Migrationssoziologie


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Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost zur 300-Jahr-Feier "Deutsche in Amerika" von 1983

Die Migrationssoziologie ist ein Teilgebiet der Migrationsforschung und untersucht das Phänomen der Migration aus einer speziell soziologischen Perspektive. Ursachen und Folgen von Wohnortswechseln werden seit den 1920er Jahren systematisch anhand soziologischer Kategorien analysiert. Dabei stehen oftmals Fragen nach sozialstrukturellen Mustern von Wanderungsbewegungen, aber auch nach der Integration verschiedener kultureller Einflüsse (bzw. deren Assimilation oder Akkulturation), innerhalb eines politischen Territoriums, im Vordergrund des Interesses.

Migrationsbegriff der Soziologie

Als Migration oder Wanderung bezeichnet die Soziologie den dauerhaften Wechsel des Wohnortes von Menschen im geographischen und/ oder sozialen Raum. Als internationale Migration wird der staatliche Grenzen überschreitende Wohnsitzwechsel bezeichnet. Die Dauer des Aufenthalts im Ausland ist für den Migrationsbegriff unerheblich, solange es sich dabei nicht um touristisch motivierte Aufenthalte, Nomadentum oder permanenten Wechsel ohne ständige Wohnsitznahme handelt. Allerdings haben sich Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten verändert und ausdifferenziert. So unterscheidet sich offenbar das Migrationsverhalten von niedrig- und hochqualifizierten Personen. Insbesondere Hochqualifizierten eröffnen sich in Folge globalisierter Arbeitsmärkte Chancen und Wahlmöglichkeiten. Aufgrund dieser Ausdifferenzierungen ist es nicht möglich, Migration und Mobilität einheitlich zu definieren (vgl. u. a. Goebel/Pries 2003: 35). Han (2005: 9) definiert Migration als dauerhafte oder vorübergehende Wohnsitzverlagerung in ein anderes Land. Seine Definition hat den Vorteil, sehr allgemein zu sein. Ihr Nachteil liegt in der sich daraus ergebenden Beliebigkeit. Neuere empirische Untersuchungen legen nahe, dass Migrationsentscheidungen stark von sozio-kulturellen Faktoren beeinflusst werden (vgl. Siegert 2008, Sievers u. a. 2010). Ob und inwieweit diese Erkenntnisse über die untersuchten Kontexte hinaus generalisiert werden können, ist allerdings noch zu klären.

Wanderung, Migration und verwandte Begriffe

Grundsatz: Dauerhafte Abwanderung oder dauerhafte Einwanderung einzelner Tiere oder Menschen einer Population in eine andere Population der gleichen Art.

  • Als Wanderung zählt jeder dauerhafte (d. h. nicht nur vorübergehende) Wechsel des Wohnsitzes. Zusammen mit dem Tourismus und dem Verkehr wird die Wanderung unter dem Oberbegriff räumliche Mobilität (gleichbedeutend: geographische Mobilität) eingeordnet. Wanderungen werden auch unter den Begriff horizontale Mobilität zusammengefasst, zumeist bezeichnet dieser jedoch nur eine bestimmte Art der sozialen Mobilität, nämlich einen minder oder mehr regelmäßigen lokalen Arbeitsplatzwechsel innerhalb der gleichen sozialen Schicht. Wanderungen mit dem Ziel, die Geburtsgemeinde zu verlassen, um sich an einem anderen Ort niederzulassen und in eine neue Gemeinde zu integrieren (nationale Migration) sind keine außergewöhnliche Erscheinung und seit jeher bezeugt (siehe auch Neolokalität).
  • Internationale Migration ist ein Spezialfall der Wanderung, nämlich eine Auswanderung (Emigration) aus einem und Einwanderung (Immigration) in ein anderes Land, also ein Wohnsitzwechsel über Staatsgrenzen hinweg, sowie Durchwanderung (Permigration). „Internationale Migration“ ist daher gleichbedeutend mit „internationaler Wanderung“.
  • Fluchtmigration (die Migration von Flüchtlingen) ist erzwungen. Die Genfer Flüchtlingskonvention definierte 1951 den Begriff „Flüchtling“.
  • Transmigration bezeichnet das Pendeln von Migranten zwischen Wohnorten in unterschiedlichen Kulturen. Transmigranten zeichnen sich u. a. durch hohe Formalqualifikation und räumliche Mobilität bei Beibehaltung der sozialen Bindung an die Herkunftsgesellschaft aus. Verbunden mit dem Begriff sind Fragen der Identitätsbildung (Stichworte: „Third-culture kids“, Bikulturalität).
  • Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Qualifikation von Migranten einen Einfluss auf deren Identität hat und es insbesondere Hochqualifizierte sind, die ihre Identität nicht (mehr) nationalstaatlich definieren (Siegert 2008, Sievers u. a. 2010). Als Hochqualifizierte werden Personen bezeichnet, die entsprechend der internationalen Klassifizierung von Berufen dem Code ISCO-88, und darin den Gruppen 1–3, zuzuordnen sind.
  • Söllner (2008: 115 f.) geht davon aus, dass es multiple Identitäten von Hochqualifizierten und deren weltweite Netzwerke sind, die dazu führen, dass deren Identifikation mit Nationalstaaten abnimmt. Stattdessen können die spezifischen Transaktionskosten dieser Gruppe die Orientierung an globalen „peer groups“ begünstigen.

