Hugo Höllenreiner
Hugo Adolf Höllenreiner (* 15. September 1933 in München; † 10. Juni 2015 in Ingolstadt<ref>Hugo Höllenreiner ist tot. Süddeutsche Zeitung, abgerufen am 15. Juni 2015.
Ulrich Trebbin: Auschwitz-Überlebender Hugo Höllenreiner gestorben. Bayerischer Rundfunk, 11. Juni 2015 (Webarchiv).</ref>) war ein deutscher Sinto und Überlebender des Porajmos. Als Kind überlebte er das „Zigeunerlager Auschwitz“ und drei weitere Konzentrationslager. Seit Ende der 1990er Jahre engagierte er sich als Zeitzeuge.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Höllenreiners Eltern wählten den zweiten Vornamen ihres Sohnes, um ihn damit vor der nach der Machtübernahme 1933 aufziehenden Bedrohung durch die Nationalsozialisten zu schützen. Er wuchs in München im Stadtteil Giesing in der Deisenhofener Straße<ref name="sz3004" /> auf. Sein Vater besaß dort ein Haus und betrieb eine Pferdehandlung. Er wurde in Umsetzung des Auschwitz-Erlasses mit seiner Familie am 8. März 1943 verhaftet<ref name="sz3004">Bernd Kastner: Das Leben, die Leiden In: Süddeutsche Zeitung. 20. April 2013, ISSN 0174-4917, S. R8.</ref> und am 16. März 1943<ref>Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau in Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Heidelberg: Gedenkbuch: Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz Birkenau. Saur, München/London/New York/Paris 1993, ISBN 3-598-11162-2. (Dreisprachig: Polnisch, Englisch, Deutsch) Hauptbuch Männer, S. 104.</ref> in das Zigeunerlager Auschwitz deportiert, wo Josef Mengele an ihm und seinem Bruder Menschenversuchen durchführte. Mit der Deportation wurde die Familie enteignet und ihr Eigentum zur Nutzung der "Volksgemeinschaft" übergeben. Über die Lager Ravensbrück und Mauthausen kam Höllenreiner nach Bergen-Belsen. Er, seine fünf Geschwister und beide Eltern überlebten den Genozid. 36 Angehörige wurden getötet.<ref name="sz3004" />
Nach Kriegsende wohnte die Familie wieder in Giesing, später in Waldtrudering und dann in Ingolstadt. Der 12- bis 13-jährige Höllenreiner begann einen Handel mit Bürsten und trug damit wesentlich zum Familieneinkommen bei.<ref name="sz3004" />
Hugo Höllenreiner erhielt keine Zahlungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz oder andere vergleichbare Zahlung als Entschädigung für das erlittene Unrecht, obwohl er sich darum bemühte.<ref>Hugo Höllenreiner (geb. 1933) „Weil wir Sinti sind…“ NS Dokumentationszentrum München, abgerufen am 12. Juni 2015. </ref>
Seit den späten 1990er Jahren berichtete Höllenreiner in zahlreichen Vorträgen als Zeitzeuge über seine Erlebnisse.
