al-Chidr
al-Chidr (arabisch الخضر, DMG al-Ḫiḍr, als Vokalisationen sind auch al-Ḫaḍir und al-Ḫaḍr zulässig) ist eine stark verehrte und vieldiskutierte Gestalt im Islam. Man kann al-Chidr als fiktive Figur bezeichnen, allerdings wird man damit den Vorstellungen, die allgemein mit ihm verbunden sind, nicht gerecht, denn es war und ist noch heute ein verbreiteter Glaube, dass al-Chidr wirklich existiert und lebt.
Verschiedene Formen von Chidr-Verehrung finden sich in fast allen Ländern der islamischen Welt. Der Name der Gestalt wird dabei sehr unterschiedlich ausgesprochen. Bedingt dadurch sowie aufgrund der Verwendung unterschiedlicher Transkriptionssysteme bei der Wiedergabe dieser Sprachen mit lateinischen Buchstaben, sind zahlreiche Schreibvarianten im Umlauf: Hızır (Türkisch), Khijir (bengalisch), Kilir (javanisch), Hilir (tamilisch), Khidr, Chidher, Chidhr, El Khoudher, Khodr, al-Jidr, Xezr, Khizar, Chiser, Kyzyr usw. Im Englischen wird die Schreibform Khidr favorisiert, die weltweit mittlerweile auch am meisten verbreitet ist.
Die eigentliche Identität Chidrs ist ein äußerst kompliziertes Problem. Durch verschiedene Erzählstoffe, zu denen Chidr in Verbindung gebracht wurde, bestehen Bezüge zu den alttestamentlichen Gestalten Melchisedek, Jeremia, Elija und Elischa. Daneben überschneidet sich im östlichen Mittelmeerbereich die islamische Chidr-Verehrung mit der christlichen Verehrung des Heiligen Georg, und in Iran setzen die Anhänger des Zoroastrismus Chidr mit ihrer Gottheit Sorush gleich.
Auch die muslimischen Gelehrten haben die Frage der Identität Chidrs ausgiebig diskutiert. Während Al-Ḫiḍr, das auf Arabisch „der Grüne“ bedeutet, immer nur als ein laqab-Beiname verstanden wurde, gab und gibt es über den wirklichen Namen Chidrs und seine Abstammung sehr unterschiedliche Lehrmeinungen. Der ägyptische Gelehrte Ibn Ḥadschar al-ʿAsqalānī (gest. 1449), der eine eigene Abhandlung über Chidr verfasst hat, führt dort insgesamt zehn unterschiedliche Auffassungen zu dieser Frage auf.<ref>Vgl. az-Zahr an-nadir, S. 19–21.</ref> Immerhin existiert aber eine diesbezügliche Lehrmeinung, die im Laufe der Zeit relativ große Verbreitung gefunden hat. Danach ist Chidr über seinen Vater Malkān ein Urenkel des biblischen Eber, und sein eigentlicher Name ist Balyā.
Gingen die Meinungen über Chidrs eigentlichen Namen auseinander, so besteht doch über seinen kunya-Beinamen weitgehende Einigkeit. Seit dem 10. Jahrhundert wird er fast durchgängig mit Abū l-ʿAbbās angegeben.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Die Vorstellung von der „Begegnung mit Chidr“
- 2 Erklärungen für Chidrs Fortleben
- 3 Die koranische Erzählung von Mose und dem Gottesknecht
- 4 Chidr in der traditionellen islamischen Kosmologie
- 5 Das Verhältnis zwischen Chidr und Elias
- 6 Chidr als Symbol der religiösen Autorisierung
- 7 Sufische Deutungen der Chidr-Gestalt
- 8 Innerislamische Kritik an der Chidr-Frömmigkeit
- 9 Chidr in der westlichen Literatur
- 10 Literatur
- 11 Weblinks
- 12 Einzelnachweise
Die Vorstellung von der „Begegnung mit Chidr“
Chidrs allgemeine Unsichtbarkeit und seine Erscheinungen
Grundlegend für die islamische Chidr-Frömmigkeit ist die Vorstellung von Chidrs verborgener Anwesenheit unter den Menschen. Ein oft zitierter Ausspruch des berühmten schafiitischen Rechtsgelehrten an-Nawawī (gest. 1277) lautet: „Er (d.h. al-Chidr) ist am Leben und weilt unter uns“.<ref>Vgl. Tahḏīb al-Asmāʾ wa-l-luġāt. Ed. F. Wüstenfeld. Göttingen 1842, S. 229.</ref> Es soll allein ausreichen, seinen Namen auszusprechen, damit Chidr sich einstellt. Da Chidr gegenwärtig ist, sobald man ihn erwähnt, soll man ihn in diesem Fall auch gleich grüßen. Von ʿAlī ar-Riḍā (gest. 818) wird die Aussage überliefert: „(Chidr) ist dort anwesend, wo er erwähnt wird. Wer von euch ihn erwähnt, möge den Heilsgruß über ihn sprechen.“<ref>Biḥār al-Anwār al-ǧāmiʿa li-durar aḫbār al-aʾimma al-aṭhār. 110 Bde. Teheran 1956-72. Bd. XIII, S. 299.</ref>
