Kinderpsychologie
Die Kinderpsychologie umfasst die Angewandte Psychologie im Kinder- und Jugendalter und deren theoretische und empirische Grundlagen aus Entwicklungspsychologie (Geburt bis Reifezeit), Bindungstheorie und Tiefenpsychologie. Die Klinische Kinderpsychologie ist ein Spezialgebiet der Kinderpsychologie.
Inhaltsverzeichnis
Vorläufer
Die Vorläufer der Kinderpsychologie entstanden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich die Disziplin der Pädagogik aus der Philosophie und der Theologie heraus zu einer eigenständigen Wissenschaft entwickelte. Mit Hilfe von Beobachtungen in der Praxis und der Assoziationspsychologie wurde untersucht, wie sich pädagogisches Handeln, auf die Veränderung von Menschen beziehungsweise von menschlichen Verhältnissen und Bedingungen auswirkte. Johann Friedrich Herbart hatte sich als erster um eine theoretische Fundierung der Pädagogik bemüht.
Charles Darwin, William Thierry Preyer <ref>Georg Eckardt (Hrsg.): Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie - Zentrale Schriften und Persönlichkeiten, Anfänger und Frühstadium einer wissenschaftlichen Kinderpsychologie, S. 197, Springer, 2013, ISBN 978-3-531-16882-1</ref> und nach ihnen William Stern und Clara Stern beobachteten systematisch ihre Kinder und hielten ihre Beobachtungen in Form von Tagebuchaufzeichnungen fest.<ref>Siegfried Hoppe−Graff und Hye−On Kim, Von William T. Preyer zu William Stern: Über die Durchführung und Nutzung von Tagebuchstudien in den Kindertagen der deutschen Entwicklungspsychologie http://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php?id=68&type=123</ref> Preyers Monographie „Die Seele des Kindes - Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren“ aus dem Jahr 1882 markiert den Beginn der Kinderpsychologie als eigenständiges Forschungsgebiet.<ref>Caroline Hopf: Die experimentelle Pädagogik: empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20 Jahrhunderts, Die Seele des Kindes - Pryer und die Anfänge der Kinderpsychologie, S. 65, Klinkhardt, 2004, <ISBN 3-7815-1331-9</ref><ref>Georg Eckardt (Hrsg.): Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie - Zentrale Schriften und Persönlichkeiten, Das Eröffnungswek moderer Kinderpsychologie (W.Th. Preyer), S. 37, Springer, 2013, ISBN 978-3-531-16882-1</ref> William Stern veröffentlichte 1914 sein Standardwerk Psychologie der Kindheit. Karl Groos publizierte 1904 seine Arbeit über Über das Seelenleben des Kindes.<ref>Karl Groos: Über das Seelenleben des Kindes. 5. Auflage. Ruther & Reichard, Berlin 1921 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).</ref>
Psychodynamische Ansätze
Zum besseren Verständnis seiner Patienten entwickelte Sigmund Freud seine Theorien über das Es, Ich und Über-Ich, entdeckte Das Unbewusste und begründete damit die Tiefenpsychologie. Seine Grundideen wurden in drei unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt, die sich alle von der traditionellen Betonung der zentralen Bedeutung libidinöser Triebenergien und intrapsychischer Konflikte entfernten. Die Konzepte der zweiten Generation haben es ermöglicht, die zentralen, unbewussten Beziehungen einer Person wissenschaftlich zu erfassen.
Eine Richtung der zweiten Generation der Psychoanalytiker mit Freuds Tochter Anna stellte das Ich in den Vordergrund. Sie beschäftigten sich mit der Frage, wie das Ich seine zentralen Funktionen als Exekutive der Persönlichkeit wahrnahm. Damit wurde dem Ich eine bedeutende organisatorische Rolle bei der Entwicklung der Persönlichkeit zugeschrieben. Anna Freud leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der psychoanalytischen Behandlung von Kindern.
Eine zweite Richtung konzentrierte sich auf die frühkindlichen Beziehungen und die Mutter-Kind-Interaktion bei der Entwicklung von Persönlichkeit und Selbstkonzept. Im Wien der 1920er Jahre entwickelte sich mit Charlotte Bühler die akademische Entwicklungspsychologie in direkter Konkurrenz zur frühen Kinderpsychoanalyse (Hermine Hug-Hellmuth und Anna Freud). Obwohl Bühler die Kinderpsychoanalyse ablehnte, bestanden auch Verbindungen. So arbeitete René A. Spitz mit Charlotte Bühler und Anna Freud zusammen. In den 1930er und 1940er Jahren wurde die Objektbeziehungstheorie entwickelt, die sich auf die Interaktionen des Individuums mit realen und imaginären Personen und die Beziehungen, die Menschen zwischen ihren äußeren und inneren Objekten erleben. 1935 begann Spitz mit der systematischen, psychoanalytischen Erforschung der Psychologie des Säuglingsalters mittels direkter Beobachtung. Er belegte den Zusammenhang zwischen Störungen in der frühen Mutter-Kind-Beziehung und schweren Erkrankungen des Säuglings bis zum Hospitalismus.