Gemessen werden Wanderungsströme von der Demographie am Binnenwanderungssaldo.

Selektive Migration

Die wirtschaftlich unterschiedlichen Niveaus von Herkunfts- und Ankunftsregion wirken als sogenannte Push- und Pull-Faktoren auf individueller und auf struktureller Ebene einer Volkswirtschaft. Beziehen sich die Hoffnungen der Migranten vorrangig auf ein Reichtumsgefälle, das wirtschaftsgeografisch in einem Nord/Süd-, Ost/West- oder Stadt/Land-Gefälle sichtbar gemacht werden kann, so geht damit immer auch ein bestimmter Grad an ökonomischem Druck oder Zwang einher. Ein politisch oft gesondert bewerteter Fall ist die ebenfalls wirtschaftlich motivierte Migration von hochausgebildeten und wirtschaftlich gut situierten Fachkräften (high skilled migration). Wenn in Deutschland aus demografischen Gründen zunehmend ein Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften zu erwarten ist, wird sich (trotz Wirtschaftskrise) die Konkurrenz der Metropolen um diese Fachkräfte verstärken.<ref>Tanja Buch, Silke Hamann, Annekatrin Niebuhr: Qualifikationsspezifische Wanderungsbilanzen deutscher Metropolen: Hamburg im Städtevergleich. IAB-Regional. Berichte und Analysen aus dem Regionalen Forschungsnetz IAB Nord. 02/2010. Nürnberg 2010. 47 S., 503 KB.</ref>

Der Soziologe Christoph Butterwegge spricht von einer Polarisierung der Migration in "Elends- und Fluchtmigration" einerseits und "Eliten- und Expertenmigration" andererseits.<ref>Christoph Butterwegge: Die Dienstbotengesellschaft. Frankfurter Rundschau (abgerufen am 21. Februar 2008).</ref>

Bezogen auf das Lebensalter wird auch von einer "Ruhesitzmigration" gesprochen.<ref>Simon Schneider: Rente und tschüss?! Deutsche Senioren verlegen ihren Ruhesitz ins Ausland. (PDF; 227 kB) Institut Arbeit und Technik, 01/2010.</ref>

Siehe auch: Arbeitsmigration

Bisher übliche Differenzierungen von Migranten nach Wanderungsmotiven oder Migrationsdauer (z.B. Arbeits-, Bildungs-, Rückkehr- oder Transmigration) erscheinen jedoch mittlerweile als zu starr, um vielschichtige Wanderungsbewegungen zu erklären.

Arbeitsmigration

Arbeitsmigration bezeichnet die Verlagerung des Wohnsitzes in ein anderes Land zum Zweck der Erwerbstätigkeit. Die OECD geht davon aus, dass die Vorstellung von temporärer Arbeitsmigration als vorhergehende Form der Dauermigration falsch ist und der sozialen Realität in vielen Ländern nicht gerecht werden würde. Zeitlich befristete Wanderungen sind vielmehr als eigenständige Möglichkeit von Migration zu begreifen.

