Identifikation mit dem Aggressor
Die Identifikation mit dem Aggressor (auch: Identifizierung mit dem Angreifer) bezeichnet in der Tiefenpsychologie einen Abwehrmechanismus zur Angstbewältigung, dessen Funktion und Relevanz je nach Standpunkt der Autoren unterschiedlich bewertet wurde. Eine Vereinheitlichung nimmt der Psychoanalytiker Mathias Hirsch (1996) vor, der in den divergierenden Perspektiven (A. Freud,1936; S. Ferenczi 1933) zwei Arten desselben Abwehrgeschehens wahrnimmt. Damit reicht das Spektrum dieses Abwehrmechanismus von produktiven Formen der Angstbewältigung bis hin zur schädigenden Verleugnung überwältigender Angst im Traumageschehen: Hier identifiziert sich eine Person, die von einem Aggressor körperlich und/oder emotional misshandelt oder unterdrückt wird, unbewusst mit ihm.
Inhaltsverzeichnis
Allgemeines
Die Person verinnerlicht und übernimmt dabei ohne ihr bewusstes Wissen und oft gegen ihren bewussten Willen Persönlichkeitseigenschaften, Werte und Verhaltensweisen des Aggressors und macht sie zu Anteilen ihres Selbst. Vor allem traumatische Erfahrungen in der Kindheit, bei denen das Maß der erlebten Ohnmacht und Abhängigkeit besonders groß ist - wie in einer repressiven und autoritären Erziehungsstruktur oder einer seelisch manipulativen, durch Liebesentzug geprägten Schwarzen Pädagogik - führen zur Ausbildung dieser Reaktion. Sie dient dem Schutz des eigenen psychischen Systems und hat den Charakter einer „letzten Notbremse“ vor einem drohenden Zusammenbruch des Selbst angesichts überwältigender Attacken und nicht integrierbarer Affekte. Psychisch von hoher Bedeutung, um hilfsweise die Funktionsfähigkeit des Selbst aufrechtzuerhalten, wirken die Folgen der Identifikation mit einem Aggressor sich tatsächlich jedoch in hohem Maße schädigend auf die seelische Integrität und das Wohlergehen des Selbst aus, da die Entwicklung persönlicher Autonomie unterdrückt wird.
Da Identifikationen mit einem Aggressor potenziell lebenslang wirksam sind, werden die traumatisierenden Erfahrungen ungeachtet willentlicher Absichten direkt oder indirekt fast immer an die nachfolgende Generation weitergegeben. In vielen Familiengeschichten lässt sich eine Kette innerfamiliärer Gewalt über mehrere Generationen feststellen.
Die Identifikation mit einem Aggressor erfolgt jedoch nicht nur in der Kindheit als Versuch der psychischen Abwehr massiver Gewaltanmutungen. In entsprechenden Konstellationen kann auch ein Erwachsener in dieselbe Situation geraten und sich mit demjenigen, der ihn verfolgt oder ihm Gewalt antut, identifizieren, beispielhaft im sogenannten Stockholm-Syndrom.
Als Täter, mit dem ein Kind oder Erwachsener sich unbewusst identifiziert, kommen alle Personen in Frage, die sich in einer aus Sicht des Opfers absoluten Machtposition ihm gegenüber befinden und denen das Opfer physisch und/oder psychisch ausgeliefert ist. Die Person, mit der die Identifikation geschieht, kann älter oder jünger, gleich- oder andersgeschlechtlich, innerfamiliär oder außerfamiliär positioniert sein. Eine gewalttätige Mutter, ein sexualisierte Gewalt anwendender Vater oder Bruder, ein sadistischer Lehrer, ein grandios auftretender Besatzungssoldat und ein Folterer können alle Personen sein, mit denen die unbewusste Identifikation erfolgt. Wer für das Bewusstsein der ärgste Feind ist, kann psychisch gerade der sein, mit dem eine Identifikation eintritt. In Autobiografien von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung wird der Mechanismus, soweit er erkannt wurde, auch gelegentlich zur Sprache gebracht.
Entscheidend sind allgemein die Heftigkeit der Überwältigung und die Dauer und Schwere des Traumas. Bei Kindern als Opfer kommen zusätzliche Parameter hinzu. Grundsätzlich gilt, dass eine Identifikation mit einem Aggressor als Abwehr gegenüber der nicht vorhandenen Fähigkeit des Opfers geschieht, Angriffe auf die eigene körperliche und psychische Integrität zu verstehen und psychisch zu integrieren.
