Wunderkammer


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25px Kunstkabinett ist eine Weiterleitung auf diesen Artikel. Zum 1979 veröffentlichten Roman von Georges Perec siehe Ein Kunstkabinett.
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Das Museum Wormianum des Ole Worm, 17. Jahrhundert

Die Wunderkammern oder Kunstkammern der Spätrenaissance und des Barock gingen aus den früheren Raritäten- oder Kuriositätenkabinetten (Panoptika) hervor und bezeichnen ein Sammlungskonzept aus der Frühphase der Museumsgeschichte, das Objekte in ihrer unterschiedlichen Herkunft und Bestimmung gemeinsam präsentierte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Kunst- und Wunderkammern von den heute üblichen, spezialisierten Museen, besonders den Naturkundesammlungen mit ihrem wissenschaftlichen Anspruch abgelöst. Der Terminus technicus Kunst- und Wunderkammer, in der Zimmerischen Chronik (1564–66)<ref>Graf Froben Christoph von Zimmern: Zimmerische Chronik (Manuskript, entstanden 1564–66)</ref> zuerst nachgewiesen, hat sich durch Julius von Schlossers Werk Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance (Leipzig 1908) eingebürgert und ist auch im Englischen gebräuchlich. Neben den universellen Kunst- und Wunderkammern bestehen auch reine Kunstsammlungen oder reine Naturalienkabinette.

Entstehung

Seit dem 14. Jahrhundert entstanden in Europa repräsentative Sammlungen von Fürsten und vermögenden Bürgern, die nicht Naturalien von Artefakten oder Kunst von Handwerk trennten. Darin fanden sich so unterschiedliche Objekte wie Silber- und Goldschmiedearbeiten unter Verwendung von Korallen, Perlen und Bergkristallen, Tierpräparate, große Muscheln, Nautiluspokale, gefasste Straußeneier, Narwalzähne als Hörner des Einhorns, Elfenbeinschnitzereien, Literatur über Alchimie, mathematisch-physikalische oder chirurgische Instrumente, optische und Spiegeleffekte (→ spätere Spiegel- und Lachkabinette), sogenannte Kunstuhren oder Spielautomaten, Astrolabien, Erd- und Himmelsgloben, seltene Gläser, ostasiatisches Porzellan, Kleinigkeitsarbeiten wie etwa beschnitzte Kirschkerne oder Miniaturkunstdrechseleien.

Im Zentrum des Interesses stand eine Faszination für Raritäten und Kuriositäten, die teilweise aus mittelalterlicher Folklore, humanistischer Wiederbelebung der antiken Sagenwelt und technisch-wissenschaftlichen Neuerungen herrührte. Im Zusammenhang damit wird auch von einem Zeitalter des Staunens gesprochen. Eine parallele Entwicklung zeigte sich zugleich auch in den Kuriosaanthologien von Autoren wie Athanasius Kircher und Erasmus Finx.

Der für diese Sammlungen benutzte Begriff Kunst- und Wunderkammer bezieht sich sowohl auf das Wunderliche des Betrachteten als auch die Verwunderung des Betrachters, weniger auf das „Wundersame“, d. h. das „Überirdische“. Der entscheidende Anstoß für die Sammlungen waren die Entdeckungsfahrten des 15.–17. Jahrhunderts, insbesondere die epochale Begegnung mit der radikalen Andersartigkeit Amerikas. Die (Welt-)Kugel wurde zur Chiffre für diese Sammlungen; der Sammler und Museologe Johann Daniel Major strebte nach der „Erkäntnüß des Apfel-runden Kreises der gantzen Welt“.

Sammlungscharakter

Die Sammlungen bezweckten, den universalen Zusammenhang aller Dinge darzustellen, mit dem Ziel, eine Weltanschauung zu vermitteln, in der Geschichte, Kunst, Natur und Wissenschaft zu einer Einheit verschmolzen. Im Gegensatz zur Scholastik des Hoch- und Spätmittelalters, die alle Wissensgebiete von einem abstrakten Standpunkt aus erfasst hatte, bedeutete die Wunderkammer Erkenntnis aus vielfältiger Betrachtung und damit die Abkehr von der auf Aristoteles sich berufenden spekulativen Methode.<ref>Galileo Galilei äußerte sich: „In den Naturwissenschaften, deren Folgerungen wahr und notwendig sind, können Man sieht hier alles bis zu Kästchen, Trompeten und Messern aus China, Pfeile und Bögen der Tataren und tausend andere kleine staunenswerte Dinge, die aus den entferntesten Ländern stammen.