Migration Hochqualifizierter

Für Industriestaaten, international aufgestellte Unternehmen oder Forschungs-einrichtungen ist das Wanderungsverhalten von gut ausgebildeten Fachkräften von Interesse. Sie gelten als diejenigen, die aufgrund ihrer Qualifikation und Erfahrung, aber auch ihrer weltweiten Vernetzung Innovationsvorsprünge schaffen und transportieren. Siegert (2011) erklärt das Wanderungsverhalten Hochqualifizierter mit Hilfe der neuen Institutionenökonomik, und zwar sowohl zu deren Wanderungsmotiven, als auch der Auswahl potenzieller Wanderungsziele.

Bildungsmigranten

Martin definiert Bildungsmigration als eine besondere Form grenzüberschreitender Migration, bei der Menschen zum Zwecke einer Aus- oder Weiterbildung ins Ausland reisen (Martin 2005: 59). Dabei, so Martin, handelt es sich um Personen, die nur für die Dauer der Ausbildung in ein anderes Land wechseln und sich bei ihrer von vornherein geplanten Rückkehr wieder in die Herkunftsgesellschaft integrieren (Martin 2005: 14 f.). Strukturen der Ursprungsgesellschaft, nationalstaatliche Grenzen und Regelungen spielen für diese Gruppe in vielerlei Hinsicht eine Rolle, was sie, so Martin, von anderen Migranten unterscheidet.

Transmigranten

Transmigranten werden oft anhand von Lebensumständen und Zielen von anderen Migrantengruppen abgegrenzt. Häufig wird angenommen, sie planten einen Wohnortwechsel ins Ausland zur Verbesserung ihrer Erwerbsperspektiven, ohne dessen Dauer von vornherein bestimmen zu können. Ferner würden sie einen häufigen, zumindest nicht nur einmaligen, Landeswechsel im Laufe ihres Erwerbslebens planen. Ziel ihrer Transmigration sei es, berufliche Chancen durch erworbene Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Kenntnisse zu verbessern. Dabei würden Transmigranten Bindungen an die Herkunftsgesellschaft erhalten. Deshalb werden häufige Ortswechsel als Indikator für transnationale Migration angesehen. Als Indikatoren für transnationale Migration nennt die Literatur: Geldrücküber-weisungen oder Zirkulation landestypischer Güter, Bilingualität, pluri-lokale und Nationen übergreifende Großfamilienstrukturen, grenzüberschreitende Kommunikation in Form von Telefongesprächen oder E-Mails, Migrationsnetzwerke, transnationale Loyalitäten und Verantwortung sowie transnationale politische Bewegungen. Transmigration ist damit eine „gebundene nomadische Daseinsform, die nicht dauerhaft auf einen Platz fixiert ist, aber gleichzeitig nicht als deterritorialisiert bezeichnet werden kann (und) … sich zu einer Überlebensstrategie“ entwickelt (Pries 2001: 15).

Siehe auch: Multilokalität

Fluchtmigration

Datei:Migrants Suisses de Russie, environ 1921.jpg
Flucht einer Schweizer Familie aus Russland während des Bürgerkrieges. Um 1921.
Datei:Bundesarchiv Bild 102-08662, Kiel, Deutsch-russische Flüchtlinge.jpg
Eine deutsch-russische Bauernfamilie mit dem Rest ihrer Habe in Kiel, wo sie bis zu ihrer Weiterreise nach Kanada untergebracht und verpflegt werden. (November 1929)
Größere Themengebiete der Soziologie bei der Untersuchung von Migration durch Flucht sind die sozialen Ursachen für die Flucht, sozialen Umstände der Migranten und sozialen Konsequenzen der Flucht für die Beteiligten.

Fluchtgründe

Wesentliche Ursachen für die Flucht sind bedrohliche Lebenssituationen der Flüchtlinge in ihrer Heimat oder Herkunftsgebieten. Die Bedrohungen können vielfältig sein und reichen von verschiedenen Formen der politischen, geschlechtsspezifischen, religiösen und rassistischen Diskriminierung und Verfolgung, über Wirtschafts-, Umwelt- und Naturkatastrophen, bis hin zum Krieg und Vertreibung.