Zwar ist Chidr eigentlich den Blicken der Menschen entzogen, doch wird er gelegentlich für Menschen, die Gott besonders nahestehen, auf mysteriöse Weise sichtbar. Anhand einer historischen Überlieferung, die im Zusammenhang mit der Schlacht von Qādisiyya steht, lässt sich diese Vorstellung bis in die Frühzeit des Islams zurückverfolgen. Als sich in der dritten Nacht dieser Schlacht, als die Kämpfe besonders intensiv waren, ein geheimnisvoller Reiter unter die muslimischen Kämpfer mischte und sie gegen die feindlichen Heere unterstützte, wurde er von den Muslimen für Chidr gehalten.<ref>Aṭ-Ṭabarī: Tārīḫ. Engl. Übers. Y. Friedman XII, S. 104 f.</ref>
Berichte über solche Chidr-Erscheinungen finden sich in zahlreichen Werken der traditionellen arabischen, persischen, türkischen und malaiischen Literatur.<ref>Eine Zusammenstellung von derartigen Berichten liefert Franke 2000, S. 381–521.</ref> Chidr tritt hierbei durchgehend als eine heil- und glückbringende Gestalt auf. Er rettet Menschen aus der Not, betätigt sich als Wunderheiler, befreit Menschen aus der Gefangenschaft und tröstet Trauernde. Kennzeichnend für Chidrs Auftritte in diesen Berichten ist, dass sie als echte Apparitionen in der materiellen Welt beschrieben werden, im Traum erscheint Chidr dagegen eher selten.
Berichte von Chidr-Begegnungen in der Literatur
Die Begegnung mit Chidr wurde immer als eine göttliche Auszeichnung verstanden. In der Sufik gilt sie als ein Beweis dafür, dass die Person, die mit Chidr zusammengetroffen ist, zu den Gottesfreunden gehört.<ref>Vgl. al-Ḥakīm at-Tirmiḏī: „Sīrat al-Awliyāʾ“. Ed. in B. Radtke: Drei Schriften des Theosophen von Tirmid. 2 Bde. Beirut-Stuttgart 1992-96. Bd. I, S. 57.</ref> Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass Berichte von Chidr-Begegnungen mit Chidr zu einem fast unabdingbaren Element in islamischen hagiographischen Texten geworden sind.
Die meisten Berichte über Begegnungen mit Chidr sind erst nach mehr oder weniger langer mündlicher Tradition schriftlich fixiert worden. Es gibt aber einzelne sufische Autoren, die in ihren Werken von selbst erlebten Chidr-Begegnungen berichten. Den Anfang machte der Andalusier Muḥyī d-Dīn Ibn ʿArabī (gest. 1240), der in seiner umfangreichen sufischen Enzyklopädie al-Futūḥāt al-Makkiyya erzählt, wie er auf seiner Wanderschaft Chidr dreimal begegnete: das erste Mal in Sevilla, dann im Hafen von Tunis und schließlich in einer halbzerstörten Moschee an der Atlantikküste, wobei es bei jedem Mal zu einer wichtigen Weichenstellung für sein weiteres Leben kam.<ref>Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-Makkiyya. Ed. O. Yahya. Bisher 16 Bde. Kairo 1972ff. Bd. III, S. 180–87.</ref>
Fast alle Berichte über Chidr-Begegnungen schließen bestimmte Grundelemente ein. Dazu gehören die Beschreibung von Chidrs mysteriösem Auftauchen und Entschwinden, die Begrüßung des Sehers durch Chidr sowie die Entpuppungszene, innerhalb derer sich die Person, die dem Seher zunächst als Fremder begegnet, als Chidr herausstellt. In späterer Zeit treten häufig noch verschiedene symbolische Handlungen hinzu, die den initiatorischen Charakter der Begegnung mit Chidr unterstreichen. Dazu gehören Umarmungen, Händeschütteln mit Chidr oder die Verleihung des sufischen Flickenrocks (chirqa) durch ihn.<ref>Vgl. dazu Franke 2000, S. 15–23 und S. 243–250.</ref>
Chidrs Kennzeichen
