Auslegung (Recht)
Unter Auslegung, Exegese oder Interpretation versteht man in der Rechtswissenschaft die Ermittlung des Sinnes einer Rechtsnorm, eines Vertrages oder sonstiger Willenserklärungen.
Auslegung ist Gegenstand der Rechtstheorie. In dieser bezeichnet die juristische Hermeneutik die Kunst, Gesetze auszulegen und zu verstehen.<ref>Vgl. Martin Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, in: Studium Generale 7 (1954), S. 409–412; Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl., Tübingen 1972; Ernst Forsthoff, Recht und Sprache. Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Darmstadt, Nachdruck der Ausgabe von 1940.</ref> Die Juristische Methodenlehre bedeutet innerhalb der Rechtstheorie den gedanklichen Weg (griechisch méthodos), der zu juristischen Einsichten, insbesondere auch zu zutreffenden Auslegungen, führt.<ref>Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., vor § 1.</ref>
Inhaltsverzeichnis
- 1 Grundsätzliches
- 2 Geschichte
- 3 Auslegungsziel
- 4 Auslegungsmethoden
- 5 Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander
- 6 Auslegungsgegenstand
- 7 Ergänzende Auslegung und Rechtsfortbildung
- 8 Grenzen der Auslegung
- 9 Siehe auch
- 10 Literatur
- 11 Weblinks
- 12 Einzelnachweise
Grundsätzliches
Rechtsnormen sind abstrakt und bedürfen der Konkretisierung.<ref>Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl., Heidelberg 1968.</ref> Dies ist das Ziel der/einer Auslegung, als Teil einer Rechtsanwendung.
Der Begriff „Auslegung“ bedeutet für sich gesehen: „Auseinanderlegung“, „Ausbreitung“ und Darlegung des in einem Text beschlossenen, aber noch gleichsam verhüllten Sinnes. Der Begriff bezeichnet mithin eine „Tätigkeit“, einen „Vorgang“, durch den der Sinn eines Textes „deutlicher und genauer ausgesagt und mitteilbar gemacht“ wird.<ref>Vgl. Larenz, Methodenlehre, Kap. 4 „Die Auslegung des Gesetzes“.</ref> Ziel dieses Vorganges ist mithin eine konkrete Aussage, wie der Text zu verstehen ist.
In den Rechtswissenschaften wird der Begriff „Auslegung“ unterschiedlich verwendet:
- Zum einen als Bezeichnung für den Vorgang des Auslegens mit dem Ziel, eine Norm zu konkretisieren;
- ferner als Bezeichnung für das Ergebnis dieses Vorganges, d. h. die „im Wege der“ Auslegung gewonnene konkrete Deutung (Aussage, wie die Norm konkret zu verstehen ist).<ref>Vgl. z. B. Larenz, Methodenlehre, a.a.O.</ref>
- Der Begriff wird auch im Zusammenhang mit den (unterschiedlichen) Methoden der Auslegung verwendet (grammatische Auslegung, systematische Auslegung und so weiter).
- Außerdem wird mit dem Begriff Auslegung auch die sogenannte erste Stufe der Rechtsanwendung bezeichnet (Anwendung staatlich erlassener Rechtsvorschriften, d. h. positiv-gesetzlicher Vorschriften) in Abgrenzung zur sogenannten zweiten Stufe der Rechtsanwendung (Anwendung von richterrechtlich fortgebildetem bzw. neu geschaffenem Recht).<ref>Rüthers, Methodenlehre, Rn 698: „Rechtsanwendung ist im gewaltenteilenden Rechtsstaat zunächst die Auslegung der zur jeweiligen Streitfrage vorhandenen Gesetze</ref>
Wenn es um „die/eine Auslegung“ als „Teil einer Rechtsanwendung“ geht, ist damit in erster Linie, maßgeblich der Vorgang gemeint, der darauf abzielt, eine Gesetzesbestimmung zu konkretisieren, d. h. die konkrete Bedeutung abstrakter Gesetzesbegriffe zu bestimmen.
Ein Gesetz auszulegen heißt, die genaue Bedeutung der Gesetzesworte zu bestimmen. Die Bedeutung von Wörtern wird operational (z. B. durch Zählen) oder exemplarisch durch Hinweis („Deuten“) auf Erfahrungsgegebenheiten (z. B. dort am Waldrand steht ein Reh) eingeführt. Ist diese Assoziation hergestellt, ruft das Wort die Erfahrungsinhalte oder Sinngehalte, die es „bedeutet“ und „bezeichnet“ (für die es als Zeichen steht), in Erinnerung.<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., 2012, § 4 I.</ref> Der Bedeutungsumfang von Erfahrungsbegriffen wird in der Regel nicht exakt, sondern mit einem Bedeutungsspielraum eingeführt (vom wievielten Baum ab ist ein Baumbestand ein „Wald“?). Die Auswahl der passenden Wortbedeutung vollzieht sich nicht deduktiv, sondern argumentativ, sprich durch ein Erwägen von Gründen, die diese Auswahl, d. h. die Konkretisierung und Entwicklung des Rechts leiten (s. u. Ziff. 4 und 6.2).<ref>Zippelius, a.a.O., § 10.</ref>
Welchen Auslegungsargumenten man schließlich zu folgen habe, ist nicht immer eine Frage eindeutiger Erkenntnis.<ref>Anders Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977</ref> Vielmehr können unterschiedliche Auslegungen „vertretbar“ sein, unter anderem deshalb, weil bei der Gesetzesauslegung regelmäßig auch Gerechtigkeitserwägungen eine Rolle spielen, uns aber keine lückenlose und widerspruchsfreie Gerechtigkeitserkenntnis zugänglich ist, sondern nur lückenhafte Bestände unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellungen, die für jeweils unterschiedliche Mehrheiten konsensfähig sind. Wenn gleichwohl ein Gericht eine von mehreren vertretbaren Auslegungen als rechtsverbindlich seiner Entscheidung zugrunde legen kann, so hat das seine Rechtfertigung nicht in der „einzigen Richtigkeit“ dieser Auslegung, sondern darin, dass das Gericht für diesen Fall eine Letztentscheidungskompetenz hat, die um der Rechtssicherheit und der definitiven Streitentscheidung willen geboten ist.<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, §§ 9 II, 10 I, IV, VII; 16 III.</ref>
Die Rolle des Richters, sein (Vor-)Wissen und sein Vorverständnis von den Texten, ist daher neben der des Gesetzgebers für das Recht von großer Bedeutung. So kann es dadurch auch zu einem Hermeneutischen Zirkel kommen. Das Recht selbst enthält aber Regeln, um die Entscheidung des Richters zu objektivieren und den Anteil subjektiver Wertungen (Dezisionen) so gering wie möglich zu halten: So ist die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht gebunden“ (Art. 20 Abs. 3 GG). Bei der Auslegung von Gesetzen darf die Rechtsprechung daher ihre Kompetenzen nicht zu Lasten des Gesetzgebers überschreiten (Gewaltenteilung, vgl. auch die Grenzen der Auslegung). Dennoch ist ihre Kompetenz zur Rechtsfortbildung allgemein anerkannt.<ref>Vgl. BVerfGE 34, 269; BVerfGE 65, 182; BVerfGE 69, 188; BVerfGE 75, 223 243 f.; zu den Grenzen vgl. BVerfGE 69, 315 371 f.; BVerfGE 82, 6; eine Begrenzung auf „Gesetzes- und Rechtslücken“ fordert Bernd Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 ff.</ref>
Vor allem unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln bedürfen der Auslegung. Ihre Inhalte sind nach den Regeln der Auslegung anhand der konkreten Tatbestände festzustellen. Ein Gericht darf und muss – insbesondere bei der Überprüfung behördlichen Handelns – einen unbestimmten Rechtsbegriff selbst konkretisieren und darf – anders als bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen – der Verwaltung keinen Entscheidungsspielraum, sondern nur einen auf Willkür überprüfbaren Beurteilungsspielraum zubilligen.
