Erinnerungskultur
Erinnerungskultur bezeichnet den Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Definition
- 2 Ausdruck und Formen
- 3 Beispiele
- 4 Internationale Zusammenarbeit im Bereich der Erinnerungskultur
- 5 Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion
- 6 Zur aktuellen Diskussion
- 7 Rolle bei der Stiftung nationaler Identität
- 8 Sonstiges
- 9 Siehe auch
- 10 Literatur
- 11 Weblinks
- 12 Einzelnachweise
Definition
Im strengen Sinne bezeichnet Erinnerungskultur die Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen und sozial zugelassener oder erworbener Umgangsformen einer Gesellschaft oder Gruppe damit, Teile der Vergangenheit im Bewusstsein zu halten und gezielt zu vergegenwärtigen. Im Zentrum stehen dabei in erster Linie die kollektiven wie subjektiven Wahrnehmungen historischer Zusammenhänge aus einer aktuellen Perspektive, weniger die Darstellung historisch-objektiven Wissens. Es kann zwischen einer privaten und einer öffentlichen Erinnerungskultur sowie deren jeweiligen regelmäßigen und ereignisbasierten Elementen unterschieden werden. Markant für eine Kultur des Erinnerns ist, dass kollektive Wahrnehmungen die subjektiven Wahrnehmungen prägen. Einfluss auf die Erinnerungskultur haben gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Verhältnisse und Probleme. Durch eine ausgeprägte Erinnerungskultur werden die nicht so herausgestellten Elemente jedoch dem Vergessen preisgegeben.<ref> Arnd Krüger: Die sieben Arten in Vergessenheit zu geraten. In: Arnd Krüger, Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hrsg.): Vergessen, Verdrängt, Abgelehnt. Zur Geschichte der Ausgrenzung im Sport. (= Schriftenreihe des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte Hoya. Band 21). LIT-Verlag, Münster 2009, ISBN 978-3-643-10338-3, S. 4–16; die ursprüngliche Theorie (ohne Sport) beruht auf Paul Connerton: Seven Types of Forgetting. Memory Studies. 1, 2008, S. 59–71</ref>
Beispiele für eine private bzw. subjektive Ausformungen der Erinnerungskultur sind Familienalben, Ahnenforschung oder verschiedene Jubiläen mit persönlichem bzw. auch familiärem Bezug. Bei bestehendem öffentlichem Interesse können Werke der Erinnerungskultur amtlich zu Kulturgut oder auch zum Kulturdenkmal ernannt werden.
Ausdruck und Formen
Ausdruck findet gerade die öffentliche Erinnerungskultur in einem vielfältigen Spektrum von Initiativen und Herangehensweisen, wozu in erster Linie die Archivierung der Informationen, deren wissenschaftliche Aufarbeitung und letztendlich die öffentliche Dokumentation sowie sonstige mediale Darstellung gehören. Neben diesen eher ereignisabhängigen Formen spielen auch Gedenkstätten, Gedenktage und Denkmale eine größere Rolle. Bestimmte Anlässe wie zum Beispiel der Historikerstreit geben jedoch immer wieder Impulse für in der Regel kurzfristige, aber dafür intensive gesellschaftliche Diskussionen um einzelne Themenbereiche. Diese berühren dabei sehr schnell Interessen der Politik und sind damit auch einer potenziellen Instrumentalisierung durch aktuelle Interessen unterworfen. Dabei sind Fragen der öffentlichen Erinnerung und somit Geschichtswahrnehmung eng mit Fragen der Legitimation von Machtansprüchen und jenen einer nationalen Identitätsstiftung verbunden. Dies führt in vielen Fällen zu einer staatlichen Ritualisierung der Erinnerungskultur und bedingt auch eine Reihe von gesellschaftlichen Tabus. Diese Politisierung der Erinnerungskultur wird insbesondere sichtbar bei Regimewechsel, bei denen die bisherige Deutung mancher historischen Ereignisse durch die neue Macht verändert wird. Ein sichtbares Beispiel kann dann das Umgehen mit Denkmalen sein, die an Helden des voriges Regimes erinnern, die aber nach dem Regimewechsel nicht mehr dasselbe Ansehen genießen. Hieran ist insbesondere das Gelingen oder Versagen einer Geschichtsaufarbeitung geknüpft.
