Das Wohltemperierte Klavier


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Das Wohltemperierte Klavier (BWV 846-893) ist eine Sammlung von Präludien und Fugen für ein Tasteninstrument von Johann Sebastian Bach in zwei Teilen. Teil I stellte Bach 1722, Teil II 1740/42 fertig. Jeder Teil enthält 24 Satzpaare aus je einem Präludium und einer Fuge in allen Dur- und Molltonarten, chromatisch aufsteigend angeordnet von C-Dur bis h-Moll.

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Titelblatt des Autographs von 1722
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Clavichord. Moderner Nachbau eines Instrumentes aus dem 18. Jahrhundert

Titel

Bachs Eigentitel auf dem Titelblatt des Autographs von 1722 lautet:

Das Wohltemperirte Clavier oder Præludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend. Zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib auffgesetzet und verfertiget von Johann Sebastian Bach. p. t: Hochfürstlich Anhalt-Cöthenischen Capel-Meistern und Directore derer Camer Musiquen. Anno 1722.

Mit dem Begriff „Clavier“, der alle damaligen Tasteninstrumente umfasste, ließ Bach die Wahl des Instruments für die Ausführung bewusst offen. Die Orgel scheidet in den meisten Fällen aus, da Bach keine separate Pedalstimme notierte oder als solche bezeichnete und die Orgeln seiner Zeit mitteltönig gestimmt waren. Der größte Teil des Werks ist offenbar für Clavichord oder Cembalo konzipiert. Nach einer Äußerung Johann Nikolaus Forkels hatte Bach eine Vorliebe für das Clavichord. Im Nekrolog von 1754 steht dagegen über Bach: „Die Clavicymbale wußte er, in der Stimmung, so rein und richtig zu temperiren, daß alle Tonarten schön und gefällig klangen.“<ref>Hans-Joachim Schulze: Johann Sebastian Bach: Leben und Werk in Dokumenten. Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984, ISBN 3-423-02946-3, S. 194</ref> Das Werk wird heute sowohl auf dem Cembalo als auch auf dem modernen Klavier bzw. Flügel gespielt.

Der Begriff „wohltemperiert“ bezieht sich möglicherweise auf die 1681 von Andreas Werckmeister erfundene, von ihm so genannte wohltemperierte Stimmung. Dabei wurde die mitteltönige Wolfsquinte auf Kosten der reinen Terzen entschärft, um das Spielen in allen Tonarten zu ermöglichen. In seinem 1707 posthum erschienenen Werk Musicalische Paradoxal-Discourse schlägt Andreas Werckmeister sogar schon die gleichschwebende Stimmung vor und nennt auch sie „wohl temperirt“. Hier stehen alle Tonarten gleichberechtigt nebeneinander. Bei der bis dahin und auch noch parallel üblichen mitteltönigen Stimmung dagegen sind Tonarten umso verstimmter, je weiter sie von C-Dur entfernt sind, so dass die Komponisten diese entfernten Tonarten mieden. 1710 führte Johann David Heinichen den Quintenzirkel ein, der die 24 Dur- und Moll-Tonarten in ein gemeinsames tonales System brachte und so ihre Beziehungen zueinander definierbar machte. Doch vor Bach nutzten Komponisten diese Neuerungen noch kaum praktisch aus und komponierten allenfalls einzelne Werke in den bisher gemiedenen Tonarten, so dass Johann Mattheson 1717 beklagte: „Obgleich alle Claves nunmehr per Temperaturam so eingerichtet werden können, daß man sie diatonicé, chromaticé & enharmonicè sehr wohl gebrauchen mag, eine wahrhaftige demonstratio fehlt.“<ref>zitiert nach Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach, Fischer, Frankfurt am Main 2000, ISBN 978-3-596-16739-5, S. 250</ref>

Mit seinem Werk wollte Bach die Eignung der wohltemperierten Stimmung zum Komponieren und Spielen in allen Tonarten praktisch demonstrieren. Damit trug er wesentlich zu ihrer historischen Durchsetzung bei. Welche der zu seiner Zeit üblichen wohltemperierten Stimmungen Bach tatsächlich nutzte, ist jedoch unbekannt.

Die damals noch unüblichen Begriffe Dur und Moll umschrieb Bach im Langtitel des ersten Teils mit den italienischen Namen der ersten drei Tonstufen einer Dur-Skala (Ut-Re-Mi) oder Moll-Skala (Re-Mi-Fa), also dem Intervall einer großen (Dur-) oder kleinen (Moll-)Terz.