Für die Auslegung erforderliche Normtatsachen muss das Gericht gegebenenfalls von Amts wegen ermitteln (§ 293 ZPO).
Geschichte
Aufklärung und Naturrecht
Die Forderung nach einem verständlichen Recht geht schon zurück in die Zeit der Aufklärung und des Naturrechts.<ref>Christian Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, Halle 1691: „Die Auslegung (interpretatio) ist hier nichts anders als eine deutliche und in wahrscheinlichen Mutmassungen gegründete Erklärung desjenigen, was ein anderer in seinen Schriften hat verstehen wollen und welches zu verstehen etwas schwer oder dunkel ist.“</ref> Der aufgeklärte Absolutismus wollte nur das Wort des Monarchen als Rechtsquelle zulassen. Der Spielraum für Auslegung der Gesetze (des Monarchen) durch die Rechtsprechung und die Wissenschaft wurde entsprechend reduziert.<ref>Vgl. zuvor bereits das Kommentier- und Interpretationsverbot in den Einführungskonstitutionen Justinians von 530/533 und die frühneuzeitlichen Nachahmungen, etwa die Vorrede zur Nürnberger Stadtrechtreformation von 1479/1484, oder die Ordonnance civile touchant la réformation de la justice von 1667, tit. I: De l’observation des Ordonnances.</ref> Die Rolle des Richters wurde – wenn auch in früh-rechtsstaatlicher Absicht – darauf reduziert, „der Mund“ des Gesetzes zu sein.<ref>Vgl. Montesquieu, De l’esprit des lois, 1748, XI, 6 „Mais les juges de la nation ne sont que la bouche qui prononce les paroles de la loi: des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur.“; vgl. C.G. Svarez, Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein?, 1788, in: Vorträge über Recht und Staat, S. 628: „Denn alsdann wird der Richter zum Gesetzgeber; und nichts kann der bürgerlichen Freiheit gefährlicher sein, zumal wenn der Richter ein besoldeter Diener des Staats und das Richteramt lebenswierig ist.“</ref> Das Gesetz war das Mittel, um im Absolutismus die Macht zu begrenzen.<ref>hinzu kamen (vermeintlicher) Verzicht und Verbot des Machtspruchs, vgl. Friedrich der Große, Das Politische Testament, 1752: „Ich habe mich entschlossen, niemals in den Lauf des gerichtlichen Verfahrens einzugreifen; denn in den Gerichtshöfen sollen die Gesetze sprechen, und der Herrscher soll schweigen (…).“ und die Praxis im Müller-Arnold-Prozess (1779) andererseits.</ref> Hinzu kamen gesetzliche Auslegungsverbote,<ref>Vgl. Codex Theresianus, 1758, 1. Teil, I, 81: „Jedermann ist an die ausdrücklichen Worte Unserer Gesetze in ihrem wahren und allgemeinen üblichen Verstand gebunden. Niemandem ist es daher gestattet, sich einer rechtskräftigen Ausdeutung Unserer Gesetze anzumassen, noch unter dem Vorwand eines Unterschieds zwischen den Worten und dem Sinn des Gesetzes solche auf einerlei Weise zu erweitern oder einzuschränken.“</ref> Interpretationsbeschränkungen<ref>Vgl. Project des Corporis Juris Fridericiani, 1750, I, Tit. 2, § 7: „Wie denn auch keinem Richter frey stehen soll, dieses Unser Land-Recht, wann es zweifelhaftig zu seyn scheinet, zu interpretiren, oder argumento legis allerhand Exceptiones, Limitationes, und Ampliationes, nach Gefallen, und öfters ex aequitate cerebrina, zu fingiren“</ref>, Vorlagepflichten<ref>Vgl. Codex Theresianus, 1758, 1. Teil, I, 84: „Woferne aber dem Richter ein Zweifel vorfiele, ob ein vorkommender Fall in dem Gesetz begriffen seie oder nicht, oder da ihm das Gesetz selbst dunkel schiene, oder ganz besondere und sehr erhebliche Bedenken der Beobachtung des Gesetzes entgegenstünden, so ist die massgebige Erklärung des Gesetzes allemal bei Uns anzusuchen.“</ref> und Kommentierungsverbote.<ref>Vgl. Kurfürst August von Sachsen, Anordnung von 1729: „(…) dass über diese Unsere erläuterte Prozess-Ordnung, ohne Unsern Vorbewusst und Approbation, niemand zu schreiben, zu kommentieren, und solche zu interpretieren sich unterfangen solle.“</ref> Es gab immer wieder den Versuch, per Gesetz die Auslegung auf andere Stellen als den Richter zu übertragen.<ref>„Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muss er, ohne die prozessführenden Parteien zu benennen, seine Zweifel der Gesetzeskommission anzeigen, und auf deren Beurteilung antragen.“ (Art. 47 der Einleitung des Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten vom 5. Februar 1794)</ref> Die juristische Hermeneutik unterschied sich damit bald von der allgemeinen Hermeneutik.<ref>Carl Welcker (1790–1863), Auslegung, in: Staats-Lexikon, hg. v. Carl v. Rotteck und Carl Welcker, 2. Bd., 1835, S. 60: „Um die Gesetze und die rechtlichen Geschäfte, namentlich die Verträge, richtig befolgen und anwenden zu können, muss man sie vor allem richtig auslegen, d. h. ihre wahre, gesetzlich gültige Absicht aus ihnen herausfinden und entwickeln können. Die Regeln, welche bei dieser Auslegung uns leiten müssen, bilden den Inhalt und die Aufgabe der Auslegungswissenschaft oder -kunst, oder der Hermeneutik, und zwar im Gegensatz zu den Auslegungsregeln für nichtjuristische Urkunden, wie z. B. der heiligen Schriften, der alten Classiker, die juristische Hermeneutik.“</ref>
Ob es überhaupt möglich sei, Regeln auch für die Anwendung von Regeln zu formulieren, wurde bereits von Kant als regressus ad infinitum zurückgewiesen.<ref>Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage 1787, B 172</ref>
Historische Rechtsschule
Seit dem 19. Jahrhundert besteht in den europäischen Rechtsordnungen grundsätzlich ein „Rechtsverweigerungsverbot“, d. h. eine Pflicht der Richter, ihnen vorliegende Fälle zu entscheiden, und damit auch ein Zwang zur Interpretation und Lückenfüllung der Gesetze.<ref>Vgl. „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.“ (Code civil, Art. 4)</ref>
Über die Frage, ob es sich empfehle, das Zivilrecht in Deutschland zu kodifizieren, entstand eine wissenschaftliche Kontroverse zwischen Thibaut einerseits und Savigny andererseits (Kodifikationsstreit). Savigny setzte sich von der naturrechtlich-philosophischen Theorie des Gesellschaftsvertrages ab und befasste sich mit der historischen Rechtsentwicklung, insbesondere des Römischen Rechts. Als natürlich gewachsenes Recht wurzele es im „Volksgeist“:
„In dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volkes lebt das positive Recht, und wir haben es daher auch Volksrecht zu nennen. oder im angloamerikanischen und französischen Rechtskreis .“ Nach dem Wortlaut könnte man vertreten, nur der Kern der Persönlichkeit sei geschützt („Persönlichkeitskerntheorie“). Das Umherreiten im Wald betrifft nicht den Kern der Persönlichkeit, R wäre demnach nicht in seinem Grundrecht verletzt. Das Bundesverfassungsgericht hat aber anders entschieden. Der Verfassungsgeber wollte dem Grundrecht ursprünglich den Wortlaut geben „Jeder kann tun und lassen, was er will […]“, wählte dann aber die sprachlich elegantere Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG. Inhaltlich wollte er aber dadurch nichts anderes aussagen. Also schützt das Grundrecht nicht den Kern der Persönlichkeit, sondern die Allgemeine Handlungsfreiheit, die immer eingreift, sofern kein spezielleres Grundrecht einschlägig ist. Also schützt das Grundrecht auch das Reiten im Wald. R war in seiner Grundrechtsausübung zwar beeinträchtigt, dieser Eingriff war aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da es für das Verbot eine gesetzliche und verfassungsgemäße Grundlage im nordrhein-westfälischen Landschaftsschutzgesetz gab.
