The Legend of Sleepy Hollow
The Legend of Sleepy Hollow, deutsch Die Sage von der schläfrigen Schlucht, ist eine Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving (1783–1859), die 1820 als Teil seines Sketch Book erschien. Neben Rip Van Winkle aus demselben Band gilt die „Legende“ vom geisterhaften „Reiter ohne Kopf“ als erste und noch heute vielleicht bekannteste Kurzgeschichte der amerikanischen Literatur; letztlich geht sie indes auf eine deutsche Quelle zurück, ein von Johann Karl August Musäus gesammeltes Rübezahl-Märchen.
Gemälde von John Quidor, 1858.
Smithsonian American Art Museum, Washington.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Der Erzähler der Geschichte, der Historiker Dietrich Knickerbocker, stellt zunächst den Schauplatz der Handlung vor, die so genannte „schläfrige Schlucht“. Das kleine Seitental des Hudson River nahe Tarrytown, wo sich das Brauchtum der niederländischen Kolonisten fast unverändert erhalten habe, gilt im Volksglauben als verwunschener Ort; es stehe „immerwährend in der Gewalt irgend einer Zaubermacht, welche über die Gemüter der guten Leute ihre Herrschaft ausübt und Ursache ist, daß sie in einem beständigen Traume umherwandeln. Sie sind allen Arten von Wunderglauben ergeben, Verzückungen und Gesichtern unterworfen, sehen häufig allerhand sonderbare Erscheinungen, und hören Musik und seltsame Stimmen in der Luft.“ Die furchtbarste dieser Erscheinungen ist ein „Reiter ohne Kopf“ (Headless Horseman), der Geist eines hessischen Söldners aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der im Ruf steht, nachts zum einstigen Schlachtfeld zu reiten, um seinen abgeschlagenen Kopf zu suchen.
„Vor etwa dreißig Jahren“ verschlug es in diesen beschaulichen Winkel Ichabod Crane, einen gelehrten, jedoch abergläubischen Landschulmeister aus Connecticut. Im Schulhaus unterrichtet er die „kleinen, zähen, starrköpfigen, breitschultrigen holländischen Buben“ und lehrt die Bauern das Psalmensingen. Besonders genießt er die niederländische Kost und wirft bald ein Auge auf Katrina van Tassel, Tochter eines Bauern mit einer besonders üppig gefüllten Speisekammer, auf deren Hand sich aber auch Abraham van Brunt, genannt „Brom Bones“, Hoffnungen macht. Eines Herbsttages wird Crane zu einem Festmahl bei den van Tassels eingeladen. Nach dem ausführlich geschilderten Mahl und dem anschließenden Tanzvergnügen erzählt man sich in geselliger Runde Schauergeschichten; Brom Bones behauptet dabei, den Reiter ohne Kopf selbst getroffen und sich mit ihm ein Wettrennen zu Pferde geliefert zu haben.
Als die Nacht anbricht, macht sich Crane auf den Heimweg. Wieder und wieder wird er auf seinem Ritt von unheimlichen Geräuschen und seltsamen Formen im Geäst erschreckt. Plötzlich sieht er am Wegesrand einen „Reiter von gewaltiger Größe, der ein schwarzes Pferd von mächtigen Formen ritt.“ Die Gestalt reitet neben ihm einher, ohne ein Wort zu sprechen, und als sich das Licht kurz aufhellt, sieht Crane, dass die Gestalt „keinen Kopf hatte! – aber sein Entsetzen wuchs, als er bemerkte, daß er den Kopf, der auf den Schultern hätte stehen sollen, vor sich auf dem Sattelknopfe trug.“ Voller Entsetzen treibt er sein Pferd an, doch setzt die Gestalt zur Verfolgung an. Kurz bevor Crane die rettende Kirchenbrücke erreicht, erhebt sich der gespenstische Reiter, schleudert seinen Kopf nach dem fliehenden Schulmeister und stürzt Crane so vom Pferd.