Krieg

Strafverfolgung wegen Fahnenflucht und Kriegsdienstverweigerung lässt Flüchtlinge Schutz vor der Verfolgung im Ausland suchen. Diese Flucht gelingt oft nur wenigen Deserteuren.<ref>Jens Warburg (2009): Soldatische Subjekte und Desertion. In: jour fixe initiative berlin (Hrsg.) Krieg. Münster, 2009, S. 149.</ref>

In vielen Staaten wird Desertion nicht als Schutzgrund anerkannt. So besteht in der Bundesrepublik kein Recht auf Asyl für Deserteure: „In der bundesrepublikanischen Rechtsprechung zur Gewährung von Asyl wird darauf insistiert, dass jeder Staat das Recht habe, seine Bürger zum Kriegsdienst heranzuziehen."<ref name="s150">Jens Warburg (2009), S. 150.</ref> Auch die Gefahr im Herkunftsgebiet wieder im Krieg eingesetzt zu werden oder drastischen Strafen ausgesetzt zu sein, „schützen die Deserteure nicht vor einer Abschiebung."<ref>Jens Warburg (2009), S. 150.</ref> Ferner wird dabei nicht berücksichtigt, dass es in manchen Herkunftsländern kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Ausnahmen sind drohende Todesstrafen. Folter wird nur dann als Fluchtgrund anerkannt, wenn sie „regelmäßig" in den Herkunftsländern angewandt wird".<ref name="s150" /> Eine Möglichkeit der Anerkennung in der Rechtsprechung besteht, „wenn nachgewiesen werden kann, dass die Rekrutierung auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie basiert, sie also eine Diskriminierung darstellt".<ref name="s150" />

Rechtliche Situation

Laut der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 ist Fluchtmigration die räumliche Bewegung einer Person, die sich „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“

Ökonomische Gründe werden für die Definition einer Person als Flüchtling in der Genfer Flüchtlingskonvention nicht anerkannt. Migration erfolgt jedoch in der Regel in der Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebenssituation. In diesem Fall ist es schwieriger zwischen Freiwilligkeit und „ökonomischem Zwang“ zu unterscheiden.

Annahmen und Begriffe der Migrationssoziologie

Migration ist in der allgemeinen Soziologie eine besondere Form der horizontalen sozialen Mobilität. Die spezielle Soziologie befasst sich im Rahmen der Migrationssoziologie laut Migrationsforscherin Elçin Kürşat mit Fragen wie „Welche Phasen durchläuft ein Migrant auf der individuellen Ebene im Prozess der neuen psychischen Strukturierung, d.h. auch welche psychischen Probleme und Konflikte muss er bewältigen? Wie wirkt sich die Migration auf die Beziehung zwischen den Ehegatten, zwischen den Eltern und den Kindern, zu der Verwandtschaft im Herkunftsland und in der Einwandererkolonie?“ Die Migrationssoziologie beschäftigt sich also mit Ursachen und Wirkungen der Migration. Die Ursachen der Migration erklären sich laut Forschung vornehmlich in einem Entwicklungsgefälle der verschiedenen Regionen. Zudem beschäftigt sich das Teilgebiet mit der Integration verschiedener kultureller Einflüsse in die Aufnahmegesellschaft.

Identität

Wie die empirische Untersuchung des Wanderungsverhaltens russischer Akademiker nach Deutschland (Siegert 2008) und auch die Studie über deutsch-türkische Migrationsbiographien (Sievers u. a. 2010) zeigen, beeinflussen sozio-kulturelle Faktoren die Qualifikation von Migranten, deren Selbstverortung und Identität. Insbesondere Hochqualifizierte verstehen sich häufig als Teil der globalen Wissenschaftsgemeinde und suchen Migrationsziele anhand von Forschungsclustern oder -bedingungen aus. Ihre Identität wird damit nicht mehr durch Nationalstaaten, sondern durch ihre Qualifikation bestimmt. Ein Bruch mit der Herkunftsgesellschaft und eine daran anschließende Assimilation in der Aufnahmegesellschaft (die in einigen Migrationstheorien angenommen wurde) findet damit nicht mehr statt. Entsprechend anders werden soziale Identitäten gebildet, die wie z. B. bei Third Culture Kids hybride oder bi-kulturelle sein können (Griese 2006). Soweit es den deutsch-russischen Wanderungskontext betrifft, scheint sich zudem die Annahme von Waters (1995) zu bestätigen, dass eine bestehende „Wanderungsgeschichte“ weitere Wanderungen begünstigt, weil sie zur Übermittlung von Bildern und Vorstellungen über die potenzielle Zielgesellschaft führt, damit als Projektionsfläche dient und Multiplikatoren hervorbringt (Siegert 2011).