Systematische Auslegung
Die systematische Auslegung beruht auf dem Gedanken, dass die Rechtsordnung als Ganzes widerspruchsfrei aufgebaut sein muss und deshalb keine Norm in ihr einer anderen Norm widersprechen kann. In diesem Sinne ist die systematische Auslegung keine wirkliche Auslegungsmethode, sondern nur ein Konstruktionsprinzip. Teilweise wird der systematischen Auslegung noch der zusätzliche Aspekt zugemessen, dass eine Rechtsnorm nach der Systematik der mit ihr im Zusammenhang stehenden Regelungen auszulegen ist. Hier hat etwa die aufs römische Recht zurückgehende Auslegungsregel, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind, ihre Heimat. Gegen die so verstandene systematische Auslegung wird häufig vorgebracht, dass es nicht der wesentliche Schritt ist, die Folge aus einer erkannten Systematik zu ziehen, sondern eine Systematik zu erkennen, was nur durch die anderen Auslegungsmethoden möglich ist.
Beispiel: Nach § 823 Abs. 1 BGB muss Schadensersatz zahlen, „wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt“. Ist eine Forderung, etwa die Gehaltsforderung des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, oder das Vermögen als Ganzes ein solches „sonstiges Recht“? Die aufgezählten Rechte und Rechtsgüter (Freiheit, Eigentum, …) sind absolut geschützt und von jedermann zu beachten. Aus dieser Systematik folgt, dass „sonstiges Recht“ ein gleichermaßen absolut geschütztes Recht sein muss, wenn die genannten Einschränkungen nicht umgangen werden sollen. Folglich ist weder das Vermögen noch eine einzelne Forderung „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB.
Teleologische Auslegung
Die teleologische Auslegung wird heutzutage häufig als das Kernstück der Auslegungsmethoden angesehen, die im Zweifel den Ausschlag gibt. Sie erfordert, den Sinn des Gesetzes danach festzusetzen, was für ein Ziel (griech. τέλος telos, auch: ‚Zweck‘) mit dieser Rechtsnorm erreicht werden soll (also Sinn und Zweck der Norm).
Beispiel: A stiftet T an, O zusammenzuschlagen. Hat T neben der zweifellos erfüllten Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) auch eine gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) begangen, weil er „mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich gehandelt hat“? Wortlaut und Systematik helfen nicht weiter, führen sogar zu widersprüchlichen Ergebnissen: unter „gemeinschaftlich“ versteht das Gesetz nur Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB), „Beteiligte“ sind dagegen auch so genannte Teilnehmer, also Anstifter und Gehilfen (§ 28 Abs. 2 StGB). Was der Gesetzgeber sich dabei gedacht hat, lässt sich nicht mehr aufklären. Sinn und Zweck des Delikts Gefährliche Körperverletzung ist es aber, die erhöhte Gefährlichkeit härter zu bestrafen. Durch einen Anstifter, der nicht am Tatort in Erscheinung tritt, wird die Körperverletzung um nichts gefährlicher. Demnach genügt sie nach Sinn und Zweck nicht. T hat also keine gefährliche Körperverletzung begangen.
Dabei wird nach überwiegender Meinung nicht auf den Willen des (historischen) Gesetzgebers abgestellt (im Sinne einer subjektiven Auslegung), sondern auf den objektiv in der Norm zum Ausdruck kommenden Zweck. Dieser kann sich bei älteren Normen im Laufe der Zeit auch geändert haben. Der Bundesgerichtshof geht davon aus, dass kein Gesetz in seinem Anwendungsbereich auf die vom Gesetzgeber ins Auge gefassten Fälle begrenzt ist, „denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepasst weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist“ (BGHSt 10, 157, 159 f.). Gegen diese Art der teleologischen Auslegung wird vorgebracht, die Festsetzung des objektivierten Zwecks erfolge mehr oder weniger willkürlich vom Gesetzesanwender; nur was dieser zunächst durch die Zweckfestsetzung in das Gesetz hineingelesen habe, könne er im Rahmen der teleologischen Auslegung auch wieder herauslesen. Zudem wird auch kritisiert, solche Abweichungen vom ermittelbaren Zweck des historischen Gesetzgebers seien zwar notwendig, aber nicht als Auslegung zu bezeichnen.<ref name="Rüthers Rn. 724">Bernd Rüthers: Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts. München 1999, ISBN 3-406-09484-8, Rdnrn. 717 ff. insbes. Rn 724: [Es ist] „ein Gebot wissenschaftlicher wie richterlicher Methodenehrlichkeit und geistiger Hygiene, ein Schweigen des Gesetzes als Lücke und die Abweichung vom Gesetz als rechtspolitisch begründete richterliche Gesetzeskorrektur zu deklarieren.“</ref>
Weitere Auslegungsmittel
Die Rechtswissenschaft hat für die Auslegung deutscher Gesetze weitere oder spezifischere Auslegungsmethoden entwickelt, die die „klassischen“ Auslegungsmittel ergänzen. Die verfassungs- und europarechtskonforme Auslegung werden oft als Spezialfälle der systematischen Auslegung angesehen, zum Teil wird dies verneint, da die Geltung und nicht bloß die Auslegung der Norm betroffen sei.<ref>Rolf Wank: Rangkonforme Auslegung und Europarecht. In: Ioannis K. Karakostas, Karl Riesenhuber (Hrsg.): Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung. Walter de Gruyter, 2011, ISBN 3-11-025809-9, S. 21.</ref>
Verfassungskonformität der Auslegung
Das Grundgesetz bildet die höchste Rechtsnorm des deutschen Staates. Der Stufenbau der Rechtsordnung führt dazu, dass nachrangige, mit dem höherrangigen Grundgesetz unvereinbare Normen (z. B. eines einfachen Gesetzes) ungültig sind. Bei deren Überprüfung ist aber nicht nur das Gesetz, an das der Maßstab der Verfassung angelegt wird, sondern auch dieser Maßstab selbst keine exakt bestimmte, sondern eine auslegungsfähige und auslegungsbedürftige Norm.<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., §§ 7 g, 10 III b.</ref> Für jede dieser Normen gibt es oft mehrere vertretbare Auslegungen. Ist das zu überprüfende Gesetz mit der Verfassungsauslegung des Gesetzgebers, nicht aber mit der abweichenden Verfassungsauslegung des Verfassungsgerichts vereinbar, so stellt sich die Frage, wie hier die Auslegungskompetenzen des Gesetzgebers und des Verfassungsgerichts voneinander abzugrenzen sind. Bei der Verfassungsauslegung (mit der das zu überprüfende Gesetz vereinbar sein muß) hat das Verfassungsgericht jedenfalls prozessual das letzte Wort. Zu einem gleichen Ergebnis führt auch § 31 Abs. 1 BVerfGG; hiernach binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden“. Zudem hat die Entscheidung in den Fällen des § 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Gesetzeskraft, kann also die Gesetzgebung korrigieren. Kurz, für Rechtsnormen ist, wenn möglich, eine verfassungskonforme Auslegung zu wählen, weil sie nur dann Bestand haben können. Rechtspolitisch stellt sich aber die Frage nach einem verständigen Judicial self restraint: Wenn das Verfassungsgericht in Fragen der Verfassungsauslegung, die ernstlich zweifelhaft sind, „seine eigene Auslegung zum verbindlichen Maßstab erhebt und die des Gesetzgebers verwirft, dann verläßt es die unangreifbare Position einer Instanz, deren Autorität in Konfrontation mit dem Gesetzgeber […] vor allem darauf beruht, daß man über ihre Entscheidungen verständigerweise gar nicht streiten kann“. Überdehnt es seine Verwerfungskompetenz, dann wird es „schwerlich vermeiden können, in den politischen Tageskampf hereingezogen, auf seine vorrangige demokratische Legitimation und sozialethische Urteilskraft befragt und insgesamt stärker […] politisiert zu werden“.<ref>Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. II, S. 108 ff., 115</ref>
Die Möglichkeit, eine Norm verfassungskonform auszulegen und dadurch vor ihrer Ungültigkeit zu retten, endet dort, wo die Auslegung dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers widerspräche: Auch das Verfassungsgericht darf der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers nicht vorgreifen oder diese unterlaufen. Das Ergebnis einer verfassungskonformen Auslegung muss nicht nur vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein, sondern auch die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers wahren. Das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden.<ref>So die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 119, 247 (274) m.w.N. und BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2014 – 1 BvR 2142/11 –, Rn 86.</ref>
Nachgeordnete Gerichte sind von ihrer Vorlagepflicht nach Artikel 100 Abs. 1 GG durch ihre eigene verfassungskonforme Auslegung nur dann befreit wenn diese den anerkannten Auslegungsmethoden folgt. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind z. B. in Schmerzensgeldprozessen gegen die Boulevard-Presse und ihre Paparazzi die Rechte fotografierter Kinder von prominenten Eltern aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht) und aus Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) abzuwägen gegen die individuelle Garantie der Pressefreiheit eines Zeitschriftenverlages aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; die Schadensersatznorm des BGB, hier der Begriff des „sonstigen Rechts“ in § 823 Abs. 1 BGB, ist also „in Konformität“ mit dem Grundgesetz auszulegen.