An die Vorstellung, dass Chidr als Fremder unvermittelt in Erscheinung treten kann, knüpft sich in der islamischen Tradition eine Reihe von weiteren Vorstellungen, so zum Beispiel diejenige von der beliebigen Wandelbarkeit seiner Gestalt. Für diejenigen, die nach einem Zusammentreffen mit Chidr streben, ergibt sich somit die Frage, woran sie Chidr erkennen können. Ab dem späten Mittelalter hat sich als eine Antwort auf diese Frage die Vorstellung entwickelt, dass Chidr bestimmte körperliche Merkmale besitzt, an denen er sich zweifellos identifizieren lässt (z. B. gleiche Länge von Zeigefinger und Mittelfinger, knochenloser Daumen, quecksilberartige Pupillen).<ref>Vgl. dazu al-Ālūsī: Rūḥ al-Maʿānī ad 18:65.</ref>
Erklärungen für Chidrs Fortleben
In den Berichten über sein Auftreten erscheint Chidr als eine diffuse Gestalt, die gleich einem Engel durch den Raum schweben kann. Doch ist nach allgemeiner Ansicht Chidr kein Engel, sondern ein Mensch aus früheren Zeiten, der am Leben geblieben ist. Der Koranexeget aṯ-Ṯaʿlabī (gest. 1036) bezeichnete ihn in einer vielzitierten Aussage als „Propheten, dem das Leben verlängert wurde“ (nabī muʿammar).<ref>Vgl. sein Qiṣaṣ-al-anbiyāʾ-Werk ʿArāʾis al-maǧālis. Beirut o.J. S. 198. - Dt. Übers. H. Busse. S. 288.</ref>
Als Erklärung für al-Chidrs Fortleben werden in der islamischen Traditionsliteratur verschiedene ätiologische Legenden angeführt, von denen die Lebensquellsage die bekannteste ist. Nach dieser Sage begab sich der bereits im Koran erwähnte Zweigehörnte (Ḏū l-Qarnayn) einst auf die Suche nach der Unsterblichkeit spendenden Lebensquelle, wobei al-Chidr sein Begleiter war. Während der Zweigehörnte auf dieser Expedition sein Ziel verfehlte, erkannte Chidr die Lebensquelle daran, dass ein toter Fisch, den er in dieser Quelle wusch, lebendig wurde. Er nahm daraufhin selbst ein Bad in dieser Quelle, trank von ihrem Wasser und wurde unsterblich. Wie Israel Friedländer in seiner Studie zur Lebensquellsage gezeigt hat, handelt es sich hierbei um einen spätantiken Erzählstoff, der bereits in verschiedenen orientalischen Versionen des Alexanderromans begegnet. Während in den spätantiken Versionen der Lebensquellsage Alexanders Koch Andreas Unsterblichkeit erlangt, wird diese Rolle in den islamischen Versionen des Erzählstoffs auf Chidr übertragen.
Nach einer anderen Überlieferung, die sich schon bei dem arabischen Philologen Abū Ḥātim as-Siǧistānī (gest. 869) findet<ref>Vgl. sein Kitāb al-Muʿammarīn. Ed. I. Goldziher in Ders.: Abhandlungen zur arabischen Philologie. Leiden 1899, S. 1.</ref> und bis heute von muslimischen Gelehrten weitertradiert wird, wurde al-Chidr deshalb das Leben verlängert, weil er nach der Sintflut den von Noah mitgeführten Leichnam Adams beerdigte. Bei dieser Überlieferung handelt es sich um eine islamische Adaptation der Melchisedech-Legende aus der syrisch-aramäischen Schatzhöhle.
Schließlich gibt es noch eine dritte ätiologische Legende für die Langlebigkeit al-Chidrs, die ihn zum israelitischen Propheten Jeremia in Bezug setzt. Eine ausführliche Version dieser Erzählung findet sich bereits in der Weltchronik von aṭ-Ṭabarī und wird dort auf die Autorität des Traditionariers Wahb ibn Munabbih (gest. 732) zurückgeführt.<ref>Tārīḫ ar-rusul wa-l-mulūk. Ed. M. Abū l-Faḍl Ibrāhīm. Kairo 1962ff. Bd. I, S. 547–554. - Engl. Übersetzung (Moshe Perlmann), Bd. IV, S. 55–62.</ref> Nach dieser Legende wurde Chidr-Jeremia schon vor seiner Geburt von Gott zum Propheten berufen; nach der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar flüchtete er zu den wilden Tieren in die Wüste, wo ihm Gott das Leben über die gewöhnliche Lebenszeit hinaus verlängerte. Auch diese Legende, in der Chidr als Weltflüchtiger erscheint, liegt in verschiedenen voneinander abweichenden Versionen vor.