Arbeitsmigration: Brain-Drain/Brain-Gain

Diskussionen über die Vor- und Nachteile von Brain-Drain und Brain-Gain vernachlässigen weitgehend den Aspekt des Austauschs, wie er z. B. für Wissenschaftler oder Künstler wichtig ist, und richten das Augenmerk vor allem den volkswirtschaftlichen Nutzen oder Schaden. Diese Betrachtung mag für viele Migrationsgruppen durchaus relevant sein, greift aber insbesondere bei Hochqualifizierten zu kurz.

Ethnizität

Das griechische Wort éthnos beschreibt die Abgrenzung seiner selbst eigentümlicher Traditionen durch Selbst- und Fremdzuweisung. Ethnische Barrieren sind also Ergebnisse eines individuellen selektierenden Weltbildes. In der Regel definieren sich ethnische Gruppierungen entweder aus der gemeinsamen Vergangenheit oder durch eine gemeinsame Zukunftsperspektive. Die Gemeinsamkeit zeigt sich in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder Lebensmitteln. Den Begriff Ethnizität entwickelten amerikanische Forscher in den sechziger Jahren, als sie versuchten, das Scheitern der Idee des Melting-Pots zu ergründen und Existenz wie Fortbestand ethnischer Identitäten innerhalb eines modernen Nationalstaats zu erklären. Die klassische Idee des Melting Pot manifestierte die Verschmelzung vieler Kulturen in eine gleichberechtigte Gesellschaft (Multikulturalismus) und beruhte damit auf der Vorstellung, ethnische Grenzen zu überwinden und freiwillig einer gemeinsamen nationalen Identität unterzuordnen. Die Forschungen zeigten, dass die mit diesem Sozialisationsprozess einhergehenden ethnischen Interaktionen auf den individuellen Überzeugungen der einzelnen Mitglieder beruhen (Schweizer, 1993:593 f.). Dabei spielt es keine Rolle, ob die eigene Wahrnehmung nun zutrifft oder nicht. Ethnizität nährt sich allein aus dem Wissen um das Gegenüber und der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften in Form eines Feindbildes. (Schweizer,1993:600f).

Minderheiten

Ethnische Minderheiten (ethnic minorities) bilden in einer ethnisch geschichteten Gesellschaft jene Bevölkerungsgruppe, welche von der Mehrheitsgesellschaft benachteiligt, unterdrückt oder stigmatisiert wird. Als Mittel zum Zweck dienen Vorwürfe betreffend von der gefühlten Normalität abweichendes Verhalten (Delinquenz), Diskriminierung oder Vorurteile. Unterschieden wird zwischen regionalen und nationalen Minderheiten, Immigrantenminderheiten, neuen nationalen Minderheiten und kolonisierten Minderheiten. Die Literatur verwendet in der Regel die Begriffe der Minderheit und der ethnischen Minderheit synonym. Die deutschen sozialwissenschaftlichen Studien „die sich zuerst mit den Gastarbeitern und ihren Familien beschäftigen, folgten bis weit in die 70er Jahre dem herrschenden gesellschaftlichen Bewußtsein“ (Heckmann 1993:1). Die Beschäftigung mit Ausländern versteifte sich auf einen soziologischen Sonderfall und ignorierte die Ergebnisse der internationalen Wanderungsforschung. Erst im Lauf der Zeit fand die ethnische Minoritätenforschung Zugang in die deutsche Wanderungssoziologie. (Hoffmann-Nowotny 1973, Harbach 1976, Esser und Friedrichs 1980, 1990, Heckmann 1981, 1992)

Identität

Identität ist die Selbstwahrnehmung des Menschen einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur. Die Beurteilung durch Dritte ist das sogenannte Image. Fremdbild und Selbstbild überschneiden sich in der Regel kaum.