Unionsrechts- oder richtlinienkonforme Auslegung
Das EU-Recht hat Vorrang vor dem nationalen Recht der 28 Mitgliedstaaten. Dieser Vorrang ist vom Europäischen Gerichtshof gewohnheitsrechtlich anerkannt. Aus dem Vorrang des überstaatlichen Unionsrechts folgt die Verpflichtung aller Organe der Mitgliedstaaten, d. h. vor allem der Gerichte und Behörden, nationales Recht im Sinne der Vorgaben des EU-Rechts, also unionskonform auszulegen. Da die meisten EU-rechtlichen Vorgaben in Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft und deren Rechtsnachfolgerin, der Europäischen Union, zu finden sind, lässt sich auch der Ausdruck richtlinienkonforme Auslegung verwenden. Beispiele: Deutsche Gerichte haben deutsche Verbraucherschutz- und Arbeitnehmerschutzgesetze so auszulegen, dass Sinn und Zweck der EU-Richtlinien auf diesen Gebieten verwirklicht werden. – Zur Kritik dieser Methode, siehe Abschnitt Europarecht.
Rechtsvergleichende Auslegung
Peter Häberle propagierte neben diesen klassischen vier Auslegungsmethoden die Rechtsvergleichung als fünfte Methode.<ref>Peter Häberle: Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat. Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode, Juristenzeitung (JZ) 1989, S. 913 (916 ff.); ebenso Axel Tschentscher: Dialektische Rechtsvergleichung – Zur Methode der Komparatistik im öffentlichen Recht, JZ 2007, S. 807 (812 ff.) mit weiteren Nachweisen zu Quellen und Rezeption in Fn 81.</ref> Sie gehört nicht zu den klassischen Auslegungskriterien, kann jedoch im Rahmen der teleologischen Auslegung eine Reflexion über Sinn und Zweck von Normen befördern.
Authentische Auslegung
Hierbei handelt es sich um die Auslegung einer Textstelle durch den Verfasser oder den Gesetzgeber selbst. Sie unterscheidet sich von der Legaldefinition dadurch, dass dort die Erläuterung durch denselben Text stattfindet. Die authentische Auslegung ist keine Auslegungsmethode. Sie ist vor allem im Völkerrecht bedeutsam.
Auch und gerade Verwaltungsvorschriften zur Auslegung von Normen sind Beispiele für die authentische Auslegung. Eine oberste Behörde legt die Auslegung von Gesetzen generell oder fachlich fest, damit ein gleichförmiges dem Gleichheitssatz entsprechendes Verwaltungshandeln vorgenommen wird. Über die Weisungsgebundenheit von Bediensteten wird somit authentisch der Normenvollzug vorgegeben.
Schlüsselbegriffe
Die Gesetzesauslegung, also die argumentative Suche nach der Bedeutung der von einem Gesetz verwendeten Wörter,<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 10.</ref> wird durch die genannten Kriterien der Gesetzesauslegung, z. B. die „historische“ oder die „teleologische“ Interpretation, geleitet. Diese erschließen das Auslegungsproblem durch Begriffe und Argumente, z. B. die Entstehungsgeschichte oder den Zweck des Gesetzes, mit deren Hilfe jene Wortbedeutung zu präzisieren ist. Solche „Schlüsselbegriffe“ sind also Denkformen, die „ein Problem erschließen, indem sie es auf Begriffe bringen, in denen man es nachvollziehbar diskutieren kann – ohne es damit aber schon vollständig zu lösen“.<ref>Zippelius, Das Wesen des Rechts, 6. Aufl., Kap. 8 b; ders., Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 3 I c, VII.</ref> Die Suche nach der Bedeutung der Gesetzeswörter lässt sich nicht nur durch die „klassischen“ („Savignyschen“) Auslegungskriterien begrifflich strukturieren, sondern auch etwa durch die dargelegten Fragen nach der „Rangkonformität“ (ob eine bestimmte Auslegung mit höherrangigen Normen vereinbar ist) oder nach der „Kulturkonformität“ (d. h. der rechtsvergleichenden Frage, ob sie mit vergleichbaren Problemlösungen des gleichen Kulturkreises übereinstimmt). Diese Auslegungsargumente lassen aber, zumal wenn verschiedene Auslegungskriterien miteinander konkurrieren, „oft einen Entscheidungsspielraum, also eine Wahl- und Wertungsmöglichkeit offen“, bei der über das Gewicht der einzelnen Argumente entschieden werden muss und insbesondere die Frage nach deren Rangordnung zumeist nicht streng rational und exakt zu beantworten ist.<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 10 VII.</ref>
Auch jenseits der Gesetzesauslegung bedient sich das juristische Denken problemerschließender Begriffe. Zu ihnen gehört insbesondere die Güter- oder Interessenabwägung.<ref>Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962, S. 22, 82.</ref> Diese ist ihrerseits durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das Übermaßverbot<ref>Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., § 20 III 4.</ref> und subtilere Erwägungsmuster zwar rational strukturierbar,<ref>Heinrich Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, 1977.</ref> läuft aber am Ende auf Wertungen hinaus, die nicht streng berechenbar sind.<ref>Hubmann, a.a.O., S. 191.</ref>
Zu nennen ist ferner der Gleichheitssatz. Dieser ist nicht nur ein selbständiger „Schlüsselbegriff“ juristischer Erwägungen, sondern spielt eine ergänzende Rolle auch bei der Verwendung anderer Auslegungskriterien.<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 12.</ref> Auch er liefert einen begrenzten Beitrag zur Rationalität rechtlicher Entscheidungen, indem er die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede herausstellt, die für die rechtliche Bewertung erheblich sind (wie das auch beim „distinguishing“ des angelsächsischen Fallrechts geschieht). Doch schon darüber, welches solche relevanten Merkmale sind, und erst recht darüber, ob und warum sie für die abschließende Gleich- oder Ungleichbewertung ausschlaggebend sind, ist kein völlig rationaler, wertungsfreier Diskurs möglich.