Die koranische Erzählung von Mose und dem Gottesknecht
Grundlegend für das Chidr-Bild in der islamischen gelehrten Tradition ist seine Identifikation mit dem Gottesknecht, der in Sure 18:65 erwähnt wird: „Da fanden sie einen von Unseren Knechten, dem Wir Gnade von Uns verliehen und von Uns Wissen gelehrt hatten“. Sie bringt Chidr mit der Erzählung von Mose, seinem Diener und dem Gottesknecht (18:60-82) in Verbindung, die einen der großen narrativen Abschnitte von Sure 18, der sogenannten Höhlensure, darstellt. In dieser Erzählung wird berichtet, wie sich Mose mit seinem Diener auf eine Reise begibt, um nach der „Verbindung der beiden Meere“ (maǧmaʿ al-baḥrayn) suchen. Den gesuchten Ort erkennt er daran, dass ihnen ein als Proviant mitgenommener Fisch ins Meer entwischt. An der betreffenden Stelle finden sie den genannten Gottesknecht, den Mose auf eigenen Wunsch hin begleitet. Unterwegs begeht der namenlose Gottesknecht nacheinander drei scheinbar absurde Handlungen (er durchlöchert ein Schiff, bringt einen kleinen Jungen um und setzt in einer Stadt, in der die beiden abgewiesen werden, eine Mauer instand), die Mose jeweils hinterfragt. Er bekommt zum Schluss von dem Gottesknecht die Erklärungen zu den drei Handlungen, muss al-Chidr danach aber verlassen.
Diese Drei-Quellen-Theorie, die durch unhinterfragtes Abschreiben heute weltweit verbreitet ist, lässt sich allerdings nicht aufrechterhalten. Zwar kann man, wenn man davon ausgeht, dass vorislamische Erzählstoffe Eingang in den Koran gefunden haben, aus den Ähnlichkeiten der genannten Passagen des Gilgamesch-Epos und des Alexanderromans ableiten, dass sie als Vorlagen des ersten Teils der Erzählung (18:60-64) gedient haben. Gegen eine Abhängigkeit des zweiten Teils der Erzählung (18:65-82) von der jüdischen Legende über Rabbi Joshua ben Levi spricht jedoch, dass der älteste Beleg für diese Legende, die Version von Rabbi Nissim b. Jacob aus Qayrawan (ca. 990-1062), erheblich jünger ist als die koranische Erzählung.<ref>Vgl. dazu auch den Artikel von Wheeler.</ref> Für den zweiten Teil der koranischen Erzählung (18:65-82) ist mithin noch kein vorislamischer Paralleltext bekannt.
Grundlage für die Identifikation al-Chidrs mit dem im Koran genannten Gottesknecht sind allgemein anerkannte Hadithe, die diese Erzählung kommentieren. Sie sind unter anderem in den beiden großen Traditionssammlungen von al-Buchārī (gest. 870) und Muslim ibn al-Ḥaddschādsch (gest. 873) verzeichnet und werden dort über den kufischen Traditionarier Saʿīd ibn Dschubair (gest. 714) auf den Propheten zurückgeführt.
Aufgrund der Identifikation mit dem koranischen Gottesknecht gilt Chidr in der islamischen Tradition als Inhaber eines besonderen, göttlichen Wissens, das auch ladunisches Wissen (ʿilm ladunī) genannt wird. Dieser Begriff geht auf die Beschreibung des Gottesknechtes in Vers 65 zurück, wo es heißt: wa-ʿallamnā-hu min ladun-nā ʿilman (wörtl. „und den Wir von bei uns Wissen gelehrt haben“). In einigen Berichten von Begegnungen mit ihm wird erzählt, wie Chidr Menschen solches ladunisches Wissen vermittelt.