Das individuelle Selbstbewusstsein gründet auch in der sozialen und kulturellen Identität (Elwert, 1982). Meads sozialpsychologische Identitätstheorie beruft sich zusätzlich auf einen symbolischen Interaktionismus, welcher besagt, dass Identität die Vorstellungen eines Individuums sind von dem (Fremd-)Bild, welches andere Individuen sich von ihm machen (Heckmann, 1993:196). Die Theorie zur Identität unterscheidet wiederum drei Schichten (Goffman 1968):

  • Die soziale Identität als das allgemeine Verhalten.
  • Die personelle Identität bezeichnet die Wahrnehmung seiner selbst und anderer, erworben aus der jeweiligen Biographie.
  • Die Ich-Identität als Ergebnis sozialer Erlebnisse, welche sich in der Bewertung der eigenen Lage und der jeweiligen Eigenart ausdrückt.

Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe hilft der Ich-Identität in einer Minorität, Erwartungshaltungen auszubilden, Informationen zu selektieren und die Erfahrungen in Handlungen umzusetzen. (Heckmann 1993, 198f)

Assimilation und Akkulturation

Die Akkulturation beschreibt den kulturellen Wandel von Personen und Gruppen im Zuge der schrittweisen Assimilation. Diese wird in mehreren Ausprägungen beschrieben.

Nach Shmuel Eisenstadt

Eisenstadt (1954) untersuchte Assimilation im Zusammenhang mit der jüdischen Immigration nach Israel und entwickelte ein dreistufiges Konzept. Die einzelnen Phasen unterteilt er in die Migrationsentscheidung, die Migration an sich und die Absorption durch die Gastgesellschaft. Absorption steht für die absolute Angleichung an die Mehrheitsgesellschaft. Die Bereitschaft, sich von der Gesellschaft verschlucken zu lassen, gründet in der Wanderungsmotivation. Die Absorption gelingt nur, wenn sich der Migrant im Zuge einer Resozialisation von seinen alten Werten abwendet und sich ganz an den Werten der Gastgesellschaft orientiert und den damit verbundenen Rollenerwartungen entspricht. Die Absorption ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel, da ethnische Minderheiten nicht in sich zerfallen. Die jeweilige Kultur bleibt also plural strukturiert und ethnisch geschichtet. Eisenstadts Absorption entspricht im Wesen der Assimilation, welche auch die radikale Umformung des Wertgefüges des Individuums erfordert.

Nach Gordon

Gordon gliederte 1964 die Assimilation in sieben Stufen. Als ersten Unterprozess sieht Gordon die Akkulturation an, die kulturelle Assimilierung. Die einzelnen Phasen müssen dabei nicht zwingend vollständig durchlaufen werden und bauen auch nicht zwingend aufeinander auf, so dass Integrationsziele auch in einzelnen Bereichen erreichbar bleiben. Das Hauptaugenmerk richtet Gordon auf das Durchlaufen der „Strukturellen Assimilation“. Demnach sei die Integration maßgeblich davon abhängig von der Befähigung der Migranten, sich in die Institutionen der Mehrheitsgesellschaft eingliedern können. (Esser, 1980, 70)

Nach Hartmut Esser

Esser wiederum unterscheidet mittels eines dreischichtigen Modells. Das Näherkommen zwischen Einwanderer und Gastgesellschaft besteht aus den Phasen der Akkulturation, in welcher der Migrant die kulturellen Gepflogenheiten erlernt und die Assimilation als Erfahrung der Ähnlichkeiten bezüglich der eigenen Ausstattung und Orientierungen. Darauf folgt die Integration durch die Erfahrung des gleichberechtigten Status. (Esser, 1980, 20f). Die nachhaltige Integration des Angehörigen einer Minderheit und seine Identifikation mit der Majoritätsbevölkerung gründet sich also auf Akzeptanz der eigenen Person und Religion durch die Mehrheitsgesellschaft. Erwartet die Mehrheit zu Recht von Einwanderern, die Normen einer Verfassung zu achten, so muss der Minderheit ebenfalls gestattet werden, sich auf diese zu berufen.

Esser sieht also nicht nur den Einwanderer in der Bringschuld, sondern bringt auch die jeweiligen Parameter der Gastgesellschaft ins Spiel. Je positiver die Einschätzungen des Immigranten ausfallen und je geringer seine inneren Widerstände und je unschärfer sich die Gesellschaft abgrenzt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit assimilitativen Engagements. Dieses Bestreben hängt auch stark von der jeweiligen Migrationsmotivation ab, welche bei einem nur temporär verbleibenden Arbeitsmigranten desmeist weniger stark ausfällt als bei einer Person, welche in der Absicht einreist, den Lebensmittelpunkt endgültig in die Aufnahmegesellschaft zu verlegen. Dieses Migrationskonzept führt wiederum möglicherweise in den ersten Generationen zur Bildung von ethnischen Kolonien.