So führen diese Erwägungen zu einer Einsicht, die über die eigentliche Auslegungsproblematik hinausreicht: Die Suche nach gerechten Entscheidungen stößt am Ende immer wieder auf rational nicht auflösbare Elemente der Unschärfe. Diese bilden eine unüberschreitbare Grenze rationaler Erkenntnis, wie sie (in anderer Weise) sogar die Physik in einer „Unschärferelation“ hat. Kurz, Gerechtigkeitsfragen können mit Hilfe von Schlüsselbegriffen zwar rational strukturiert, aber nicht vollständig exakt gelöst werden.<ref>Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., § 20 III 6; ders., Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., §§ 3 I c, 10 VII.</ref>
Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander
Die Auslegung aus dem Wortlaut einer Norm (Grammatische Auslegung) und aus deren Kontext (Systematische Auslegung) führen in aller Regel nur zu einem vorläufigen Ergebnis; denn die Möglichkeiten, den „Willen“ eines Gesetzes mittels eines Textes (und zwar in Gesetzen mit knappen, abstrakten Formulierungen) zum Ausdruck zu bringen, sind „begrenzt“: Je knapper die Gesetzesworte sind, desto schwieriger ist es, das vom Gesetz Gewollte mit nur wenigen Worten vollständig und präzise darzutun. Daher müssen immer auch die anderen Auslegungskriterien berücksichtigt werden, um das vorerst gewonnene Verständnis der Gesetzesworte „abzusichern“. Der Auslegende muss insbesondere auch die Gesetzesmaterialien sichten und auswerten, um zu prüfen, ob das aus dem Wortlaut und dem Kontext ermittelte Ergebnis auch mit dem Sinn und Zweck einer Norm übereinstimmt. So sagte der Bundesgerichtshof: "Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende Wille […]. Dem Ziel, den im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen, dienen die nebeneinander zulässigen, sich gegenseitig ergänzenden Methoden der Auslegung aus dem Wortlaut der Norm, aus ihrem Zusammenhang, aus ihrem Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte. Dabei ist in aller Regel […] mit der Auslegung nach dem Wortlaut zu beginnen".<ref>BGHZ, 46, 74 ff., 76.</ref>
Das Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander ist aber nicht eindeutig geklärt. Nach der herrschenden Auffassung gibt es zwischen den einzelnen Auslegungskriterien kein klares Rangverhältnis.<ref>Karl Larenz, C. W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Studienausgabe, 3. Auflage 1995, Kap 4, Ziff. 2 f; Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. hrsg. v. Thomas Würtenberger, 2010, S. 146 ff., 172 ff.; Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 10 VI, VII, § 16 III; Hans-Joachim Koch, Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 176 ff.; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 553 ff.; Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung. Eine rationale Analyse, 1999, S. 36 ff., 91 ff.; Dirk Looschelders, Wolfgang Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 192 ff.; Sonja Buckel, Ralph Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006.</ref> Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Wahl der Auslegungeargumente sich ziellos vollziehen solle. Sondern, „wenn verschiedene Auslegungsargumente miteinander konkurrieren, entspricht es der grundsätzlichen Aufgabe des Rechts […] diejenigen Argumente vorzuziehen, die zu einem möglichst gerechten Ergebnis führen. Dieser Vorgriff auf das erstrebenswerte Ergebnis soll der Entscheidung Ziel und Richtung geben.“<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 10 IV; in ähnlicher Weise nimmt Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 725 ff. eine Leitfunktion der teleologischen Auslegung an.</ref>
All diese Auslegungserwägungen führen aber in der Regel nicht zu einer einzig richtigen Entscheidung<ref>anders Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977</ref>, sondern oft nur zu verschiedenen vertretbaren Entscheidungen<ref>Engisch, a.a.O., S. 204 f. im Anschluß an C. H. Ule; Zippelius, a.a.O., § 16 III.</ref> (schon deshalb, weil die eingeschlossenen Gerechtigkeitserwägungen und sonstigen Wertungen nicht auf exakter Erkenntnis beruhen)
Nach umstrittener Meinung soll ein Vorrang unter den Auslegungsmethoden der unionsrechtskonformen Deutung von Gesetzen zukommen, sofern Vorgaben des EG-Rechts überhaupt bestehen. Für diese Ansicht spricht, dass deutsche letztinstanzliche Gerichte EG-rechtliche Vorfragen eines nationalen Verfahrens dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen müssen (Art. 267 AEUV) und dass Deutschland seine Treuepflicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV verletzen würde, wenn seine Organe die unionskonforme Auslegung nationaler Normen unterließen oder gar die verbindliche Auslegung des EG-Rechts durch den Europäischen Gerichtshof missachteten.
Mit der Wahl der Auslegungsmethode kann das Auslegungsergebnis vorbestimmt werden. Sie legt zugleich den Umfang und die Grenzen der verfassungsrechtlichen Gesetzesbindung der Rechtsanwender fest. Auslegungsfragen sind also Verfassungsfragen. Das hat sich in Deutschland vor allem nach den „Verfassungswechseln“ 1919, 1933, 1945/49 und 1989/90 gezeigt. Die großen Kodifikationen (BGB, HGB, StGB, GewO, ZPO, StPO u. a.) haben, weitgehend unverändert, in den unterschiedlichen politischen Systemen oft zu entgegengesetzten Auslegungsergebnissen durch Justiz und Jurisprudenz geführt. Werkzeuge der Umdeutung der gesamten Rechtsordnung waren jeweils die Verkündung neuer Rechtsideen, neuer Rechtsquellen, neuer Rechtsgrundbegriffe und neuer Auslegungsmethoden.<ref>Vgl. Bernd Rüthers, Entartetes Recht, dtv-wissenschaft 1994, S. 22.</ref>
Auslegungsgegenstand
Die Methode der Auslegung richtet sich auch nach ihrem Gegenstand, den Normen und Willenserklärungen. Auslegungsziel ist der – wie auch immer – objektivierte Wille eines Autors. Normen und Willenserklärungen haben oft unterschiedliche Autoren. Daher ist bei der Auslegung die Normenhierarchie zu berücksichtigen bzw. die jeweilige Rechtsquelle.
Rechtsgeschäfte
Rechtsgeschäfte, genauer: die in ihnen enthaltenen Willenserklärungen, sind auslegungsfähig, wenn sie mehrdeutig sind und auslegungsbedürftig, wenn die Erklärenden unterschiedliche Verständnisse für sich beanspruchen, zum Beispiel bei Erteilung einer "Generalquittung". Bei einem eindeutigen Sinn oder bei einem übereinstimmenden Vertragsverständnis bleibt kein Raum für eine Auslegung. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) regelt die Auslegung vor allem in:
- § 133 BGB – Auslegung einer Willenserklärung
- Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.
- § 157 BGB – Auslegung von Verträgen
- Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Verkehrssitte ist dabei die im Verkehr der beteiligten Kreise tatsächlich herrschende Übung, die eine gewisse Festigkeit erlangt haben muss, wobei nicht erforderlich ist, dass sie den am Vertrag beteiligten Parteien bekannt ist oder von diesen als verbindlich angesehen wird. Sie ist keine Rechtsnorm, sondern ein die Auslegung mitbestimmender tatsächlicher Faktor.