Aufgedeckt und ggf. aufgehoben werden kann eine solche Identifikation im Zuge einer analytischen Psychotherapie, die traumaorientiert vorgeht.<ref>Vgl. dazu: Mathias Hirsch (2011), Kap.: Psychoanalytische Therapie mit traumatisierten Patienten, S. 63 ff.</ref> Die Erkenntnis und Aufhebung der Identifikation mit einem Aggressor ist die Voraussetzung dafür, die eigenen Gewalterfahrungen nicht unbewusst und somit auch unwillentlich weiterzugeben. Durch empathisch unterstützende Behandlungsformen wie zum Beispiel das Reparenting können in einer Therapie die Folgen einer Identifikation in gewissem Umfang beeinflusst und begrenzt werden.
Geschichte des Begriffs: Zwei theoretische Positionen
Anna Freud: Identifizierung mit dem Angreifer
Anna Freud nimmt diesen Abwehrtyp als sogenannte „Identifizierung mit dem Angreifer“ in Das Ich und die Abwehrmechanismen (1936) in den Kanon der psychoanalytischen Lehre der Abwehrmechanismen auf.
In der Identifikation mit dem Aggressor wirken nach Anna Freud zwei elementare Abwehrmechanismen: die Introjektion, von Anna Freud hier nach Stand der Theorieentwicklung noch synonym zu „Identifikation“ verwendet,<ref>vgl. Mathias Hirsch (1996), S. 200 f.</ref> und die Projektion. Neu ist der Gedanke, dass nicht nur aus Liebe heraus, sondern auch aus Angst introjiziert wird. Sie beschreibt den Fall eines Volksschülers, der durch Grimassieren auffällt, sobald der Lehrer ihn tadelt. Es zeigt sich, dass das Grimassieren ein verzerrtes Spiegeln der verärgerten Gesichtszüge des Lehrers ist:
„Der Junge, der dem Tadel des Lehrers standhalten soll, bewältigt seine Angst durch unwillkürliche Nachahmung des Zornigen. Er übernimmt selber seinen Zorn und folgt den Worten des Lehrers mit dessen eigenen, nicht wiedererkannten Ausdrucksbewegungen.“<ref> Anna Freud, Das Ich und die Abwehrmechanismen, Ffm. 1984, S. 85 f.</ref>
Eine harmlose Variante dieser Abwehrstrategie und ihrer Logik entdeckt sie in einer Szene kindlicher Bewältigung von Gespensterfurcht: „Du mußt nur spielen, dass du selber der Geist bist, der dir begegnen könnte“, rät die ältere Schwester ihrem kleinen Bruder: dann nämlich brauche er sich nicht zu fürchten, versichert sie ihm.<ref> Anna Freud (1984), S. 86</ref>
Anna Freud unterscheidet drei Formen, in der sich die Identifikation mit dem Angreifer ausdrücken kann, denen jedoch sämtlich eine Wendung vom passiv Erlittenen zur Aktivität (und somit ein dritter elementarer Abwehrmechanismus) zugrunde liegt: Aus dem Bedrohten wird der Bedroher
- in Identifizierung mit der Person des Aggressors durch unmittelbare oder mittelbare mimetische Darstellung (direktes Spiegeln oder vorsätzliche Rollenübernahme) des Angreifers (Beispiel des Schülers, Rat der Schwester)
- in Identifizierung mit der Aggression durch Agieren der Aggression (etwa bohrende Tätigkeit nach einem Zahnarztbesuch),
- in Identifizierung mit der imponierenden Eigenschaft des Aggressors durch Übernahme der Attribute, die sie symbolisieren. (Der Knabe bewältigt einen schmerzhaften Zusammenstoß mit seinem Lehrer, indem er sich mit Säbel und Militärmütze versieht; auf diese Weise, so Anna Freud, identifiziere er sich mit dessen Männlichkeit)
Eine Identifikation mit dem Aggressor liegt jedoch auch vor, wenn ein Kind aus Angst vor einer erst erwarteten Strafe sich vorwegnehmend mit dem Strafenden identifiziert: Beschrieben wird die Reaktion eines Knaben, der zu spät nach Hause kommt und der nun zu erwartenden Strafrede dadurch zu entgehen sucht, dass er seinerseits zu schimpfen beginnt. Die Identifikation mit dem Aggressor kann demnach als Zwischenstufe der Entwicklung des Über-Ichs betrachtet werden: Die Gewissensinstanz wird verinnerlicht, jedoch noch nicht gegen das eigene Selbst gewandt, sondern in Projektion gegen die Außenwelt gerichtet. Damit steht die Identifikation mit dem Aggressor im Sinne Anna Freuds weitestgehend im Dienste des sich entwickelnden Kindes.<ref> In diesem Sinn verwendet auch René Spitz den Begriff in Ja und Nein (orig. Yes and No, 1957): Die Wendung der Aggression gegen den Angreifer ermöglicht das Erlernen des Nein-Sagens bzw. Tuns, das er im 15. Monat des Kleinkindes beobachtet. Vgl. hierzu: J. Laplanche, J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Ffm. 1984, Erster Band, S. 225. Der Status des Begriffs innerhalb der klassischen psychoanalytischen Theorie sei, so Laplanche und Pontalis 1967, ungeklärt: Insbesondere seine Funktion im Rahmen des ödipalen Konfliktes als Identifikation mit dem Rivalen bleibe unklar.</ref>