Chidr in der traditionellen islamischen Kosmologie
Chidr als Symbol für die zyklische Erneuerung der Vegetation
Für Chidrs Namen „der Grüne“ werden von den muslimischen Gelehrten unterschiedliche Erklärungen angeführt, so etwa dass Chidr bei seinen Begegnungen mit den Menschen üblicherweise grüne Kleidung trage.<ref>Vgl. z. B. al-Qari: al-Hadar 79.</ref> Am meisten Autorität besitzt jedoch diejenige Erklärung, die über Abū Huraira auf den Propheten Muḥammad zurückgeführt und in fast allen wichtigen Hadith-Werken überliefert wird. Sie besagt, dass Chidr nur deswegen so genannt worden sei, weil er sich auf eine weiße farwa gesetzt habe, woraufhin diese unter ihm in Bewegung geraten und ergrünt sei (fa-iḏā hiya tahtazzu min ḫalfi-hī ḫaḍrāʾ).<ref>Vgl. z. B. Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, K. al-Anbiyāʾ, Bāb Ḥadīṯ al-Ḫaḍir maʿa Mūsā.</ref>
Eine praktische-rituelle Umsetzung des traditionellen islamischen Glaubens an die wiederbelebende, frühlingseinleitende Wirkung Chidrs sind die verschiedenen in Anatolien und Iran im Frühjahr gefeierten Chidr-Feste. Im türkischen Volkskalender gilt der Chidr-Tag (Rūz-i Hızır) am 6. Mai, der dem 23. April des alten julianischen Kalenders entspricht, als Anfang der Sommerzeit, die sich von diesem Tag bis zum 6. November, dem sogenannten Qāsim-Tag, erstreckt. Die Unterteilung des Jahres mit Hilfe dieser beiden Daten, Chidr- und Qāsim-Tag, die sich anhand von osmanischen Archivquellen weit zurückverfolgen lässt, geht auf einen alten, in verschiedenen Kulturen nachweisbaren Volkskalender zurück, der sich nach dem heliakischen Auf- bzw. Untergang der Plejaden richtet.
In verschiedenen Gebieten des iranischen Kulturraums steht Chidr zum sogenannten Čilla-Zyklus, der im Volkskalender die Zeit von der Wintersonnenwende bis zum Frühlingsbeginn strukturiert, in Verbindung. Einzelne oder mehrere Tage innerhalb dieses Zyklus werden dem Chidr gewidmet und sind nach ihm benannt. Der Grund dafür ist die Vorstellung, dass er zu dieser Zeit die Häuser der Menschen besucht, was auch Anlass zu bestimmten Riten gibt. So wird ihm in vielen Gegenden in einem separaten Raum des Hauses eine besondere Mahlzeit bereitet, die Chidr bei seinem nächtlichen Besuch durch Berührung segnen soll. In einigen Gebieten heißt diese mehlartige Substanz, die nach der vorgestellten Berührung durch Chidr im Familienkreis feierlich verspeist wird, qāwut.<ref>Vgl. den Aufsatz von Krasnowolska.</ref>
Chidr als Herr über Meere und Flüsse
In ähnlicher Weise wie zur Vegetation steht Chidr in vielen Gebieten der islamischen Welt auch zu Meeren und Flüssen in Beziehung. Eine auf den südarabischen Legendenerzähler Kaʿb al-Ahbār (gest. 652-3) zurückgeführte Tradition beschreibt ihn als einen Herrn der Meerestiere. Sie lautet: „Chidr steht auf einer Kanzel aus Licht zwischen dem oberen und dem unteren Meer. Die Tiere sind angewiesen, ihm zuzuhören und zu gehorchen und ihm morgens und abends die Geister (arwāḥ) vorzuführen.“<ref>Vgl. Ibn Ḥaǧar Zahr 29.</ref> Der Gedanke, dass sich Chidr zwischen dem oberen und unteren Meer aufhält, ist sicherlich durch die im Koran erwähnten „Verbindung der beiden Meere“ (maǧmaʿ al-baḥrayn) angeregt, an dem Mose den mit Chidr identifizierten Gottesknecht getroffen haben soll.
„Es ist eine große Insel im Ozean. Es wird erzählt, dass Leute an einer Insel in diesem Meer vorüberkamen, während die See hochging und stürmte. Da sahen sie plötzlich einen alten Mann mit weißem Haupt- und Barthaar, der grüne Kleider trug und über dem Wasser schwebte. Er sagte: „Gepriesen sei, Der die Dinge ins Werk gesetzt hat, weiß, was in den Herzen ist, und mit Seiner Macht die Meere zügelt. Fahrt zwischen Ost und West, bis ihr zu Bergen gelangt. Haltet auf die Mitte zu, so werdet ihr durch die Macht Gottes gerettet werden und unversehrt bleiben“. Sie richteten sich nach dem Azimut aus, den er ihnen genannt hatte, Dem stehe nicht entgegen, dass derjenige, über den überliefert wird, dass er der Chidr ist , Moses Zeitgenosse war, denn dieser sei der Chidr jener Zeit gewesen.“<ref>Al-Iṣāba fī tamyīz aṣ-ṣaḥāba. 4 Bde. Kairo 1328h. Bd. I., S. 433.</ref>
Visionäre Reisen an der Seite Chidrs
Während in den meisten Begegnungsberichten das Auftreten Chidrs als Apparition beschrieben wird, bei der dem Seher das gewöhnliche Tagesbewusstsein und die normale Perzeption des Umraums erhalten bleiben, gibt es im sufischen Milieu ab dem 15. Jahrhundert auch Berichte über Chidr-Visionen. Visionen unterscheiden sich von Apparitionen dadurch, dass sich hier die Seele durch übernatürliches Wirken in andere Räume versetzt sieht.
