Vagheit


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Mit Vagheit wird eine Eigenschaft von Begriffen, insbesondere von Prädikaten, bezeichnet. Ein Begriff ist vage,

  • wenn der Begriffsumfang (die Extension) ungenau ist;
  • wenn es Objekte gibt, von denen nicht mit Bestimmtheit gesagt werden kann, ob sie zu der Menge von Objekten gehören, die mit diesem Begriff bezeichnet werden oder die mit dem Prädikat bezeichnete Eigenschaft aufweisen (sog. Grenzfälle);
  • wenn der Begriff oder das Prädikat vom Sorites-Paradoxon betroffen ist.

Etymologie

Das Substantiv Vagheit ist abgeleitet vom Adjektiv vage, das unbestimmt, unsicher, dunkel, verschwommen bedeutet. Es ist aus dem gleichbedeutenden französischem Wort vague und dem lateinischen vagus entlehnt. Die beiden Ursprungswörter haben die Bedeutung umherschweifend, unstet. Dazu gehört auch das lateinische Verb vagari, von dem das spätlateinische Adjektiv vagabundus und schließlich der Vagabund abgeleitet sind. Über das mittellateinische extra-vagari (ausschweifend) ist es zur Bildung des Wortes Extravaganz gekommen.<ref>Duden: Herkunftswörterbuch. Mannheim 2007, Lemma vage.</ref>

Extension

Vielen Begriffen, besonders Prädikaten, ist eine gewisse Unschärfe eigen. Beispiele hierfür sind grün, groß, Mittelklassewagen. Eine Person kann eher groß für einen Betrachter und eher nicht groß für einen anderen Betrachter sein. Dies ist unabhängig davon, ob die Betrachter nur die ungefähre oder exakte Größe dieser Person kennen. Ebenso kann ein Auto eines bestimmten Typs für einen Betrachter ein Mittelklassewagen sein, für den anderen Betrachter nicht.

Diese Vagheit ist nicht allen Begriffen eigen. So kann spätestens bei Vorlage entsprechender Urkunden eindeutig bestimmt werden, ob eine Frau Junggesellin, verheiratet oder Witwe ist.

Kommunikative Konflikte, die sich aus der Verwendung vager Begriffe ergeben, werden meist durch Aushandeln bzw. nachträgliche (begriffliche) Klarstellung gelöst:

A: Das blaue Auto gefällt mir.
B: Welches blaue Auto?
A: Na das da hinten, das dritte von rechts.
B: Das ist doch grün.
A: Na schön, das blaugrüne Auto da würde ich jedenfalls gerne haben, wenn ich es mir leisten könnte.

Konflikte dieser Art müssen aber auch gelegentlich gerichtlich geklärt werden: War ein bestimmtes Handeln grob fahrlässig oder nicht?

Grenzfälle

Unmittelbar mit dem unscharfen Begriffsumfang vager Begriffe hängt die Existenz von Grenzfällen zusammen. Der Umstand, dass eine Person (je nach Perspektive) als groß und als nicht groß bezeichnet werden kann, macht vor allem beim logischen Schließen Probleme, da dies zu einem unlösbaren Widerspruch führt.

Sorites-Paradox

Das Sorites-Paradox (Paradoxie des Haufens) ist aus der formalen Logik bekannt. Es wird zumeist anhand eines Sandhaufens demonstriert. Entfernt man von einem Haufen ein Sandkorn, so bleibt es immer noch ein Haufen. Ebenso, wenn man ein weiteres Korn entfernt. Da es keine Abbruchsbedingung bzw. keinen Umschlagspunkt gibt, führt dies dazu, dass ein einziges Sandkorn ebenfalls einen Haufen bildet. Gleiches gilt für ein großes Objekt, das man Millimeter für Millimeter verkleinert. Die Ursache der Paradoxie des Haufens liegt darin, dass die Gestalt eines Haufens nicht durch die Anzahl seiner Elemente bestimmt ist.

Abgrenzung

Gelegentlich wird die Vagheit von Begriffen mit der Mehrdeutigkeit (Ambiguität) von Wörtern gleichgesetzt. Vagheit ist aber eine Eigenschaft von sprachlichen Zeichen, während sich Mehrdeutigkeit auf die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem bezieht. Die Vagheit des Prädikats 'groß' bleibt bestehen, selbst wenn man sich auf eine exakte Bedeutung, z. B. ausgedehnt in horizontaler Richtung, festgelegt hat, während die Mehrdeutigkeit verschwindet, weil ein Bezugspunkt hergestellt ist.