Es zeigen sich zwei – mitunter gegenläufige – Maximen: Die Auslegung nach dem wirklichen Willen (natürliche Auslegung), wie in § 133 BGB beschrieben, verwirklicht die Privatautonomie. Die Auslegung danach, wie der erklärte Wille allgemein verstanden werden muss (normative Auslegung), § 157 BGB, schützt dagegen den Rechtsverkehr. Die Willenserklärung ist dann so zu verstehen, wie sie ein objektiver Dritter in der Position des Empfängers (objektiver Empfängerhorizont) verstehen müsste. Wann der Rechtsverkehr solcherart schützenswert ist, gibt § 157 BGB mit Verträgen an: dort sind zwei Parteien beteiligt, die sich auf das vom Gegenüber Erklärte verlassen. Eine vergleichbare Interessenlage besteht aber auch bei vielen einseitigen Rechtsgeschäften, nämlich dann, wenn die Willenserklärung einem anderen gegenüber abzugeben ist, also gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB empfangsbedürftig ist und zugehen muss. Das ist bei allen Gestaltungsrechten der Fall: etwa bei der Erklärung einer Kündigung, der Anfechtung und so weiter.
Demnach ergibt sich folgendes Schema:
- nicht-empfangsbedürftige Willenserklärungen (etwa im Testament, des Stiftungsgeschäfts, der Auslobung) sind gem. § 133 BGB nach dem wirklichen Willen (natürliche Auslegung) zu verstehen, mag auch etwas ganz anderes erklärt worden sein.
- empfangsbedürftige Willenserklärungen, insbesondere Gestaltungserklärungen sowie Antrag und Annahme, sind gem. § 133, § 157 BGB normativ auszulegen. Ausnahme: die Parteien haben übereinstimmend etwas anderes gemeint, als sie erklärt haben. Dann ist keiner schützenswert, es gilt das wirklich Gewollte (falsa demonstratio non nocet – die (übereinstimmende) Falschbezeichnung schadet nicht). Paradebeispiel einer solchen unbeachtlichen falsa demonstratio ist der Haakjöringsköd-Fall.
Gesetze
Gesetzesworte haben in der Regel einen Spielraum verschiedener Bedeutungen. Aus diesen ist eine bestimmte Auslegungsvariante auszuwählen. Diese Auswahl hat sich innerhalb des möglichen Wortsinnes zu vollziehen, und zwar auf argumentative Weise: in einem Erwägen von Gründen, die es rechtfertigen, den Gesetzesworten gerade den gewählten Sinn beizulegen. Solche Gründe lassen sich aus dem Gesetzeszweck entnehmen (der sich insbesondere aus der Vor- und Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergeben kann), ferner aus dem rechtlichen Kontext (zu dem die gewählte Auslegung widerspruchsfrei passen muss), und nicht zuletzt aus Erwägungen der Gerechtigkeit.<ref>Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 10.</ref> Die Auslegung hat also „den Charakter eines Diskurses, in dem auch bei methodisch einwandfreier Arbeit nicht absolut richtige … Aussagen dargeboten werden, sondern Gründe geltend gemacht, andere Gründe dagegengestellt werden und schließlich die besseren Gründe den Ausschlag geben sollen“.<ref>BVerfGE 82,38 f.</ref>
Wenn wichtige Gründe es erfordern, vom Gesetzeswortlaut abzuweichen, kann dies nicht durch Auslegung, sondern nur in der Weise geschehen, dass man eine Gesetzeslücke feststellt und ausfüllt.
Savigny hatte seine Auslegungsregeln für das Zivilrecht und das Kriminalrecht entwickelt. Heutige Gesetze enthalten in der Regel keine Vorschriften zur Methode ihrer Auslegung. Die rechtswissenschaftliche Methodenlehre knüpft zur Auslegung heutiger Gesetze ausdrücklich an die Lehre Savignys an.<ref>Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Heidelberg 1960. Mehrfache Neuauflagen, ISBN 3-540-59086-2.</ref> Die höchstrichterliche Rechtsprechung verwendet ebenfalls diese Kriterien in der Praxis. Allerdings gibt es einige Abweichungen zu Savigny, sowohl beim Auslegungsziel (Wille des Gesetzgebers statt „Volksgeist“; siehe jedoch Zeitgeist) als auch bei den Mitteln (teleologische statt „logische“ Interpretation).
Verfassungsrecht
Die Methodenlehre hat für das Verfassungsrecht besondere Kriterien der Auslegung entwickelt. Dabei stehen sich verschiedene Richtungen gegenüber.<ref>Vgl. Ernst Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961 einerseits und Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff. andererseits; sowie Peter Schneider und Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVdStRL 20, 1963; Dreier/Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; Überblicke bei: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 76, 2089 ff. und Matthias Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, S. 873–879.</ref> Eine speziell am Verfassungsrecht entwickelte Methode ist die Strukturierende Rechtslehre von Friedrich Müller.<ref>Friedrich Müller: Strukturierende Rechtslehre, 2. Auflage, Duncker & Humblot, Berlin 1994, ISBN 3-428-07623-0.</ref>
Das Bundesverfassungsgericht hat sich keiner dieser Lehren ausdrücklich angeschlossen. Es wendet weitgehend die Kriterien Savignys an, ohne sich auf diesen zu beziehen. Außerdem ist es darüber hinausgegangen, indem z. B. auf weiter zurückliegende Ereignisse als die unmittelbare Entstehungsgeschichte der Norm zurückgegriffen hat.<ref>BVerfGE 12, 105 230 ff.; BVerfGE 61, 149 175 ff.</ref> Schließlich hat es sachbezogene Grundsätze funktionell- oder materiellrechtlicher Art herangezogen.<ref>BVerfGE 3, 225 231; BVerfGE 28, 243 261; BVerfGE 34, 165 183 m.w.N.</ref> Es hat auch „dem zu regelnden Sachverhalt selbst Bedeutung zugemessen“.<ref>Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts. 20. Aufl. 1999, Rn 58.</ref> Damit werden allerdings die Regeln Savignys endgültig verlassen.<ref>Kritisch zur Anwendbarkeit dieser Regeln im Verfassungsrecht: Friedrich Müller, a.a.O., passim.</ref> Für Savigny war stets die Trennung zwischen dem „Inhalt der Rechtsquellen“ und ihrem „Übergang ins Leben“ erforderlich,<ref>System des heutigen Römischen Rechts, Band I, 1840, S. 206.</ref> die Trennung von Fall und Norm.
Europarecht
Nach der Ansicht des Europäischen Gerichtshofs gelten für das Unionsrecht autonome Auslegungsgrundsätze, die im Wesentlichen mit den oben genannten übereinstimmen.<ref>Vgl. Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt am Main 1997.</ref>
Allgemein sorgt die europarechtskonforme Auslegung (auch: integrationsfreundliche Auslegung) für Übereinstimmung der nationalen Normen mit dem Europarecht. Speziell ist dabei die richtlinienkonforme Auslegung zu nennen, die die Übereinstimmung von nationalen Normen mit dem Inhalt der (europarechtlichen) Richtlinien, auf denen sie beruhen, sichert. Die richtlinienkonforme Auslegung ist problematisch, da Richtlinien nicht unmittelbar wirken, sondern nur die Mitgliedsstaaten binden und von diesen in nationales Recht transformiert werden müssen. Durch diese Transformation wird der Regelungskomplex in die nationale Rechtsordnung eingepasst. Dieser Transformationsakt wird aber nahezu überflüssig, wenn bei jeder Abweichung zwischen nationalem Recht und Richtlinienrecht auf die Richtlinie zurückgegriffen wird. Durch die richtlinienkonforme Auslegung kann es zu einer quasi-unmittelbaren Wirkung von Richtlinien kommen, die im Hinblick auf das Demokratiedefizit bei Normerlass verfassungsrechtlich bedenklich ist. (Grundlegend dazu diFabio NJW 1990, 947 ff.) – Zu den üblichen Auslegungsmethoden kommen noch die Auslegung im Hinblick auf den effet utile (die tatsächliche Durchsetzung von Normen) und auf die Einheitlichkeit des Europarechts in allen Mitgliedsstaaten hinzu.