Bemerkenswert ist, dass die Berichte über Chidr-Visionen aus höchst unterschiedlichen Regionen der islamischen Welt stammen. Das erste Beispiel findet sich in dem Werk Al-Insān al-Kāmil („Der vollkommene Mensch“) von ʿAbd al-Karīm al-Dschīlī (gest. 1428), einem Sufi, der in Südarabien lebte. Dort wird beschrieben, wie ein Fremder namens Rūḥ („Geist“) eine ferne Region nahe dem Nordpol besucht, die von den „Männern der Verborgenheit“ (ridschāl al-ghaib) und ihrem König Chidr bewohnt wird. Der Boden dieser Region besteht aus weißem Mehl, ihr Himmel aus grünem Smaragd. Chidr erläutert dem Fremden bei einem Gespräch, dass nur „der vollkommene Mensch“ in diese Welt eintreten könne, und erklärt ihm auch die verschiedenen Klassen der „Männer der Verborgenheit“, die über die größte Gotteserkenntnis verfügen und ihn als unumschränkten Herrscher anerkennen.
Die Vorstellung einer übernatürlichen Entrückung durch Chidr findet sich erstmals in dem türkischen Diwan des Zayniyya-Scheichs Meḥmed Tschelebi Sultan (gest. 1494) aus der anatolischen Stadt Eğirdir. Der Text ist auch als Hızır-nāme (Chidr-Buch) bekannt. Der Dichter beschreibt darin, wie er an der Seite alle bekannten Gefilde der oberen und unteren Welt bereist. Er durchwandert die sieben Himmel, macht die Bekanntschaft mit den Engeln und den Geistern der Propheten, steigt zum göttlichen Thron auf und besichtigt das Paradies. Weitere Reisen führen ihn zum Berg Qāf, zum Wall von Gog und Magog und natürlich zur Lebensquelle. Schließlich reist der Dichter mit Chidr in die „Welt der Urbilder“ und sieht den Strahl der „Raumlosigkeit“ aus dem Gott die Geschöpfe ins Leben ruft.<ref>Vgl. Franke 2000, S. 225–230.</ref>
Eine undatierte javanische Handschrift erzählt, wie der berühmte javanische walī Sunan Kali Jaga (15. Jh.), der Chidr angeblich in Mekka traf, durch dessen linkes Ohr in seine Gedärme einstieg und mit ihm eine Reise durch den Kosmos machte.<ref>Vgl. Theodore Pigeaud: Literature of Java. Catalogue Raisonné of Javanese Manuscripts in the Library of Leiden. 4 Bde. Den Haag 1967-1980. Bd. II, S. 392.</ref> Im 16. Jahrhundert beschreibt der ägyptische Sufi ʿAbd al-Wahhāb asch-Schaʿrānī (gest. 1565), wie er mit Chidr in die Verborgenheit (ghaib) reiste und dort die „Quelle der reinen Scharia“ sah.<ref>Vgl. seinen Traktat al-Mīzān al-Ḫiḍriyya, ausgewertet bei Franke 2000, S. 300–302.</ref>
Visionäre Reisen an der Seite Chidrs kommen allerdings auch außerhalb der Sufik vor. So wurde zum Beispiel über Sulaimān Murschid (hingerichtet 1946), den Gründer einer eigenen religiösen Bewegung bei den syrischen Alawiten, erzählt, dass Chidr ihm erschienen sei und ihn bei einer visionären Himmelsreise zum Propheten berufen habe.<ref>Vgl. Franke 2000, 259-264</ref>
Innerislamische Kritik an der Chidr-Frömmigkeit
Die verschiedenen Formen der Chidr-Verehrung sind nicht von allen muslimischen Gelehrten widerspruchslos hingenommen worden. Ab dem 10. Jahrhundert versuchten verschiedene Gelehrte, die Unvereinbarkeit des Chidr-Glaubens mit den Grundlagen des islamischen Glaubens aufzuzeigen. Getragen wurde diese Abwehrbewegung zunächst vor allem von Vertretern der zahiritischen und hanbalitischen Rechtsschule. Später formulierten aber auch Gelehrte der schafiitischen Rechtsschule Kritik an der Chidr-Frömmigkeit. Andere Gelehrte wiederum verteidigten den Chidr-Glauben, so dass eine umfassende Debatte in Gang kam, die über Jahrhunderte andauerte und auch heute noch nicht völlig beendet ist. Im Rahmen dieser Debatte wurden auch zahlreiche arabische Traktate über Chidr abgefasst.<ref>Vgl. dazu Franke 2000, S. 306–369.</ref>