Am nächsten Morgen ist Ichabod Crane verschwunden. Eine Suchmannschaft findet an der Brücke nur sein Pferd und einen zertrümmerten Kürbis. Zumindest die alten Weiber des Tals sind davon überzeugt, „daß Ichabod von dem galoppierenden Hessen hinweg geführt worden sei.“ Allerdings, so Knickerbocker, habe später ein Reisender die Nachricht aus New York gebracht, dass Crane durchaus noch am Leben sei und sein Glück andernorts versucht habe. Katharina Van Tassel heiratete unterdessen Brom Bones. Letzteren „sah man immer eine sehr schalkhafte Miene machen, wenn Ichabods Geschichte erzählt wurde.“
Werkzusammenhang
Entstehung
Stich nach einem Gemälde von Gilbert Stuart Newton
The Legend of Sleepy Hollow ist Teil des Book Sketch Book of Geoffrey Crayon, Gent. (dt. Das Skizzenbuch), das Irving 1818/19 in England verfasste und dessen Texte in Amerika zunächst über einen Zeitraum von rund anderthalb Jahren in sieben Einzelheften, in Buchform erstmals 1820 in England erschienen. Die Sage ist die letzte von drei „Skizzen“ des sechsten amerikanischen Einzelhefts vom 15. März 1820. In der ersten englischen Ausgabe, der auch die späteren amerikanischen Auflagen folgten, erschien die „Sage“ an vorletzter Stelle, gefolgt nur von L’Envoy, einer Art Grußbotschaft an den Leser.<ref>Washington Irving: The Sketch Book of Geoffrey Crayon, Gent. Hg. von Haskell Springer. Twayne, Boston 1978. von übermenschlicher Größe,“ die ihren Kopf „nicht wie gewöhnlich zwischen den Schultern, sondern wie einen Schoßhund im Arme trug“ und wird mit einem gezielten Wurf ebendieses „Kopfes“ niedergestreckt. Musäus’ Erzähler lässt ebenso durchblicken, dass es sich bei dieser Begebenheit um einen Streich handelte, mit dem sich der gar nicht übernatürliche „Krauskopf“ seines Rivalen entledigte.<ref>zitiert nach: J. K. A. Musäus: Volksmärchen der Deutschen. Winkler, München 1976. S. 250–277. Digitalisat bei zeno.org</ref> Auch mit seinen mangelhaften Deutschkenntnissen konnte Irving dieses Märchen geläufig sein, denn eine Auswahl von Musäus’ Märchen war bereits 1791 von John Murray in London herausgegeben worden.<ref>E. L. Brooks: A Note on Irving’s Sources . In: American Literature 25:2, 1953. S. 229–230.</ref> Oberflächliche Gemeinsamkeiten hat die Erzählung zudem mit Robert Burns' Gedicht Tom O'Shanter sowie mit Gottfried August Bürgers Der wilde Jäger. Dass Bürgers Ballade auf die Komposition der „Sage“ gewirkt haben könnte, erscheint plausibel, da zum einen dieses Gedicht etwa um dieselbe Zeit von Irvings Freund Walter Scott ins Englische übersetzt worden war und zum anderen Irving selbst Bürgers Lenore zur Grundlage seiner Geschichte Der Geisterbräutigam machte.<ref>Henry A. Pochmann: Irving’s German Sources in “The Sketch Book.” In: Studies in Philology 27:3, 1980. S. 477–507.</ref><ref>Walter A. Reichart: Washington Irving and Germany. University of Michigan Press, Ann Arbor 1957, S. 33 ff.</ref>
Gattung und Genre
Scott war es auch, der Irving zur Beschäftigung mit der Literatur der deutschen Romantik anhielt. Waren Irvings frühe Werke wie Salmagundi oder noch viele europäische Stücke des Skizzenbuchs an neoklassizistischen Stilvorbildern wie Joseph Addison oder Oliver Goldsmith geschult, so drückt sich in der „Sage von der schläfrigen Schlucht“ wie dem „Rip Van Winkle“ eine Hinwendung zu einer romantischen Weltsicht mit ihrer Begeisterung für „volkstümliche“ Stoffe aus. Wie vielen amerikanischen Schriftstellern vor und nach ihm stellte sich Irving jedoch das Problem, dass es einer jungen Nation wie den Vereinigten Staaten an einer reichen Vergangenheit zu mangeln schien, aus der sich literarisches Kapital schlagen ließe. Mit sanfter Ironie verdeutlicht sein Erzähler dieses Dilemma, wenn er schreibt, seine Geschichte habe sich „in einer weit entrückten Periode der amerikanischen Geschichte, das heißt etwa vor dreißig Jahren“ zugetragen. Nur in Amerika, so der Literaturwissenschaftler Donald A. Ringe, könne man dreißig Jahre als „weit entrückt“ bezeichnen.