Kruso
Der 2014 erschienene Roman Kruso von Lutz Seiler spielt auf der Insel Hiddensee im Milieu der Saisonarbeiter und gesellschaftlichen Aussteiger zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR 1989. Er erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen dem Germanistik-Studenten Edgar Bendler und dem Küchenmitarbeiter Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, der in der Gemeinschaft der Saisonarbeiter als Autorität anerkannt ist. Beide sind vom Verlust eines ihnen nahe stehenden Menschen traumatisiert. Kruso entwickelt eine Freiheits-Utopie, in deren Sog Edgar gerät. Gemeinsam kümmern sie sich um die „Schiffbrüchigen“ – all jene, die mit dem Staat abgeschlossen haben oder auf verschiedene Weisen gescheitert sind. Zwischen beiden Männern wächst eine tiefe Freundschaft, die sie fast übersehen lässt, dass rings um sie der Staat zerbricht und immer mehr Gefährten das Land verlassen. Kruso wird darüber krank; Ed übernimmt seine Aufgabe.
Seilers Roman zeichnet sich durch eine hohe sprachliche Genauigkeit aus und verbindet historische Konkretheit mit surrealen Zügen. Im Erscheinungsjahr erhielt der Roman den Uwe-Johnson-Preis sowie den Deutschen Buchpreis.
Inhaltsverzeichnis
Historischer Hintergrund
Hiddensee galt in der DDR als Nische für Andersdenkende und Aussteiger, die im Sommer oft in Hotels, Restaurants oder als Rettungsschwimmer arbeiteten. Auf der kleinen Insel waren sie gut zu kontrollieren, und trotz teilweise offener Stasi-Beobachtung wurden manche Vorfälle und Treffen hingenommen. Auf Hiddensee herrschte ein intellektuelles Klima, und Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Musiker und Wissenschaftler zogen sich hierhin zurück.<ref>Marion Magas: Hiddensee – Versteckte Insel im verschwundenen Land. DDR-Zeitzeugnisse von Inselfreunden und Lebenskünstlern; Berlin 22010, S. 31-40, 57-59, 171-174. ISBN 3-00-018132-6.</ref> Diesen Schauplatz als „Sehnsuchtsort der Freiheit“ im Jahr 1989 spiegelt Lutz Seiler historisch genau wider. Hiddensee wird in seinem Roman zur Insel „außerhalb der Zeit“ und die Ausflugsgaststätte Zum Klausner zur letzten Bastion einer idealisierten Freiheit innerhalb des Sozialismus.
Reale Vorbilder, die als Anregungen für die Romanfiguren dienten, sind etwa Aljoscha Rompe, der Sänger der DDR-Punkband Feeling B, sowie dessen Stiefvater, der Wissenschaftler Robert Rompe und zahlreiche Menschen, die auf Hiddensee als Saisonkräfte tätig waren. Auch der Autor Lutz Seiler arbeitete im Sommer 1989 im „Klausner“ als Abwäscher.<ref>Gerrit Bartels im Gespräch mit Lutz Seiler: Hiddensee war eine Art Jenseitserfahrung. In: Der Tagesspiegel vom 6. Oktober 2014</ref>
Handlung
Nach dem Verschwinden seines Katers, der das Letzte war, was ihm von seiner verunglückten Freundin geblieben ist, verlässt der 24-jährige Germanistik-Student Edgar seinen Studienort Halle und fährt nach Hiddensee, um dort zumindest den Sommer zuzubringen. In der Ausflugsgaststätte Zum Klausner (die tatsächlich bis heute existiert)<ref>http://www.tagesspiegel.de/kultur/buchpreis-favorit-lutz-seiler-im-interview-hiddensee-war-eine-art-jenseitserfahrung/10795374.html</ref> erhält er Arbeit als Abwäscher und lernt Alexander Krusowitsch kennen.
Kruso, auch Aljoscha oder Losch genannt, ist der Sohn eines sowjetischen Generals und einer verunglückten Zirkusartistin. Seit seine Schwester ihn als Kind am Strand zurückließ und nicht zurück kehrte (ob es ein Unfall oder ein Fluchtversuch war, lässt das Buch offen), ist Kruso traumatisiert. Er versucht, die „Esskaas” („SKs“, Abkürzung für „Saisonkräfte“) und „Schiffbrüchigen“ - die gesellschaftlich Enttäuschten - von der Flucht abzuhalten. Kruso bietet ihnen als Alternative zur Flucht drei Tage auf der Insel. Mit einem Initiations-Ritual, das aus (illegaler) Beherbergung, der „heiligen Suppe“ und einer Waschung besteht, werden sie in die Gemeinschaft der Schiffbrüchigen aufgenommen. Kruso glaubt, dass sie durch das Ritual die Wurzel ihrer inneren Freiheit verspüren und so aufs Festland zurück können, bis eines Tages die „Quantität in Qualität umschlägt“ und „das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt“.<ref>Lutz Seiler: Kruso Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, S. 175</ref>. Grundsätze seiner Utopie sind die Akzeptanz jedes Einzelnen sowie Solidarität und Gemeinschaftlichkeit. <ref name="spiegel">Buchpreis-Favorit Lutz Seiler: Die Schiffbrüchigen des Sozialismus. Spiegel Online, 10. September 2014, abgerufen am 9. November 2014. Thomas Andre: </ref><ref>Lutz Seiler: Kruso, 9 Audio-CDs. Gekürzte Lesung von Franz Dinda. Hörbuch Hamburg 2014, Begleittext.</ref> Es ist eine Art Ur-Kommunismus, den er mitten im zerbröckelnden „realen Sozialismus“ beschwört.