Völkerrecht
Das Völkerrecht folgt eigenen Regeln der Interpretation (vgl. Art. 31 Wiener Vertragsrechtskonvention). In der Regel interpretieren die Parteien eines Vertrages diesen selbst (vgl. die Auslegung von Rechtsgeschäften).
Ergänzende Auslegung und Rechtsfortbildung
Die einfache Auslegung einer Norm wird zumeist unterschieden von ihrer analogen Anwendung und ihrer teleologischen Reduktion (die aber zur Auslegung im weiteren Sinne, der „Darlegung des Inhalts des Rechts“ (Windscheid), gehören). Insoweit spricht man von ergänzender Auslegung, teilweise auch von Rechtsfortbildung.
Hierbei geht es um die Korrektur von nicht gerechtfertigten Ungleichheiten im Gesetz, die dadurch entstehen, dass der Gesetzgeber bestimmte Fallgruppen nicht bedacht hat und seine Regelung deshalb unvollständig wurde. Man unterscheidet zwischen primären und sekundären Lücken. Im ersten Fall hat der Gesetzgeber den fraglichen Fall von vornherein nicht bedacht, im zweiten hat er ihn zwar bedacht, doch haben sich in Zwischenzeit die tatsächlichen (z. B. Entstehung des Straßenverkehrs, Entwicklung von Rundfunk und Fernsehen) oder rechtlichen (z. B. Inkrafttreten des Grundgesetzes) Rahmenbedingungen so verändert, dass inzwischen eine Lücke „entstanden ist“.
Die (fließenden) Grenzen zwischen Interpretation, (ergänzender) Auslegung und Rechtsfortbildung sind im Einzelnen streitig. Ein übliches Abgrenzungskriterium ist der mögliche Wortsinn einer Norm. Die Rechtsprechung vermeidet in der Praxis, ihre Auslegung und Rechtsfortbildung bestimmten von der Wissenschaft gebildeten Kategorien zuzuordnen (etwa intra legem = Interpretation bzw. Auslegung im Rahmen des möglichen Wortsinns, praeter legem = gesetzesimmanente Rechtsfortbildung im Rahmen des gesetzlich Gewollten, contra legem = gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung).<ref>Vgl. zu letzterer Peter Schwacke, Juristische Methodik, 4. Aufl. 2003, S. 117; teilweise wird die zulässige gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung auch als „extra legem“ bezeichnet, vgl. BGH, NJW 1992, 983.</ref>
Ein Beispiel für eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung ist die Analogie. Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung ist grundsätzlich unzulässig. Ausnahmen sind möglich bei einer gravierenden Veränderung der sozialen Gegebenheiten, bei unabweisbaren Bedürfnissen des Rechtsverkehrs oder zur Verwirklichung eines Verfassungsprinzips.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenz der Richter zur „schöpferischen Rechtsfindung“ ganz allgemein bejaht, also selbst zu einer Rechtsfortbildung contra legem:
„Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert. Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnormen gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, ‚Recht‘ zu sprechen, verfehlen will.“<ref>BVerfGE 34, 269 288 f.</ref>
Das Bundesverfassungsgericht überlässt es dabei den Fachgerichten, welcher Methode sie sich bei „schöpferischen Rechtsfindung“ bedienen, soweit das Ergebnis „auf einem zivilrechtlich zumindest diskutablen, jedenfalls den Regeln zivilrechtlicher Hermeneutik nicht offensichtlich widersprechenden Wege gewonnen wurde.“
Den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber selbst die Aufgabe der „Fortbildung des Rechts“ ausdrücklich zugewiesen (vgl. § 132 Abs. 4 GVG, vormals § 137 GVG). Systematik und Methodik der Rechtsfortbildung ist seit der Reform der Zivilprozessordnung in § 543 ZPO ausdrücklich als Aufgabe der Revisionsgerichte genannt. In manchen Rechtsgebieten, zum Beispiel im Arbeitsrecht, hat sie infolge des Zurückbleibens der Gesetzgebung hinter dem Fluss der sozialen Entwicklung besondere Bedeutung erlangt.
Analogie
Als Analogie bezeichnet man die Erstreckung der Rechtsfolge einer Norm auf einen Sachverhalt, der von ihrem Tatbestand vom Wortsinn her nicht mehr erfasst wird. Die Analogie setzt voraus, dass das Gesetz nach seinem denkbar weitesten sprachlichen Verständnis den in Rede stehenden Sachverhalt nicht erfasst (Lückenhaftigkeit), dass diese Lücke planwidrig ist, der Gesetzgeber also, wenn ihm der Fall vor Augen gestanden hätte, ihn geregelt hätte und dass die Ähnlichkeit der Interessenlage die Anwendung der Rechtsfolge der analog anzuwendenden Norm rechtfertigt (argumentum lege non distinguente). Der Fachausdruck Lücke wird teilweise auch so verwendet, dass er von vorneherein nur planwidrige Unvollständigkeiten erfasst.
- Beispielsweise kann man bei drohender Beeinträchtigung des Eigentums nach § 1004 BGB den Störer auf Unterlassung verklagen. Auch wenn man „Eigentum“ noch so weit versteht, wird man die körperliche Unversehrtheit nicht mehr darunter fassen können. Leib und Leben ist aber ebenso wie das Eigentum absolut geschützt (§ 823 Abs. 1 BGB). Demnach wird man § 1004 BGB auf diesen Fall analog anwenden.
Teleologische Reduktion
Als teleologische Reduktion bezeichnet man das Gegenteil der Analogie. Hier wird – ebenfalls aus dem Gedanken heraus, dass das Gesetz mit einer Regelung einen bestimmten Zweck verfolgt – die Rechtsfolge einer Norm nicht angewendet, obwohl der Wortsinn der Norm den Sachverhalt unzweifelhaft erfassen würde (verdeckte Lücke). Der Gesetzestext ist nicht zu eng, sondern planwidrig zu weit geraten.
- Beispielsweise wird nach § 212 StGB bestraft, „wer einen Menschen tötet“. Auch wenn man den Begriff des „Menschen“ noch so eng auslegt, fällt, wer sich selbst tötet, stets noch unter den Wortlaut. Die (versuchte) Selbsttötung soll aber nach Sinn und Zweck des § 212 StGB nicht strafbar sein – daher ist die Norm insoweit teleologisch zu reduzieren, dass nur das Töten eines anderen Menschen erfasst wird.
Beide – Analogie und teleologische Reduktion – haben mit der Auslegung im engeren Sinne gemein, dass sie auf dem Kernstück der Auslegungsmethoden, der Erkenntnis des mit dem Gesetz verfolgten Ziels (teleologische Auslegung), beruhen. Allerdings gehen sie dabei entweder über das weiteste noch denkbare sprachliche Verständnis hinaus (Analogie) oder bleiben hinter dem engsten möglichen Wortsinn zurück (teleologische Reduktion). Diese Lückenfüllung ist aber keine schöpferische, freie Rechtsetzung durch den Rechtsanwender. Vielmehr ist über das Erfordernis der Planwidrigkeit gesichert, dass der historische Gesetzgeberwille (Demokratieprinzip) beachtet wird. Die Lücke wird auch nicht durch irgendeine Regelung gefüllt, die dem Anwender günstig erscheint, sondern durch entsprechend angewandte gesetzliche Regelungen – auch insoweit ist Grundlage also immer noch das Gesetz.