Der sorgfältig formulierte Langtitel gab den pädagogischen Zweck der Sammlung als systematisches Lehrwerk für musikalische Anfänger und Fortgeschrittene an: Es diene „zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib“. Diese Zweckbestimmung gab Bach auch zwei weiteren, 1722/23 neu herausgegebenen Kompositionszyklen: der „Auffrichtigen Anleitung“ und dem „Orgelbüchlein“. Damit reihte er das Wohltemperierte Klavier in jene Instrumentalwerke ein, die vornehmlich der Ausbildung des musikalischen Nachwuchses dienten. Diese gehörte zu den hervorragenden Pflichten des Thomaskantors in Leipzig: jenes Amtes, um das Bach sich 1722 gerade bewarb. Der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers mitsamt seinem Langtitel war also zugleich Teil dieser Bewerbung Bachs.<ref>Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach, 2000, S. 246–252</ref>

Vorläufer

Schon vor dem Wohltemperierten Clavier gab es vielfältige Formen der Zusammenstellung von Präludien und Fugen. In der norddeutschen Tradition, die Bach vor allem durch ihren Hauptmeister Dietrich Buxtehude kennenlernte, durchbrachen sich in langen, kompliziert aufgebauten Sätzen improvisatorisch-toccatenhafte Abschnitte mit imitatorischen oder fugierten. In der süddeutschen Tradition bildete oft ein einzelnes Präludium die Einleitung zu einer Sammlung von kurzen Fugen („Versetten“) mit gottesdienstlicher Bestimmung. Konsequent ist die paarige Kombination eines Präludiums unterschiedlicher Form mit einer Fuge erstmals durchgeführt in der Sammlung von Orgelkompositionen Ariadne Musica von Johann Caspar Ferdinand Fischer (1702; nur der Nachdruck von 1715 ist erhalten). Auch durch die Erweiterung des bis dahin üblichen Tonartenkreises (die Stücke stehen in insgesamt zwanzig Tonarten) weist diese Sammlung auf das Wohltemperierte Clavier voraus.<ref>Fischers Ariadne Musica: Noten und Audiodateien im International Music Score Library Project.</ref>

Experimente, alle Tonarten kompositorisch nutzbar zu machen, gab es über Fischer hinaus gelegentlich bereits vor dem Wohltemperierten Clavier. Johann Jacob Froberger komponierte eine (heute verschollene) Canzone durch alle 12 müssen wir glauben.“

„Immer, wenn ich beim Komponieren ins Stocken geriet, nahm ich mir das Wohltemperierte Klavier hervor, und sogleich sprossen mir wieder neue Ideen.“

„Das ‚wohltemperirte Clavier‘ sei dein täglich Brot. Dann wirst du gewiß ein tüchtiger Musiker.“

„… dort war mir zuerst, bey vollkommener Gemütsruhe und ohne äussere Zerstreuung, ein Begriff von eurem Grossmeister geworden. Ich sprach’s mir aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben. So bewegte sich’s auch in meinem Innern, und es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte.“

Goethe<ref>in einem Brief an Zelter vom 21. Juni 1827, als ihm der Organist Heinrich Friedrich Schütz in Bad Berka aus dem „Wohltemperierten Klavier“ vorgespielt hatte. Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier. (Memento vom 17. Mai 2014 im Internet Archive) S. 8</ref>

Literatur

  • Siglind Bruhn: J. S. Bachs Wohltemperiertes Klavier. Analyse und Gestaltung. Edition Gorz, Waldkirch 2006, ISBN 3-938095-05-9.
  • Ludwig Czaczkes: Analyse des Wohltemperierten Klaviers. 2 Bände. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1965.
  • Johann Nepomuk David: Das Wohltemperierte Klavier. Der Versuch einer Synopsis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1962.
  • Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie V, Band 6.1: Das Wohltemperierte Klavier. Kritischer Bericht. Bärenreiter-Verlag (Kassel) und VEB Deutscher Verlag für Musik (Leipzig) 1989
  • Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach. Das Wohltemperierte Klavier. Bärenreiter, Kassel u. a. 1998; 3. Auflage 2008, ISBN 978-3-7618-1229-7.
  • Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach. Werk und Wiedergabe. Bärenreiter, Kassel 1965; Neuausgabe 1994, ISBN 3-7618-1200-0. Teil I Teil II (PDF)
  • Stefan Kunze: Gattungen der Fuge in Bachs Wohltemperiertem Klavier. In: Martin Geck (Hrsg.): Bach-Interpretationen. (Walter Blankenburg zum 65. Geburtstag). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 291, ZDB-ID 255845-2).
  • Cecil Gray: The Forty-Eight Preludes And Fugues Of J. S. Bach. Oxford University Press, 1938. archive.org

Weblinks

Commons Commons: Das Wohltemperierte Klavier – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

<references />