Ehrungen und Auszeichnungen
Für sein Engagement als Zeitzeuge wurde Hugo Höllenreiner mehrfach ausgezeichnet:
- 2013 erhielt er den Austrian Holocaust Memorial Award des Vereins Österreichischer Auslandsdienst. Die Verleihung erfolgte im Jüdischen Museum in München; die Laudatio hielt die Vorsitzende der Israelischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch.<ref name="Ehrung-2013-05-02" />
- 2014 wurde er anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Aufstandes im "Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau" für sein Lebenswerk als „Botschafter der Menschlichkeit“ geehrt. Die Gedenkfeier und die Ehrung fanden im Alten Rathaus in München statt; die Laudatio auf Hugo Höllenreiner hielt Münchens ehemaliger Oberbürgermeister Christian Ude.<ref name="Ehrung-2014-05-20" />
- 2014 wurde ihm von der bayerischen Landeshauptstadt München in „Anerkennung seiner jahrzehntelangen intensiven Aufklärungsarbeit als Zeitzeuge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ die Medaille München leuchtet – Den Freundinnen und Freunden Münchens in Silber verliehen. Die Ehrung nahm Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter vor.<ref name="Ehrung-2014-11-03" />
Darstellung in Literatur, Film und Musik
In einer Reihe von Interviews erzählte Höllenreiner auch der Autorin Anja Tuckermann von seinem Schicksal während des Nationalsozialismus. Diese erhielt für Ihr Buch „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner im Jahr 2006 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Das Buch war zudem für den Geschwister-Scholl-Preis 2006 nominiert und war auf der Kinder- und Jugendbuchliste Sommer 2008 von Radio Bremen und dem Saarländischen Rundfunk. Eine scharf negative Kritik zu Tuckermanns Verarbeitung der Lebensgeschichte leistete Wilhelm Solms in der Zeitschrift Antiziganismusforschung. Insbesondere warf er ihr Grenzverschiebungen, Grenzverletzungen und eine zu geringe Beachtung der Reflektionsleistung Höllenreiners vor.<ref>Wilhelm Solms: Tuckermanns Aneignung von Höllenreiners Lebensgeschichte. Gesellschaft für Antiziganismusforschung e.V. (Hrsg.): Antiziganismusforschung 1/2009, ISBN 978-3-939762-05-8, S. 13–14 (PDF; 5,5 MB) aufgerufen am 12. Juni 2015.</ref>
Über Höllenreiners Schicksal wurde 2007 der Dokumentarfilm Angelus Mortis gedreht.
Adrian Coriolan Gaspar führte ab 2008 eigene Interviews mit Höllenreiner und setzte dessen Erinnerungen musikalisch in seinem ersten Orchesterwerk Symphonia Romani – Bari Duk um, einem Oratorium für Solo-Bass, gemischten Chor und Orchester.<ref>Der Mann, der Mengele überlebte "Die Presse", Print-Ausgabe vom 27. Juli 2014</ref>
Literatur
- Anja Tuckermann: „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner. 2. Auflage. Hanser, München 2005, ISBN 3-446-20648-5 (Rezension von Elena Geus in der FAZ).
- Taschenbuchausgabe: „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner (= dtv 62336). 4. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2013, ISBN 978-3-423-62336-0.
- Frederik Obermaier: Jeden Tag den Tod vor Augen. In: Donaukurier. Wochenendbeilage. 15./16. April 2006, ZDB-ID 1477609-1.
- Thies Marsen: Der vergessene Völkermord. Das Schicksal der Sinti im Dritten Reich und die Rolle der Münchner Polizei. In: Hinterland. Magazin des Bayerischen Flüchtlingsrats. Nr. 10, 2009, ISSN 1863-1134, S. 54–61 (online als PDF, 511 kB).
- Matthias Bahr, Peter Poth (Hrsg.): Hugo Höllenreiner. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur. In Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Heidelberg, dem NS-Dokumentationszentrum München. Kohlhammer, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-570-55203-2.
- Anja Tuckermann: „Weil wir Sinti sind“. Die Geschichte von Josef Muscha Müller, Hugo und Mano Höllenreiner. In: Peter Poth (Hrsg.): Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten. Pantheon, München 2014, ISBN 978-3-17-023668-4, S. 81–90.
Dokumentarfilme
- Angelus Mortis. Dokumentarfilm, Deutschland, 2007, 37 Min., Regie und Buch: Simon Ritzler, Produktion: Filmakademie Baden-Württemberg, Uraufführung: 30. Oktober 2007, Angaben zum Film beim Deutschen Bildungsserver, Filmbesprechung von myheimat.de.
Bemerkung: Der Dokumentarfilm Angelus Mortis (lateinisch; deutsch ‚Engel des Todes‘) enthält historische Filmbeiträge sowie Interviews mit Hugo Höllenreiner, der als Zeitzeuge und Opfer über die Menschenversuche des Lagerarztes Josef Mengele im KZ Auschwitz-Birkenau berichtet. - Die Nacht der Zeitzeugen. Aus dem Münchner Volkstheater. Videodokument (Fernsehmitschnitt), Deutschland, 2008, 60 Min., Regie: Dagmar Kiolbasa, Produktion: Bayerischer Rundfunk, Moderation: Andreas Bönte, Angaben zur Videodokumentation (VHS-Videokassette) beim GVK, Angaben zur Videodokumentation (SVHS-Videokassette) beim BSZ.