<ref>Terence Martin: Rip, Ichabod, and the American Imagination. S. 143. (in a remote period of American history—that is to say, some thirty years since.)</ref> Irving versetzte aber nicht einfach nur einen deutschen Sagenstoff in die Berge New Yorks, sondern setzte ihn in Zusammenhang mit spezifischen Ereignissen der amerikanischen Geschichte, der niederländischen Kolonialzeit und des Unabhängigkeitskrieges, um seiner Heimat den Reiz einer reichen Vergangenheit zu verleihen. Die niederländischen Kolonisten hatte Irving bereits 1809 in seiner humoristischen History of New York (dt. Geschichte der Stadt New York vom Anbeginn der Welt bis zum Ende der holländischen Dynastie) (1809) behandelt, die wie die Sage von dem fiktiven Historiker Dietrich Knickerbocker erzählt wird. Im Vergleich zu diesem satirischen Frühwerk erscheint die Stimme des Erzählers nun aber merklich versöhnlicher – die niederländischen Siedler New Yorks waren nun nicht mehr das Ziel beißenden Spotts, sondern erscheinen als durchaus liebenswerter Inbegriff des ländlichen Amerika.<ref>Hoffmann 1953, S. 427–428.</ref>
Rip Van Winkle und The Legend of Sleepy Hollow haben eine besondere Bedeutung nicht nur für die amerikanische Literatur, sondern auch für die allgemeine Gattungstheorie, da sie als erste Kurzgeschichten der Literaturgeschichte überhaupt gelten.<ref>Siehe etwa Fred L. Pattee: Development of the American Short Story: An Historical Survey. Harper & Brother, New York 1923.</ref> Die poetologische Definition der short story erfolgte aber erst nachträglich im späten 19. Jahrhundert, Irving selbst bezeichnete seine kurzen Prosaerzählungen – wie dies auch seine Zeitgenossen Poe und Hawthorne taten – als tales.<ref>Werner Hoffmeister, Die deutsche Novelle und die amerikanische „Tale“: Ansätze zu einem gattungstypologischen Vergleich, in: The German Quarterly 63:1, 1990, S. 44–45.</ref> Auch tritt gegenüber dem Märchen die individuelle Zeichnung der Figuren als Charaktere in den Vordergrund.
Irving überlässt es letztlich dem Leser, zu entscheiden, was tatsächlich in Sleepy Hollow geschah. Zwar gibt er zahlreiche deutliche Hinweise, dass es wohl Brom Bones in Verkleidung war, der Crane in die Flucht schlug, doch ist eine Lesart nicht völlig ausgeschlossen, wonach Crane tatsächlich vom Reiter ohne Kopf ins Reich der Geister entführt worden ist.<ref>Siehe hierzu insbesondere: Smith: Supernatural ambiguity and possibility in Irving’s 'The Legend of Sleepy Hollow'.</ref> Der ironisch-humoristische Umgang mit dem Übernatürlichen lässt Irving nur schwerlich dem Genre der eigentlichen Schauerliteratur (Gothic fiction) zuordnen, auch wenn er reichlichen Gebrauch von deren Inventar macht; vielmehr ist die „Sage,“ deutlicher noch die Geschichte The Spectre Bridegroom (dt. Der Geisterbräutigam) aus demselben Band, fast eine Parodie auf dieses Genre.<ref>Henry A. Pochmann prägte für Irvings Modus den Begriff „sportive Gothic.“ In: Irving’s German Sources in “The Sketch Book.”, S. 506.</ref> Großen Reiz gewinnt die Geschichte gerade durch die Vermengung zweier eigentlich gegensätzlicher Modi, des Pastoralen und des „Gotischen,“ also Schrecklichen, die auch verschiedenen literaturgeschichtlichen Epochen angehören: Während das Setting der Geschichte an die gefälligen „Dorfschilderungen“ etwa eines Oliver Goldsmith erinnert, so knüpft der nächtliche Ritt Ichabods an die Entwicklungslinie der Schauerliteratur an, die erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit Horace Walpole und Anne Radcliffe begann.