Eine dritte Richtung befasste sich mit sozialen Einflüssen auf das Verhalten und die Bedeutung der interpersonellen Beziehungen. Sie begann mit der Individualpsychologie Alfred Adlers und setzte sich in der Neopsychoanalyse fort. Statt innerer Triebe wurden soziale und kulturelle Einflüsse als Determinanten des Verhaltens betrachtet. 1930 erschien Alfred Adlers Lehrbuch der „Kindererziehung“, in dem er die individualpsychologischen Konzepte auf die kindliche Entwicklung und auf die Erziehung in Schule und Elternhaus anwandte. Bereits 1904 hatte Adler den einflussreichen Aufsatz Der Arzt als Erzieher veröffentlicht.<ref>Alfred Adler: Der Arzt als Erzieher. Abgerufen am 8. Dezember 2015. </ref> Die interpersonelle Betrachtungsweise wurde in weiten Teilen wissenschaftlich validiert.
Entwicklungspsychologische Ansätze
Die gestalttheoretische Betrachtung der Entwicklung wurde 1921 mit Kurt Koffkas Buch „Die Grundlagen der psychischen Entwicklung“ eingeleitet, in dem er eine Entwicklungspsychologie des Kindes aufstellte (1924 unter dem Titel The Growth of the Mind. An Introduction to Child Psychology auch auf Englisch erschienen). 1923 begann Kurt Lewin mit seinen entwicklungspsychologischen Forschungen mit Hilfe von Filmaufnahmen von Kindern in natürlichen Lebens- und Konfliktsituationen.<ref>Siehe Helmut E. Lück, Der Filmemacher Kurt Lewin. Gruppendynamik Jg. 16, 1985, Nr. 2, S. 131-141. Dort sind auch die Veröffentlichungen Lewins dazu genannt.</ref>
Die in den 1940er Jahren von John Bowlby begründete Bindungstheorie mit ihren Wurzeln in der interpersonellen Betrachtungsweise und der Objektbeziehungstheorie hatte einen großen Einfluss auf die Kinderpsychologie und –psychiatrie ausgeübt. Die Bindungstheorie wurde aus der Skepsis ihrer Vertreter gegenüber den Standpunkten gefördert, die John B. Watson in den späten 1920er Jahren vertreten hatte; Watson hatte davor gewarnt, Müttern zu erlauben, ihre Kinder zu verhätscheln und zu verzärteln, und damit einen Einfluss auf die Säuglingserziehung genommen, der erst 1946 durch Benjamin Spocks Buch Säuglings- und Kinderpflege gebrochen wurde.<ref>Jennie Rothenberg Gritz: What Everyone's Missing in the Attachment-Parenting Debate. Abgerufen am 2. November 2015. The Atlantic, 31. Mai 2012</ref> Bowlby betonte die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen und die Bindung an eine Bezugsperson als Grundlage späterer Funktionalität in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Er hob die Wichtigkeit der Eltern-Kind-Beziehung für die Ausprägung sicherer Bindungen hervor und machte auf die aktive Rolle der Kinder bei der Gestaltung des Verlaufs ihrer eigenen Entwicklung aufmerksam. 1951 veröffentlichte er die im Auftrag des WHO erstellte Studie über den Zusammenhang zwischen mütterlicher Pflege und seelischer Gesundheit. Sie bildete einen Beitrag für das Programm der UNO zum Wohle heimatloser Kinder. 1967 wurde die Feldstudie von Mary Ainsworth, eine Mitarbeiterin Bowlbys, über die Mutter-Kind-Interaktion beim afrikanischen Stamm der Ganda in Uganda veröffentlicht. Ainsworths Interesse galt vor allem der Frage, wie die Bindung des Kindes zur Mutter entsteht. 1969 begründete John Bowlby mit seinem das Buch „Bindung - Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung“ die Bindungstheorie. Dies bedeutet eine Schwerpunktverlagerung in der Forschung von den hindernden zu den fördernden Faktoren in der Mutter-Kind-Beziehung.