Ethnische Kolonien

Im Gegensatz zu den Modellen der Assimilation gibt es auch das Phänomen der ethnischen Kolonie. Der Einwanderer zeigt kein oder nur bedingtes Interesse daran, sich schrittweise zu assimilieren und der Gastgesellschaft anzunähern, welche dies auch nicht verlangt. Für einen zeitweiligen Arbeitsmigranten steht eine Assimilation oder gar Integration seinem Lebenskonzept, sich ein kleines Vermögen anzusparen und zurückzukehren, im Wege. Er hat die Heimat aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus verlassen und nicht die Absicht, bis zum Lebensabend im Gastland zu verweilen.

Bedeutsam wird nun die Bildung ethnischer Kolonien. Dies sind räumliche und territoriale Einheiten mit diversen, selbstorganisierten Beziehungsgeflechten unter Immigranten. (Heckmann 1993:97). Die ethnische Kolonie ist laut Heckmann ein Übergangsstadium für Einwanderer, um mit den unvermeidlichen Problemen mit der Mehrheitsgesellschaft fertig zu werden, also eine Art Rückzugsgebiet, um anfänglichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ethnische Kolonien zerfallen oft im Verlauf des Generationenlaufes, da sich immer mehr Individuen davon ablösen.

Segregiertes Wohnen gibt es auch in Form von Ghettos und Gulags. In letzteren werden die jeweiligen Bewohner jedoch gewaltsam zusammengepfercht. Ethnische Kolonien sind eher mentale Dorfgemeinschaften, welche es vor allem den älteren Einwanderern erleichtern, sich vor den vielen ungewohnten Eindrücken des fremden Mainstreams (Leitkultur) zurückzuziehen und damit auch, sich zurechtzufinden in einer neuen Welt.

Arbeitsmigration: Brain-Drain/Brain-Gain

Als Brain-Drain bezeichnet die Migrationssoziologie die Emigration qualifizierter Arbeitskräfte aus einem Gebiet. Im Gegensatz zum neutraleren Begriff der Elitenmigration, betont der Begriff die volkswirtschaftlich zu fürchtenden Verluste einer Abwanderung von wertvollem Humankapital für das Herkunftsland. Analog dazu bezeichnet der Begriff Brain-Gain die potentiellen Chancen, die für das Immigrationsland aus einem Zuwachs an qualifizierten Arbeitskräften resultieren können.<ref>Vgl.  Petrus Han: Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle, Fakten, politische Konsequenzen, Perspektiven. 2. erw. und üb. Auflage. Lucius & Lucius, Stuttgart 2005, S. 31–41.</ref>

Das Beispiel der Migration von Pflegekräften
Care Drain: Care Drain steht für den Wegzug von Pflegedienstleistenden aus dem Herkunftsland. Ausschlaggebend sind dabei meist schlechte Arbeitsbedingungen, gesundheitliche Risiken sowie Pullfaktoren in den Anwerbestaaten wie höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und ein höherer technischer Standard. Vor allem Entwicklungsländer und Krisengebiete sowie ärmere ländliche Regionen erleben hierdurch einen Mangel an notwendigen qualifizierten Pflegekräften.<ref>Vgl. und Aufsätze [3] zum Thema "Migration"
  • Christoph Butterwegge, Die Dienstbotengesellschaft ("Frankfurter Rundschau", 18. Oktober 2006 - Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Köln)
  • Migrations-Portal der Heinrich-Böll-Stiftung
  • focus Migration – aktuelle Zahlen, Daten und Analysen (Newsletter, Kurzdossiers, Länderprofile) zu Zuwanderung, Flucht und Asyl sowie Integration
  • Barbara Lüthi: Migration and Migration History, in: Docupedia Zeitgeschichte, 28. September 2010
  • frauen leben - Familienplanung und Migration im Lebenslauf. Die Studie untersucht den Zusammenhang von Familienplanung und Migrationserfahrung Forschungsportal der BZgA
  • Einzelnachweise

    <references />