Vagheit ist ebenfalls zu unterscheiden von der kontextuellen Unterbestimmtheit mancher Begriffe. So ist z. B. groß ein kontextuell unterbestimmtes Prädikat. Ein kleiner Elefant ist auf jeden Fall deutlich größer als eine große Ameise. Aber selbst wenn man sich auf einen Kontext festgelegt hat, wenn man z. B. über Hunde redet, bleibt dem Prädikat groß seine Vagheit erhalten.

Vagheit ist auch keine Eigenschaft der mit den Begriffen bezeichneten Dinge. Ein Objekt, bei dem man sich darüber streiten kann, ob das Prädikat groß zutrifft, kann doch exakt vermessbar sein. Andererseits verhindert unser unvollständiges Wissen darüber, was ein String ist, nicht, dass die Bedeutung dieses Begriffs im Rahmen einer physikalischen Theorie präzise bestimmt wird.

In der Alltagssprache ist Vagheit jedoch ein unvermeidlicher, gelegentlich sogar gewünschter Effekt des Sprachgebrauchs. In den meisten Fachtexten, z. B. bei Gesetzen, Normtexten und wissenschaftlichen Fachaufsätzen, ist Vagheit allerdings störend und sollte wo immer möglich vermieden werden.

Prototypensemantik

Die Prototypensemantik als Theorie der Wortbedeutung (lexikalische Semantik) stellt einen Erklärungsansatz für das Vagheitsphänomen bereit: Begriffe werden nicht als Bedeutungsräume mit fest umrissenen Grenzen beschrieben, sondern als eine Art topologischer Raum mit einem Kern (dem Prototyp) und einer Peripherie. Je ferner, also unähnlicher, ein Objekt dem Prototyp des Begriffs ist, umso unklarer oder umstrittener ist die Zuordnung dieses Objekts zum Begriff Psycholinguistische Untersuchungen haben die Adäquat­heit dieser Bedeutungstheorie für die Beschreibung vieler Begriffsarten (Farben und andere Prädikate, Begriffe für natürliche Arten) nachgewiesen.

Mit Hilfe dieser Theorie lässt sich die Vagheit vieler Begriffe zwar nicht auflösen, aber doch immerhin adäquat erklären. Die Theorie bietet aber keine Lösung für Sorites-Paradox.

Zitate

  • "Vagheit ist keine Eigenschaft von Begriffen, sondern eine falsche Interpretation von nicht-vagen Phänomenen."<ref>Mudersbach, Klaus: Begriffe in der Sicht des Sprachbenutzers. In: Wille, Rudolf (Hg.): Begriffliche Wissensverarbeitung: Grundfragen und Aufgaben. BI-Wiss.-Verl.: Mannheim [u.a.], 1994, S. 117 (140).</ref>

Siehe auch

Literatur

  • Ingemund Gullvag, Arne Naess: Vagueness and ambiguity. In: Marcelo Dascal, Dietfried Gerhardus, Kuno Lorenz, Georg Meggle: Sprachphilosophie. Philosophy of Language. La philosophie du langage. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Zweiter Halbband, Berlin / New York: de Gruyter 1996, S. 1407-1417.
  • Rosanna Keefe, Peter Smith: Vagueness. A Reader. Cambridge: MIT Press, 1999 ISBN 0-262-61145-7.
  • Martina Mangasser-Wahl: Prototypentheorie in der Linguistik : Anwendungsbeispiele, Methodenreflexion, Perspektiven. Tübingen: Stauffenburg 2000, ISBN 3-86057-706-9.
  • Eleanor Rosch: Cognition and categorization. Hillsdale, N.J. [u.a.]: Erlbaum, 1978, ISBN 0-470-26377-6.
  • Philipp Stoellger: Vagheit. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Darmstadt: WBG 1992ff., Bd. 10 (2011), Sp. 1364-1377.
  • Timothy Williamson: Vagueness. London: Routledge 1994.

Weblinks

Einzelnachweise

<references/>