Bemerkung: Die Dokumentation enthält Filmbeiträge und ein Studiogespräch im Münchner Volkstheater mit den Holocaust-Überlebenden Hugo Höllenreiner, Max Mannheimer und Abba Naor. - Dui Rroma. Dokumentarfilm (nichtkommerzieller Film für TV und Kino), Österreich, Neubearbeitung 2014, 45 Min., Regie: Iovanca Gaspar, Filmsprache: Romanes mit deutschen Untertiteln, TV-Ausstrahlungen erfolgten u. a. beim nichtkommerziellen Fernsehsender Okto in Wien, Angaben zum Dokumentarfilm beim ORF.
Bemerkung: Im Dokumentarfilm Dui Rroma (auf Romanes; deutsch ‚Zwei Roma‘) erzählt Hugo Höllenreiner seine Lebensgeschichte; sein Gesprächspartner ist der junge rumänisch-österreichische Rom Adrian Gaspar, der Sohn der Regisseurin Iovanca Gaspar.
Weblinks
- Hugo Höllenreiner (geb. 1933) „Weil wir Sinti sind …“ In: Münchner Biografien – Ein Ausblick auf die Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrums München
- Ulrich Trebbin: Hugo Höllenreiner – Eine Kindheit in Auschwitz. In: Radiosendereihe Bayern – Land und Leute bei Bayern 2. 23. November 2014. (Mit Audiostream)
- Hugo Höllenreiner. KZ-Überlebender. In: Zeitzeugen beim Haus der Bayerischen Geschichte. Aufnahmedatum: 20. Mai 2012. (Mit u. a. Kurzbiografie sowie drei Video-Interviews mit Hugo Höllenreiner als Videostreams)
- Bernd Kastner: NS-Zeitzeuge Hugo Höllenreiner. Das Leben von Z-3529. In: Süddeutsche Zeitung. 30. April 2013.
- Frederik Obermaier: Folter im KZ. Auge in Auge mit Todesengel Mengele. In: einestages. 22. Oktober 2007.
Einzelnachweise
<references>
<ref name="Ehrung-2013-05-02">Aaron Buck: Botschafter der Menschlichkeit. Hugo Höllenreiner erhält den „Austrian Holocaust Memorial Award“. In: Jüdische Allgemeine. Nr. 21, 23. Mai 2013 (Bemerkung: Die Verleihung erfolgte am 2. Mai 2013, Online in juedische-allgemeine.de, abgerufen am 10. August 2015).</ref>
<ref name="Ehrung-2014-05-20">Ich hätte auch gekämpft!“ Gedenkveranstaltung und Ehrung Hugo Höllenreiners. In: ns-dokumentationszentrum-muenchen.de. NS-Dokumentationszentrum München, 12. Mai 2014, abgerufen am 9. August 2015 (Bemerkung: Die Ehrung erfolgte am 20. Mai 2014 im Alten Rathaussaal am Münchner Marienplatz.). </ref>
<ref name="Ehrung-2014-11-03">Landeshauptstadt München, Direktorium: München leuchtet für Hugo Höllenreiner. In: muenchen.de. Landeshauptstadt München, 3. November 2014, abgerufen am 9. August 2015 (Bemerkung: Die Überreichung der Medaille erfolgte am 3. November 2014 im Münchner Rathaus.). </ref>
</references>
Personendaten | |
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NAME | Höllenreiner, Hugo |
ALTERNATIVNAMEN | Höllenreiner, Hugo Adolf (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Rom und Überlebender des Porajmos |
GEBURTSDATUM | 15. September 1933 |
GEBURTSORT | München |
STERBEDATUM | 11. Juni 2015 |
STERBEORT | Ingolstadt |