Wir bemerkten hier unter anderem ein kleines Holzstück oder eine extrem dünne Schale, auf der einige Buchstaben in der Schrift der Christen aus Kerala geschrieben sind – sie würden ihre Mühe damit haben. Es gibt Büsten der größten Meister, antike Statuen, Steine mit Inschriften, jede Art von mathematischem Instrument, gedrechselte Stücke, die, wie man sieht, schönsten Muschelschalen, wertvolle Steine von allen Sorten, zahllose Alabasterarbeiten, mehrere dieser Pfeffervögel, deren Schnabel gleich groß ist wie der Körper, einige dieser irischen Trauerenten, die aus einer ins Meer gefallenen Frucht wachsen, wenn man den Erzählungen glaubt, und mehrere Paradiesvögel: Aber wir haben bemerkt, dass sie Füße haben und die Tierpräparatoren uns einen Streich spielen.

Literatur

  • Gabriele Beßler: Wunderkammern – Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart. 2., leicht veränderte Auflage. Reimer, Berlin 2012, ISBN 978-3-496-01450-8.
  • E. Bergvelt, R. Kistemaker: De wereld binnen handbereik. Nederlandse kunst- en rariteitenverzamlingen, 1585–1735. 2 Bde., Amsterdams Historisch Museum, Amsterdam 1992.
  • Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. (= Wagenbachs Taschenbuch; Bd. 361). Wagenbach, Berlin 2000, ISBN 3-8031-2361-5.
  • Horst Bredekamp: Theater der Natur und Kunst: Wunderkammern des Wissens; eine Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin; 10. Dezember 2000 bis 4. März 2001, Martin-Gropius-Bau. Berlin 2000.
  • Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-8218-1633-3.
  • Andreas Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Opladen 1994, ISBN 3-8100-1048-0.
  • Remigius Faesch, André Salvisberg: Das Museum Faesch – Eine Basler Kunst- und Raritätensammlung aus dem 17. Jahrhundert. Basel 2005, ISBN 3-85616-229-1.
  • Historisches Museum Basel (Hrsg.): Die Grosse Kunstkammer. Bürgerliche Sammlungen und Sammler in Basel. Basel 2011.
  • Oliver Impey, Arthur MacGregor (Hrsg.): The Origins of Museums. Clarendon Press, Oxford 1985.
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hrsg.): Wunderkammer des Abendlands. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit. Bonn 1995.
  • Johann Daniel Major: Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins gemein. Reuman, Kiel ca. 1674 (Digitalisat)
  • Klaus Minges: Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung. (= Reihe Museen – Geschichte und Gegenwart; Bd. 3). Lit, Münster 1998, ISBN 3-8258-3607-X.
  • Thomas Jakob Müller-Bahlke: Die Wunderkammer. Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale). 1998, ISBN 3-930195-39-9.
  • Dieter Pfister: Die Kunst- und Wunderkammer in Praxis und Theorie. Aspekte des manieristischen Universalsammlungswesens, Basel 1982.
  • Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. (Wagenbachs Taschenbuch; Bd. 302), Berlin 1998, ISBN 3-8031-2302-X.* Claudia Rütsche: Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche: öffentliche Sammeltätigkeit einer gelehrten Bürgerschaft im 17. und 18. Jahrhundert aus museumsgeschichtlicher Sicht. Bern 1997.
  • Helmar Schramm u. a. (Hrsg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Berlin/New York 2003, ISBN 3-11-017737-4.
  • Steffen Siegel: Die 'gantz accurate' Kunstkammer. Visuelle Konstruktion und Normierung eines Repräsentationsraums in der Frühen Neuzeit. In: Horst Bredekamp, Pablo Schneider (Hrsg.): Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, ISBN 3-7705-4113-8, S. 157–182.

Weblinks

Commons Commons: Wunderkammer – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

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