Verwirkung (Deutschland)


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Ein Recht ist verwirkt, wenn seit der Möglichkeit seiner Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment).

Allgemeines

Im Regelfall machen die Vertragsparteien von ihren vertraglichen Rechten unverzüglich Gebrauch; das dürfen die Vertragsparteien voneinander erwarten. Als verwirkt gilt ein Recht immer dann, wenn der Berechtigte es längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht hat und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat und sich nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten auch darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde. Die Verwirkung ist im deutschen Recht bis auf Ausnahmen in Spezialgesetzen (z. B. § 21 Markengesetz) nicht gesetzlich geregelt. Vielmehr wurden ihre Grundsätze von der Rechtsprechung aus der Generalklausel des § 242 BGB (Treu und Glauben) entwickelt. Systematisch handelt es sich um einen Fall unzulässiger Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens, ein so genanntes venire contra factum proprium.

Der einzige gesetzliche Fall einer Verwirkung besteht bei Maklern, die ihren Anspruch auf Maklerlohn verwirken, wenn sie vertragswidrig auch für den anderen Teil tätig geworden sind (§ 654 BGB). Hiermit soll eine offenkundige Interessenkollision vermieden werden.

Voraussetzungen

Um die Verwirkung eines Rechts anzunehmen, bedarf es dreier Voraussetzungen:

  • Zeitmoment: Seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, muss ein längerer Zeitraum verstrichen sein. Was ein „längerer Zeitraum“ ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Mit anderen Worten, das Zeitmoment beginnt – da keine sonderlich hohen Anforderungen diesbezüglich bestehen – wenn der Berechtigte von den Umständen Kenntnis erlangt, die seinen Anspruch begründen.<ref name="LAG-K-13(3) Sa2/03">LAG Köln, Urteil vom 3. Juni 2003 – 13 (3) Sa 2/03</ref>
  • Umstandsmoment: Der Verpflichtete hat sich darauf eingestellt und durfte sich darauf einstellen, der Berechtigte werde aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestandes sein Recht nicht mehr geltend machen. Das Umstandsmoment liegt mithin vor, wenn der Berechtigte unter solchen Umständen untätig geblieben ist, die den Eindruck erwecken, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wird.<ref name="LAG-K-13(3) Sa2/03" />
  • Untätigsein des Berechtigten bezüglich der Durchsetzung des Rechts.

Das Umstandsmoment liegt vor, wenn der Verpflichtete bei objektiver Betrachtung aus dem Verhalten des Berechtigten entnehmen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen werde. Ferner muss sich der Verpflichtete im Vertrauen auf das Verhalten des Berechtigten in seinen Maßnahmen so eingerichtet haben, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde.<ref>BGH, Urteil vom 22. September 1983, Az: IX ZR 90/82 = LM § 242 BGB Nr. 39</ref>

Beispiel

Ein Zahnarzt hatte fast vier Jahre mit der Rechnungsstellung gewartet, obwohl es dafür keinen Grund gab. Nachdem der Patient nicht zahlte, wartete der Zahnarzt weitere drei Jahre. Das OLG Nürnberg gestand dem Zahnarzt zwar zu, dass es keine gesetzliche Pflicht gebe, innerhalb derer ein Arzt seine Rechnungen für Behandlungsleistungen erstellen müsse. Es sei jedoch verkehrsüblich, dass Ärzte üblicherweise quartalsweise, spätestens jedoch zum Ablauf eines Kalenderjahres abrechneten. Bei Zahnarzthonoraren sei gemäß § 10 Abs. 1 GOZ der Zugang der Rechnung ausnahmsweise Fälligkeitsvoraussetzung. Wird keine Rechnung erteilt, seien die unter diese Regelung fallenden Forderungen praktisch unverjährbar. Deshalb, so das OLG Nürnberg, sei eine besondere Schutzwürdigkeit des Patienten vor unangemessen verspätet gestellten Rechnungen gegeben. Es kommt Verwirkung in Betracht, wenn seit dem Zeitpunkt, in dem die Rechnung hätte erteilt werden können, die regelmäßige Verjährungsfrist vergangen ist. „Das Zeitmoment der Verwirkung ist deshalb erfüllt“.<ref>OLG Nürnberg, Urteil vom 9. Januar 2008, Az.: 5 W 2508/07</ref>

Folgen

Der Verpflichtete muss die Einwendung der Verwirkung gegenüber dem Berechtigten geltend machen; sie ist eine rechtsvernichtende Einwendung und im Prozess von Amts wegen zu berücksichtigen.

Abgrenzung

Von der Verwirkung zu unterscheiden ist die Verjährung. Letztere ist von dem genannten Umstandsmoment unabhängig und wird im Prozess nur auf ausdrückliche peremptorische Einrede hin berücksichtigt. Jedoch muss die Verwirkung restriktiv angewendet werden, ansonsten würden die Verjährungsregeln ihren eigentlichen Sinn verlieren.<ref>Looschelders, Schuldrecht AT, 8. Auflage, Rndr. 87.</ref>

Von der Verwirkung eines Rechtes im oben beschriebenen Sinn strikt zu unterscheiden ist der in der alltäglichen Rechtssprache nur noch relativ selten verwendete Begriff der Verwirkung einer Strafe. Eine Strafe oder sonstige Sanktion ist „verwirkt“, wenn die Voraussetzungen für ihre Verhängung oder Vollstreckung eingetreten sind. In diesem Sinne hat der Täter die Ahndungsfolge „verwirkt“, sobald er den straf- oder bußbewehrten Tatbestand verwirklicht, also etwa eine strafbare Handlung begeht.

In diesem zweiten Sinne wird der Begriff der Verwirkung zum Beispiel verwendet:

  • Im Zusammenhang des § 339 BGB („Verwirkung der Vertragsstrafe“): Eine Strafe, die der Schuldner dem Gläubiger für den Fall verspricht, dass er seine Verbindlichkeit nicht oder nicht in gehöriger (vereinbarter) Weise erfüllt, ist verwirkt, wenn der Schuldner mit seiner Leistung in Verzug kommt. Mit „Verwirkung“ ist hier analog zu der strafrechtlichen Bedeutung gemeint, dass der Anspruch auf die Entrichtung der Konventionalstrafe entsteht.<ref>Jos Mehrings: Grundlagen des Wirtschaftsprivatrechts. Pearson Studium, 2006</ref>
  • Im Zusammenhang mit Säumniszuschlägen § 240 AO.

Literatur

  • Karl Spiro: Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Band II: Andere Befristungen und Rechte. Bern 1975.

Siehe auch

Einzelnachweise

<references />

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