Sandor Ferenczi: Introjektion des Aggressors
Im Gegensatz zu Anna Freud betonte Sándor Ferenczi den traumatischen, die seelische Integrität nachhaltig beschädigenden Aspekt dieses Abwehrtypus: Er stellte die psychoanalytische Theorie 1932 in einem Vortrag zu seinem Aufsatz Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind<ref>Ein Vortrag allerdings, den Ferenczi, wäre es nach den Vertretern des engsten Kreises um Freud, des sogenannten „Geheimen Komitees“, gegangen, nicht mehr hätte halten und schon gar nicht hätte publizieren sollen; in ihm kulminiert der theoretische Dissens Ferenczis zur Freud'schen Orthodoxie. Vgl. hierzu: Jeffrey Masson: Was hat man dir du armes Kind getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Reinbek bei Hamburg 1984, sowie zum problematischen Verhältnis und Verhalten der Freud'schen Orthodoxie zu Person und Ideen Ferenczis: H. W. Schuch: . In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie (PTT), 1999, Jg. 3, Heft 1, S. 5-15; Zitat im Abschnitt: Aggression in der Gegenübertragung.</ref><ref> Otto F. Kernberg: [http://www.oedipus-online.de/Kernberg_PTT.htm
Ein kulturkritisches Verständnis der Identifikation mit dem Aggressor als sozialisationsbedingte und kulturelle Deformation findet sich als „Verrat am Selbst“ im Werk Arno Gruens.<ref>Arno Gruen: Der Verrat am Selbst – Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. 1984.</ref>
Die amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin sieht im Freudschen Ödipuskomplex im Wesentlichen den Abwehrmechanismus der Identifikation mit dem Aggressor wirksam, als Identifikation mit der Macht und der Schuld des Vaters (etwa des Laios, Ödipus' Vater), durch welche patriarchale Machtstrukturen tradiert werden. Ihr Konzept des „Neuen Ödipus“ „(...) revidiert den alten ödipalen Begriff der Verantwortung, der vorsah, dass die Söhne die Schuld am Vergehen des Vaters übernahmen und seine bedrückende Macht zum Gesetz erhoben. Dieser Akt der Verinnerlichung hatte die Ablösung von der Autorität durch die Identifikation mit dem Aggressor ersetzt und so den schuldbeladenen Wunsch, selbst zur Autorität zu werden, verewigt.“ Die klassische Psychoanalyse beruhe auf der „paradoxen Vorstellung, dass eine Befreiung nur durch die Herrschaft des Vaters“ möglich sei, und verkenne „die Notwendigkeit einer gegenseitigen Anerkennung von Mann und Frau.“<ref>Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht; Ffm. (Fischer) 1993, S. 171–175</ref>
Siehe auch
Literatur
- Sándor Ferenczi: Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. Bd. 19 (1933), H. 1/2, S. 5–15 (Digitalisat).
- Anna Freud: Die Identifizierung mit dem Angreifer. In: Dies.: Das Ich und die Abwehrmechanismen. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Berlin 1936, S. 125–139 (Digitalisat).
- Mathias Hirsch: Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor − nach Ferenczi und Anna Freud. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. Bd. 45 (1996), H. 5, S. 198−205 (Digitalisat).
- Mathias Hirsch: Trauma. Psychosozial, Gießen 2011, ISBN 978-3-8379-2056-7.
- Arno Gruen: Der Verrat am Selbst: Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. München 1992 (Neuaufl.), ISBN 3-423-35000-8.
- Arno Gruen: Der Fremde in uns. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, ISBN 3608942823.
- Arno Gruen: Die politischen Konsequenzen der Identifikation mit dem Aggressor. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 1/2000.
- Jochen Peichl: Innere Kinder, Täter, Helfer & Co. Ego-State-Therapie des traumatisierten Selbst. Mit Selbst-Anteilen arbeiten (= Leben Lernen. Bd. 202). Stuttgart: Klett-Cotta 2007, ISBN 978-3-608-89047-1 (Verlagsinformation).
- Freihart Regner: Unbewußte Liebesbeziehung zum Folterer? Kritik und Alternativen zu einer „Psychodynamik der traumatischen Reaktion“. In: Zeitschrift für Politische Psychologie. Jg. 8, 2000 (PDF; 159 kB).
- Horst-Eberhard Richter: Eltern, Kind und Neurose. Psychoanalyse der kindlichen Rolle. Klett, Stuttgart 1963; zuletzt: Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2012.
Einzelnachweise
<references/>