Die Kritik an der Chidr-Verehrung betraf vor allem die beiden folgenden Punkte:
Chidr - nicht nur Gottesfreund, sondern auch Prophet
Zum einen wandte man sich gegen die von vielen Sufis vertretene Auffassung, dass Chidr kein Prophet sei, sondern lediglich Gottesfreund. Der Punkt war deshalb von großer Relevanz, weil der mit Chidr identifizierte Gottesknecht der koranischen Erzählung mit seinen Taten (Zerstörung eines Schiffes, Tötung eines Knaben) nach allgemeiner Auffassung gesetzeswidrig gehandelt hatte, und verschiedene Sufis daraus ableiteten, dass auch ihnen als Gottesfreunden das Übertreten der Scharia gestattet sei. Rechtsgelehrte wie der Schafiit Ibn Kaṯīr (gest. 1373) versuchten, dieser antinomistischen Auslegung dadurch den Boden zu entziehen, dass sie Chidr als Propheten definierten und darauf hinwiesen, dass er als solcher, und nicht als Gottesfreund, seine Taten begangen habe.<ref>Vgl. dazu Franke 2000, S. 306–323.</ref>
Der Kampf gegen den Glauben an Chidrs Fortleben
Der zweite Punkt, der von den Gegnern der Chidr-Frömmigkeit bekämpft wurde, war der Glaube an Chidrs Fortleben. Zu den bekannten arabischen Gelehrten, die sich gegen diese Vorstellung gewandt haben, gehörten der andalusische Zahirit Ibn Hazm (gest. 1064) und der Bagdader Hanbalit Ibn al-Ǧawzī (gest. 1200). Letzterer hat zu dieser Frage auch eine eigene Abhandlung abgefasst, die allerdings nur durch Zitate in späteren Werken von Ibn Qayyim al-Ǧawziyya (gest. 1350) und Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (gest. 1449) erhalten ist. Als Argument gegen Chidrs Fortleben führte Ibn al-Ǧawzī unter anderem Koranvers 21:34 an, in dem es heißt: „Und keinem Menschen vor dir haben Ewigkeit verliehen. Wenn du nun stirbst, sollten sie dann ewig leben?“
Verteidigt wurde Chidrs Fortleben unter anderem von den beiden Schafiiten an-Nawawī (gest. 1277) und Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest. 1505) sowie dem mekkanischen Hanafit ʿAlī al-Qārī (gest 1606). Al-Qārī hat eine eigene Chidr-Abhandlung verfasst, in der er die Argumente Ibn al-Gawzis einzeln abhandelte und widerlegte.
Andere Gelehrte haben die Frage von Chidrs Fortleben bewusst offengelassen. So widmete zum Beispiel der Bagdader Gelehrte Šihāb ad-Dīn al-Ālūsī (gest. 1854) in seinem Korankommentar Rūḥ al-maʿānī innerhalb der Behandlung von Sure 18 Chidr einen sehr ausführlichen Abschnitt und erörterte darin auch die gesamten Lehrmeinungen zu seinem Fortleben, gab jedoch selbst kein Urteil dazu ab.
Chidr in der westlichen Literatur
Chidr hat auch Eingang in die abendländische Literatur gefunden. So enthält die Erzählsammlung Les mille et un jours von Pétis de la Croix (1653-1713) die Geschichte über einen Kaufmann, der dem Propheten Chidr im Paradies begegnet. Im deutschsprachigen Raum haben Goethes Verse, mit denen er seinen West-Östlichen Divan beginnt und zu einer „Hegira“ zu „Chisers Quell“ im „reinen Osten“ aufruft, sowie das Gedicht von Friedrich Rückert, das mit den Worten „Chidher, der ewig junge, sprach“ anhebt, die Figur erstmals einem weiteren Lesepublikum bekannt gemacht. Später hat Gustav Meyrink den alten Juden Chidher Grün zur Hauptgestalt seines 1916 veröffentlichten okkult-apokalyptischen Romans Das grüne Gesicht gemacht. Meyrink interpretiert hier Chidr im Sinne der kurz zuvor publizierten Studie von Karl Vollers als synkretistische Gestalt und setzt ihn nicht nur Elias in Beziehung, sondern auch zu Ahasver, zum kabbalistischen Lebensbaum, und zur Schlangengottheit des Voodoo-Kults, die die Kraft hat, Tote wiederzubeleben.
