)
|
|
Literatur
- Tetsuya Tajiri: Gil Evans Discography 1941–82. Tajiri, Tokyo 1983, ill., 61 S.
- Raymond Horricks: Svengali, or the Orchestra Called Gil Evans Spellmount, 1984, 96 S., englisch
- Laurent Cugny: Las Vegas Tango – Une vie de Gil Evans. P.O.L./Coll. Birdland, 1990, 416 S., französisch
- Stephanie Stein Crease: Gil Evans: Out of the Cool – His life and music. A Cappella Books / Chicago Review Press, Chicago 2002, ISBN 978-1-55652-493-6.
- Larry Hicock: Castles Made of Sound – The Story of Gil Evans. Da Capo Press, 2002, 306 S., englisch
Weblinks
- Offizielle Website Gil Evans
- Laurent Cugny: Maison du Jazz – Kurzbiografie und detaillierte Diskografie (französisch, englisch)
- Gil Evans: „The Individualism of Gil Evans“ - „Das Arrangement im Jazz und sein Genie“. arte, 8. September 2006, Reihe: 30 Jahrhundertaufnahmen des Jazz von Harry Lachner
- Gil Evans in der Datenbank von Find a Grave (englisch)
- Gil Evans bei Allmusic (englisch)
Anmerkungen
<references group="A" />
Einzelnachweise
<references />
- Stephanie Stein Crease: Gil Evans: Out of the Cool – His life and music. A Cappella Books / Chicago Review Press, Chicago 2002, ISBN 978-1-55652-493-6.
Personendaten | |
---|---|
NAME | Evans, Gil |
ALTERNATIVNAMEN | Evans, Ian Ernest Gilmore; Green, Ian Ernest Gilmore |
KURZBESCHREIBUNG | kanadischer Jazzmusiker |
GEBURTSDATUM | 13. Mai 1912 |
GEBURTSORT | Toronto, Ontario |
STERBEDATUM | 20. März 1988 |
STERBEORT | Cuernavaca, Mexiko |