Themen und Motive
Ichabod als „Yankee“
Da Irvings Erzählungen in der Literaturgeschichte am Beginn einer eigenständigen amerikanischen Literatur stehen, hat die Amerikanistik in der Legend of Sleepy Hollow häufig Anknüpfungspunkte für Entwicklungen der späteren amerikanischen Nationalliteratur gesucht. Brom Bones und Ichabod Crane wurden oftmals nicht nur als bloße literarische Figuren, sondern als Archetypen gedeutet, in denen sich Eigenarten und Handlungsmuster vorgebildet finden, die in der amerikanischen Literatur immer wieder auftauchen. So ist die Rivalität der beiden als Dramatisierung grundlegender Konflikte in der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft gelesen worden – zwischen West und Ost, Land und Stadt, Pastoralismus und Kapitalismus, praktischer Bauernschläue und abstrakter Gelehrsamkeit.<ref name="Ringe">Donald A. Ringe: New York and New England: Irving’s Criticism of American Society. In: American Literature 38:4, 1967.</ref> Gerade Brom Bones als wenn auch ungeschlachter, so doch praktisch denkender Mensch der Tat wurde häufig als Inbegriff des amerikanischen Wesens beschrieben, etwa als Vorläufer von Frontier-Helden wie Paul Bunyan, Mike Fink oder Davy Crockett, und Held einer frühen tall tale („Räuberpistole“), wie sie die amerikanische Folklore und auch das Werk von Autoren besonders des amerikanischen Westens wie etwa Mark Twain prägen.<ref>Siehe hierzu z. B. Daniel Hoffman: Prefigurations: The Legend of Sleepy Hollow. 1953.</ref>
Die Geschichte spielt um 1790, zu einer Zeit, da sich in den Vereinigten Staaten große politische und gesellschaftliche Umwälzungen ereigneten. Durch die Ratifizierung der neuen Verfassung war Irvings Heimatstaat New York Teil einer Republik geworden, in der die zuvor souveränen Einzelstaaten miteinander auszukommen suchten. Die „Sage“ ist so unter anderem eine Dramatisierung eines Mentalitätskonflikts zwischen New York, repräsentiert durch die niederländischen Siedler von Sleepy Hollow, und den Yankees Neuenglands. Ichabod Crane vereint alle stereotypischen Eigenarten des Yankees, angefangen bei seinem alttestamentlichen Namen, der bezeichnenderweise 1 Sam 4,21 EU entnommen ist: „Sie nannte den Knaben Ikabod – das will besagen: Fort ist die Herrlichkeit aus Israel.“ So fällt seine Beschreibung auch nicht nur wenig schmeichelhaft oder grotesk, sondern geradezu bedrohlich aus:
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Von seinen puritanischen Vorfahren hat er zum einen den Hang zu Büchern und Gelehrsamkeit geerbt, wohingegen der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft von Sleepy Hollow auf einer Kultur der Mündlichkeit beruht. Als geradezu kathartisches Ritual erscheint in diesem Zusammenhang, dass Hans van Tassel nach Cranes Verschwinden seine Bücher verbrennt,<ref>David Greven: Troubling Our Heads about Ichabod: “The Legend of Sleepy Hollow,” Classic American Literature, and the Sexual Politics of Homosocial Brotherhood. In: American Quarterly 56:1, 2004.</ref> denn da er „aus dem sogenannten Lesen und Schreiben nie etwas Gutes hatte entstehen sehen, beschloss er, seine Kinder nicht mehr in die Schule zu senden.“ Cranes Belesenheit selbst ist es, die ihm zum Verhängnis wird, denn sein Glaube an das Wirken von Gespenstern stützt sich vor allem auf die Lektüre von Cotton Mathers Geschichte der Zauberei in Neu-England (gemeint sind die Wonders of the Invisible World, in denen Mather 1693, ein Jahr nach den Hexenprozessen von Salem seinen Glauben an Hexen und Dämonen bekräftigte).
Der andere prägende Wesenszug Ichabods wie des „typischen“ Yankee ist seine Gier. Cranes unermesslicher Appetit bestimmt sein Denken, selbst sein Verlangen nach Katharina van Tassel (die beschrieben wird als „rund wie ein Rebhuhn; reif und mürbe und rosenwangig wie eine von den Pfirsichen ihres Vaters“) stellt sich als Wunsch nach Einverleibung dar, so dass das Essen zu einer umfassenden Metapher für Ichabods Geisteshaltung gerät.<ref>Siehe hierzu z. B. Helmbrecht Breinig: Das kulinarische Imaginäre: Oralität, Identität und Kultur in einigen Texten der amerikanischen Literatur. In: Christa Grewe-Volpp, Werner Reinhardt: Erlesenes Essen: literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu Hunger, Sattheit und Genuss. Gunter Narr Verlag, Tübingen 2003. S. 19ff. sowie Frederick Kaufman: Gut Reaction: The Enteric Terrors of Washington Irving. In: Gastronomica 3:2, 2003. S. 41–49. und Terence Martin: Rip, Ichabod, and the American Imagination, S. 143–144.</ref> In seinen Wunschträumen sieht er Katharina schon als ergebene, stets Butterstullen reichende Gattin, sich selbst als Erbe der van Tasselschen Besitztümer, auf dem „jedes Spanferkel gebraten mit einem Pudding im Leibe und einem Apfel im Maule“ umherläuft. Dieser vertraute Tropus aus der märchenhaften Schlaraffenland-Literatur weicht schon im nächsten Absatz der Beschreibung von Cranes Habgier, die ihn als skrupellosen Landspekulanten und rastlosen Geschäftsmann ausweist, denn als er sein Auge über die Felder und Gärten der van Tassels schweifen ließ:<ref>Martin Roth: Comedy and America. The Lost World of Washington Irving. Kennikat Press, Port Washington NY 1976, S. 165.</ref>
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