Im deutschen Strafrecht sind Analogie und teleologische Reduktion zu Lasten des Täters verboten: nullum crimen, nulla poena sine lege (kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz; Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, wortlautgleich § 1 StGB).
Beispiele
(Beispiel) „Ich setze meine Nachkommen zu Erben ein.“ (oder: „Meine Nachkommen sollen mich beerben.“)
Für die Rechtshermeneutik stellt sich die Frage: Wer ist mit „Nachkommen“ gemeint?
Ein Rechtsbegriff kann „unmittelbar“, also gemäß dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, verstanden werden (deklaratorische Auslegung):
- (Beispiel) Es sind die ehelichen und nichtehelichen Abkömmlinge gemeint.
Die Auslegung kann erweiternd (extensive Auslegung) erfolgen:
- (Beispiel) Es sind auch die Enkel und Urenkel gemeint.
Oder sie kann einschränkend erfolgen (restriktive Auslegung):
- (Beispiel) Es sind lediglich eheliche Nachkommen gemeint.
Grenzen der Auslegung
Es hat immer wieder vergebliche Versuche gegeben, absolute Grenzen der Auslegung festzulegen, sei es durch Gesetz oder per Dekret.<ref>Vgl. die historischen Beispiele oben.</ref> Heute behilft man sich mit der Idee relativer Grenzen u. a. durch die Gewaltenteilung.<ref>Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, §§ 21–23; teilweise wird versucht, die Grenzen der Rechtsfortbildung mit dem Vorbehalt des Gesetzes neu zu bestimmen, vgl. hierzu Roman Herzog, Gesetzgeber und Gerichte, in: Festschrift für Helmut Simon, 1987, S. 103–112.</ref> Während die Rechtsanwendung (Erstinterpretation) eindeutig Sache der Exekutive ist, wird eine Kompetenzabgrenzung bei der Auslegung (Kontrolle) vor allem zwischen Legislative und der Judikative notwendig.
Für den Richter
Der Richter ist zunächst verpflichtet, eine Entscheidung zu treffen (Rechtsverweigerungsverbot). Der Richter ist „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG) und „an Gesetz und Recht gebunden“ (Art. 20 Abs. 3 GG). Andererseits genießt er eine „Unabhängigkeit“ und das institutionelle Vertrauen der Rechtsordnung, die Rechtsprechung ist ihm „anvertraut“. Die bestehende Rechtsordnung und die Rechtsidee können in einem Fall auseinanderfallen. Kein Richter kann gezwungen werden, ein „Gesetz“ anzuwenden, das er als Widerspruch zum „Recht“ empfindet. Hält er ein Gesetz für verfassungswidrig, muss er es dem Bundesverfassungsgericht vorlegen (Normverwerfungsmonopol). Ausnahme: Der Richter kann die Anwendung eines Gesetzes ohne Anruf des Gerichts unterlassen, wenn es sich um ein vorkonstitutionelles Gesetz oder um eine Rechtsverordnung oder Satzung handelt. Sollte die wortlautgetreue Anwendung des Gesetzes zu „unerträglichen“ Ergebnissen führen, dann kann der Richter ausnahmsweise selbst rechtssetzend tätig werden: Er schafft Richterrecht. Dabei ist er begrenzt durch die allgemeinen Regeln der Auslegung. Die „wesentlichen Entscheidungen“ müssen vom Gesetzgeber selbst getroffen werden.<ref>BVerfGE 33, 303 f.; BVerfGE 41, 251 260 ff.</ref> Außerdem ist er gebunden an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Wendet der Richter das Recht bewusst falsch an, dann handelt es sich um eine strafbare Rechtsbeugung.
Für den Gesetzgeber
„Wesentliche“ Entscheidungen trifft der Gesetzgeber. Eine authentische Interpretation im technischen Sinne findet aber nicht statt, allenfalls gibt es Legaldefinitionen. Dem Gesetzgeber ist es untersagt, aus einer Reihe gleichartiger Fälle willkürlich einen herauszugreifen. Anders ist die Situation in Österreich, wo der Gesetzgeber eine Authentische Interpretation nach § 8 ABGB explizit vornehmen darf. Der Gesetzgeber ist gebunden an die Grundrechte und an die „verfassungsmäßige Ordnung“, nicht aber an einfache Gesetze (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG). Ob und wie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes den Gesetzgeber binden, ist umstritten.<ref>Vgl. § 31 Abs. 1 BVerfGG; BVerfGE 96, 260 – Normwiederholung.</ref> Ein Kern der Verfassung ist auch der Änderung durch Gesetz entzogen (Art. 79 Abs. 3 GG).
Siehe auch
Literatur
- Robert Alexy: Theorie der juristischen Argumentation, 3. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1996, Nachdruck 2001.
- Klaus Adomeit: Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl., Heidelberg 1998.
- Horst Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, Frankfurt a.M. 1971.
- Franz Bydlinski: Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991.
- Claus-Wilhelm Canaris, Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 3. Auflage, Springer, Berlin 1999, ISBN 3-540-59086-2.
- Helmut Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Berlin 1993.
- Karl Engisch: Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., Heidelberg 1963.
- Karl Engisch: Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl., Stuttgart 2010.
- Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., Frankfurt 1972.
- Wolfgang Fikentscher: Methoden des Rechts in der vergleichenden Darstellung, Tübingen.
- Bd. 1: Frühe und religiöse Rechte – Romanischer Rechtskreis, 1975
- Bd. 2: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975
- Bd. 3: Mitteleuropäischer Rechtskreis, 1976
- Bd. 4: Dogmatischer Teil, Anhang, 1977
- Bd. 5: Nachträge – Register, 1977
- Maximilian Herberger, Dieter Simon: Wissenschaftstheorie für Juristen, Frankfurt 1980.
- Hans-Joachim Koch, Helmut Rüßmann: Juristische Begründungslehre. Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft, 1982.
- Ernst A. Kramer: Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 2013.
- Martin Kriele: Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auf., Berlin 1976.
- Dirk Looschelders, Wolfgang Roth: Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996.
- Friedrich Müller: Fallanalysen zur juristischen Methodik, 2. Aufl., Berlin 1989.
- Friedrich Müller, Ralph Christensen: Juristische Methodik, Bd. 1, Grundlagen, 8. Aufl., Berlin 2002; Bd. 2, Europarecht, 2003.
- Friedrich Müller: Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, Berlin 1997.
- Edward E. Ott: Die Methode der Rechtsanwendung, Zürich 1979.
- Hans-Martin Pawlowski: Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg 1999.
- Chaim Perelmann: Juristische Logik als Argumentationslehre, Freiburg 1979.
- Bernd Rüthers, Christian Fischer, Axel Birk: Rechtstheorie mit Methodenlehre, 6. Auflage, München 2011.
- Mark Van Hoecke: Norm, Kontext und Entscheidung, Leuven/Amersfoort 1988.
- Theodor Viehweg: Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl., München 1974.
- Peter Schwacke: Juristische Methodik, 4. Aufl. 2003.
- Reinhold Zippelius: Juristische Methodenlehre. 11. Aufl., München 2012.
Artikel:
- Georg Bitter, Tilman Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik, in: Juristische Schulung (JuS) 2009, 289-298.
- Oliver Sauer: Wortlautgrenze der verfassungskonformen Auslegung?. 2006 (16 Seiten), Freiburger Dokumentenserver (FreiDok)
- Hans Kudlich, Ralph Christensen: Die Kanones der Auslegung als Hilfsmittel für die Entscheidung von Bedeutungskonflikten, in: Juristische Arbeitsblätter (JA) 2004, S. 74–83.
- Winfried Brugger: Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), S. 1 ff.
Weblinks
- Eine kleine Einführung in die Recherche in Gesetzesmaterialien und die Suche nach dem Willen des Gesetzgebers Justiz-und-Recht.de
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