Ed wird von Kruso zunehmend einbezogen in die Rituale, die als Ausdruck einer Lebenshaltung die Crew des Klausners auf besondere Weise zusammenschweißen. Ed erlebt seine sexuelle Initiation, muss jedoch begreifen, dass dies keineswegs im Zentrum der Idee Krusos steht. Die gemeinsame Liebe zur Literatur – beide schreiben Gedichte – und der Verlust eines geliebten Menschen lassen Ed und Kruso zunehmend zu einer untrennbaren Gemeinschaft werden.
Die Vorgänge im Sommer 1989, als immer mehr Menschen über Ungarn oder über das Botschaftsgebäude der Bundesrepublik in Prag versuchten, in den Westen zu gelangen, werden durch das Radio Viola in die abgeschottete Welt des Klausners gespült, von den Klausnern zunächst jedoch kaum wahrgenommen. Bei verbotenen West-Büchern, der Rezitation von Trakl-Gedichten und eigener literarischer Produkten erleben die Protagonisten „wie in einem fiebrigen Traum” die letzten Tage der DDR. Die anarchische Freiheit erweist sich jedoch letztlich als „kollektive Selbsttäuschung“ ins Magische spielende[n] Sprache” hervorgehoben.<ref name="buchpreis">Deutscher Buchpreis 2014. Kruso. Begründung der Jury. Abgerufen am 14. November 2014. </ref> Das Changieren zwischen einer geradezu minutiös geschilderten Realität und surrealen Gegenwelten hat Züge des Magischen Realismus.
Roman Bucheli schreibt in der NZZ, Seiler blicke „geradezu angestrengt vom historischen Geschehen weg und hin zu seinen sehr intim gezeichneten Protagonisten”. Diese „Verweigerung eindeutiger Gesten” in Poesie und Politik sei eine Provokation: „Poesie ist Widerstand”, sagt einer der Romanhelden. Die Umbruchszeit wird nur „in kleinen Anspielungen auf den panischen Staatsapparat beschworen”. Für Christoph Schröder von der taz ist das Buch daher ein Beispiel für anhaltend unterschiedliche Tendenzen in der deutschen Literatur: „Bekennt man sich im ehemaligen Westen zu einem offensiven Realismus, halten die Ost-Schriftsteller an dem Versteckspiel fest, das einmal überlebensnotwendig war.”<ref name="perlentaucher">Lutz Seiler. Kruso. perlentaucher.de - Das Kulturmagazin, abgerufen am 14. November 2014. </ref>
Der Roman enthält zahlreiche intertextuelle Bezüge und Anspielungen. Die Freundschaft zwischen Kruso und Ed ist nach dem Vorbild der Beziehung von Robinson Crusoe und dessen Gefährten Freitag aus Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe gestaltet. Des weiteren spielen Georg Trakls Liebe zu seiner Schwester Sonja - deren Namen Krusos Schwester trägt - , Uwe Johnsons Roman „Mutmaßungen über Jakob“<ref>https://phinau.de/jf-archiv/archiv14/201442101043.htm</ref>, Michail Bulgakows Der Meister und Margarita, der Selbstfindungsprozess des Edgar Wibeau aus Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., die Gedichte Rimbauds und zahlreiche andere literarische Verweise eine Rolle.
Ausgaben
- Lutz Seiler: Kruso, gebundene Buchausgabe. Suhrkamp 52014.
- Lutz Seiler: Kruso, 9 Audio-CDs. Gekürzte Lesung von Franz Dinda. NDR Kultur, Hörbuch Hamburg 2014.
Theater-Adaptionen
- Kruso. Stück von Dagmar Borrmann nach dem Roman von Lutz Seiler, Uraufführung am 25. September 2015 am Theater Magdeburg, Regie: Cornelia Crombholz.<ref>http://www.volksstimme.de/kultur/20150928/schauspielhaus-mysterium-der-freiheit, abgerufen am 28. September 2015</ref> Weitere Inszenierung: Hans Otto Theater Potsdam, Premiere: 15. Januar 2016, Regie: Elias Perrig.<ref>http://www.hansottotheater.de/spielplan/spielzeit-2015-2016/premieren-2015-2016/kruso/</ref>
- Kruso. Nach dem gleichnamigen Roman von Lutz Seiler, für die Bühne bearbeitet von Petra Paschinger und Caro Thum, Premiere am 6. November 2015 bei Theater&Philharmonie Thüringen, Regie: Caro Thum.<ref>http://www.focus.de/kultur/kunst/theater-bestseller-roman-kruso-kommt-auf-die-buehne_id_4634066.html</ref><ref>http://www.tpthueringen.de/stuecke-konzerte/veranstaltung.html?no_cache=1&tx_theatre_plays%5Bplay%5D=181&tx_theatre_plays%5Baction%5D=show&tx_theatre_plays%5Bcontroller%5D=Play&cHash=fe8e247126df8435028968e34e353a62</ref>
Hörspiel
- Kruso. Nach dem gleichnamigen Roman von Lutz Seiler. Bearbeitung: Ulrich Gerhardt. Regie: Ulrich Gerhardt. Sprecher: Jens Harzer. Komponist: Daniel Dickmeis. Produktion: DKultur/MDR 2015. Erstsendung am 29. Juni 2015<ref>http://www.mdr.de/mdr-figaro/hoerspiel/hoerspiel/lutz-seiler-kruso100.html</ref>
Weblinks
Einzelnachweise
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