Der Psychologe Harry Harlow begann 1956 mit Rhesusaffen-Babys zu forschen. Er hatte gesehen, dass einsame Affen-Babys sich an Stoffwindeln schmiegten, mit denen die Käfige ausgelegt waren, und sich verzweifelt daran klammerten, wenn Reinigungspersonal sie herausnehmen wollten. Harlow zog Affenjunge mit zwei Arten von Affenpuppen auf: die einen hatten weiches Fell; die anderen waren aus Draht gefertigt. Babys bauten keine Beziehung zum Drahtgestell auf (auch wenn eine Milchflasche eingebaut war); Babys mit Fellpuppen verbrachten die meiste Zeit bei dieser und suchten Schutz bei ihr, wenn sie sich bedroht fühlten. Die Ergebnisse wurden berühmt und beendeten eine Ära, in den viele Eltern in den USA und Westeuropa glaubten, ihr Kind charakterlich zu ruinieren, wenn sie es trösteten, streichelten oder liebkosten. Diesem Irrglauben folgend wurden z.B. in englischen und amerikanischen Kinderheimen die Kinder komplett isoliert. Die Pfleger betraten die Zimmer nur mit Mundschutz und Handschuhen. <ref>Genaueres in Deborah Blum: Die Entdeckung der Mutterliebe. Die legendären Affenexperimente des Harry Harlow. Beltz-Verlag 2010.</ref>
Walter Toman wies 1961 mit seinem Buch „Familienkonstellationen - Ihr Einfluss auf den Menschen“ auf den prägenden Einfluss der Geschwisterpositionen hin, die er empirisch und theoretisch grundlegend begründete.
Der Begründer der „Tschechischen Kinderpsychologischen Schule“ Zdeněk Matějček, machte 1962 mit seinem Buch „Psychische Deprivation im Kindesalter“ auf die negativen Wirkungen der Kollektiverziehung aufmerksam, die er mit einer Langzeitstudien über 40 Jahre erforscht hatte. 1963 entstand unter seiner Mitwirkung der in Venedig preisgekrönte Film «Kinder ohne Liebe», der die Problematik der außerhäuslichen Kindererziehung aufgriff und die Auswirkungen mangelnder Bindung auf die Entwicklung der Kinder zeigte. Albert Bandura veröffentlichte 1971 sein Buch „Lernen am Modell“, in dem er einige seiner berühmten Analysen über die Bedeutung und die einzelnen Subprozesse des Identifikationslernens darlegt. Seine lerntheoretisch begründete Aggressionsforschung wird als sozial-kognitive Theorie bekannt.
Literatur
Klassische Werke (chronologisch geordnet)
- Gustav Siegert: Problematische Kindesnaturen. Voigtländer, Kreuznach und Leipzig 1889(Digitalisat, PDF), ein Beispiel für die Beschreibung der Psychologie des Kindes im 19. Jahrhundert
- Preyer, William Th. (1989): Die Seele des Kindes (Nachdruck der Erstauflage von 1882; eingeleitet und mit Materialien zur Rezeptionsgeschichte versehen von Georg Eckardt). Berlin (DDR): Verlag der Wissenschaften.
- Kurt Koffka: Die Grundlagen der psychischen Entwicklung. Osterwieck a. Harz: Zickfeld 1921. Nachdruck 1966 Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Englische Fassung 1924: The Growth of the Mind. An Introduction to Child Psychology, Nachdruck 1999 Psychology Press, ISBN 9780415209939.
- Alfred Adler: Kindererziehung. (EA 1930) Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-26311-5
- Walter Toman: Familienkonstellationen. Ihr Einfluss auf den Menschen.(Erstausgabe 1961) Beck Verlag, München, 7. Auflage 2002 , ISBN 3-406-32111-9
- René A. Spitz: The first year of life; a psychoanalytic study of normal and deviant development of object relations, New York: International Universities Press, 1965, dt. Vom Säugling zum Kleinkind:: Naturgeschichte d. Mutter-Kind-Beziehungen im 1. Lebensjahr, Stuttgart: Klett-Cotta, 1967 - letzte Neuausgabe: Stuttgart:Klett-Cotta, 2005 ISBN 3-6089-1823-X
- Mary D. Salter Ainsworth: Infancy in Uganda. The Johns Hopkins Press, Baltimore 1967
- Albert Bandura: Lernen am Modell. Klett-Cotta, Stuttgart 1976, ISBN 3-12-920590-X
- John Bowlby: Trennung - Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1986, ISBN 3-596-42171-3
Neuere Werke
- William Damon (Hrsg.): Handbook of Child Psychology. Wiley & Sons, 6. Auflage 2006
- Caroline Hopf: Die Seele des Kindes – Preyer und die Anfänge der Kinderpsychologie. In: Die experimentelle Pädagogik: empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2004, ISBN 978-3-7815-1331-0.
- Georg Eckardt: Anfänge und Frühstadium einer wissenschaftlichen Kinderpsychologie. In: Kernprobleme in der Geschichte der Psychologie, Springer VS Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-92423-6.
Zeitschriften
- Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, ISSN 0032-7034
Weblinks
Fußnoten
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