Eine herausragende Rolle spielt Chidr auch in dem modernen Science-Fiction-Roman Miracle Visitors von Ian Watson. Hier wird erzählt, wie ein britischer Psychologie-Professor, der mit veränderten Bewusstseinszuständen experimentiert, mit Chidr, der ihm als sein Alter Ego erscheint, zusammentrifft, infolge dieser Erfahrung sein Berufsleben aufgibt und sich schließlich selbst in Chidr verwandelt.
Literatur
- Arabische Traktate über Chidr
- Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī: az-Zahr an-naḍir fī nabaʾ al-Ḫaḍir. Ed. M. as-Sayyid Ibrāhīm, Kairo 1987.
- Nūḥ ibn Muṣṭafā ar-Rūmī: al-Qaul ad-dāll ʿalā ḥayāt al-Ḫiḍr wa-wuǧūd al-abdāl. Ms. Princeton 5510, fol. 1b-32b (Mach Nr. 2472).
- ʿAlī al-Qārī: al-Ḥaḏar fī amr al-Ḫiḍr. Damaskus 1991.
- Mā' al-ʿAinain al-Qalqamī: as-Saif wa l-mūsā ʿalā qaḍiyat al-H̱iḍr wa-Mūsā. Undatierter Steindruck Digitalisat der OMAR-Datenbank
- Sekundärliteratur
- A. Augustinović: „El-Khadr“ and the Prophet Elijah. Jerusalem 1972.
- Karl Dyroff: Wer ist Chadhir? In: Zeitschrift für Assyriologie. 7 (1892), S. 319–327.
- Lydia Einsler: Mār Eljās, el-Chaḍr und Mār Dschirjis. In: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins. 17 (1894), S. 42–55 und S. 65–74.
- Patrick Franke: Begegnung mit Khidr. Quellenstudien zum Imaginären im traditionellen Islam. Beirut/ Stuttgart 2000, ISBN 3-515-07823-1.
- Patrick Franke: Die arabische Jeremia-Erzählung und der Legendenkranz um Khidrs Weltflucht. In: Hallesche Beiträge zur Orientalistik. 29 (2000), S. 40–63.
- Patrick Franke: Khidr in Istanbul: Observations on the Symbolic Construction of Sacred Spaces in traditional Islam. In: Georg Stauth (Hrsg.): On Archaeology of Sainthood and Local Spirituality in Islam. Yearbook of the Sociology of Islam 5. Bielefeld 2004, S. 36–56.
- Patrick Franke: "Drinking from the Water of Life - Nizami, Khizr and the Symbolism of Poetical Inspiration in Later Persianate Literature" in J. Chr. Bürgel und Christine van Ruymbeke (Hg.): A Key to the Treasure of the Hakim. Artistic and Humanistic Aspects of Nizami Ganjavi's Khamsa. Leiden 2011. S. 107-125.
- Israel Friedländer: Die Chadirlegende und der Alexanderroman. Eine sagengeschichtliche und literarhistorische Untersuchung. Leipzig/ Berlin 1913.
- Anna Krasnowolska: The prophet Xezr-Elias in Iranian popular beliefs: with some Slavic parallels. In: Islam i Chrzescijanstwo, Materialy sympozjum Krakow, 12-14 IV 1994. Krakau, S. 159–176.
- R. Rachimov: "Das Bild des Heiligen Chizr in den Glaubensvorstellungen der Tadshiken" in Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden 48 (1994) 247-264.
- Charles Virolleaud: Khadir et Tervagant. In: Journal Asiatique. CXLI 2 (1953), S. 161–166.
- Karl Vollers: Chidher. In: Archiv für Religionswissenschaft. 12 (1909), S. 234–284.
- Brannon M. Wheeler: The Jewish origins of Qur'an 18:65-82? Reexamining Arent Jan Wensincks theory. In: Journal of the American Oriental Society. 118 (1998), S. 153–171.
Weblinks
Einzelnachweise
<references />