Beispiele
In Deutschland, Österreich und vielen anderen Ländern ist Erinnerungskultur im Wesentlichen ein Synonym für die Erinnerung an den Holocaust<ref>Im Zusammenhang mit der in der Europäischen Union angestrebten einheitlichen Gesetzgebung zur Bekämpfung der Holocaustleugnung haben französische Historiker in einem gemeinsamen Appell an der Strafandrohung für das Bestreiten von Tatsachen Kritik geübt: „In einem freien Staat ist es nicht die Aufgabe irgendeiner politischen Autorität zu definieren, was die historische Wahrheit sei, geschweige denn darf sie die Freiheit des Historikers mittels der Androhung von Strafsanktionen einschränken. Wir fordern die Historiker auf, in ihren Ländern ihre Kräfte zu sammeln und sich diesem Appell anzuschließen, um der Vermehrung von Erinnerungsgesetzen Einhalt zu gebieten. Die politisch Verantwortlichen bitten wir zu begreifen, dass es zwar zu ihren Aufgaben gehört, das kollektive Gedächtnis zu pflegen, dass sie aber keinesfalls per Gesetz Staatswahrheiten institutionalisieren sollen, die schwerwiegende Konsequenzen für die Arbeit des Historikers und für die intellektuelle Freiheit insgesamt haben können.“Appel de Blois der Vereinigung Liberte pour L'Histoire (deutsche Übersetzung zit. n. Frankfurter Rundschau vom 23. Oktober 2008).</ref> und die Opfer der Zeit des Nationalsozialismus.
Völkermorde zeigen sich jedoch auch in vielen anderen Ländern als zentrale Aspekte der Erinnerungskultur mit teilweise erheblichem Konfliktpotenzial, insbesondere wenn dies auch heute noch benachteiligte Minderheiten betrifft. Beispiele hierfür sind Namibia (Aufstand der Herero und Nama), Armenien und Türkei (Völkermord an den Armeniern) und Ruanda (Völkermord in Ruanda). Auch andere Felder wie die Apartheid in Südafrika, die Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, die Taten Stalins in der Sowjetunion bzw. Maos in China oder die Kriegsverbrechen der japanischen Armee in Ostasien während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs haben noch heute eine große politische Bedeutung mit mehrheitlich stark ritualisierten Erinnerungsformen, sind aber dennoch in großen Teilen nur unzureichend aufgearbeitet.
Eine Beschäftigung mit verschiedenen Erinnerungskulturen trägt zu einem besseren Verständnis der historischen Ereignisse und der Vielfalt der Erinnerungen bei, insbesondere in einem multiethnischen Kontext, wie man ihn in der europäischen Geschichte öfter antrifft. Die Verschiebung von Grenzen und die massenhaften Bevölkerungswanderungen, die im 20. Jahrhundert stattfanden, führen zu einer „Verschichtung“ der Erinnerungen, insbesondere in Ländern wie der Ukraine, wo die Bevölkerung sich im Zweiten Weltkrieg drastisch verändert hat. Eine Stadt wie Czernowitz hat durch die Shoah einen erheblichen Teil ihrer Bevölkerung verloren, aber es bleiben noch Spuren dieser jüdischen Kultur, die als Ansatz einer Erinnerungskultur dienen können.<ref>Projekt der Geschichtswerkstatt Europa über die multikulturelle Erinnerung in Czernowitz – Bukowina</ref>
An den Völkermord Porajmos an der europäischen Roma-Bevölkerung im Nationalsozialismus erinnern Geschichtsmuseen und Gedenkstätten in Polen, Tschechien, Ungarn und Deutschland. Deutsche Gedächtnisstätten sind das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas und das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.
Bernd Ziesemer schrieb 2012:<ref>Bernd Ziesemer: Ein Gefreiter gegen Hitler. Hoffman und Campe, Hamburg 2012, ISBN 978-3-455-50254-1</ref>
„Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 rückte der 20. Juli 1944 schnell in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung über den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Herrschaft. Der Historiker Norbert Frei spricht von einem 'Erinnerungskampf', der die frühen fünfziger Jahre in hohem Maße prägte.<ref>siehe auch Freis Aufsatz von 1995 (PDF; 153 kB)</ref>“
Internationale Zusammenarbeit im Bereich der Erinnerungskultur
In Europa gilt die deutsch-französische Zusammenarbeit bei der Erinnerung als Muster, das sich auf andere Länder übertragen lässt, wie zum Beispiel zwischen Deutschland und Polen. Diese beide Länder müssen eine schmerzhafte gemeinsame Vergangenheit verarbeiten, um die gegenwärtigen Beziehungen zu festigen. Es gibt u.a. einen multi-perspektivischen Dialog. In der europäischen Geschichte bieten sich viele Ereignisse für einen Vergleich der verschiedenen Erinnerungskulturen an.<ref>Diese Vergleiche bilden interessante Forschungsgebiete und ermöglichen gleichzeitig eine Annäherung und Versöhnung der Bevölkerungen. Noch grundsätzlicher wird das Problem im Konzept des Globalen Geschichtsbewusstseins angegangen.</ref>
Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion
Ein Bereich der Erinnerungskultur bleibt häufig aus dem Blick: die Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion von historischen Objekten, eine Aufgabe, für die insbesondere die Einrichtung Weltkulturerbe der UNESCO das Bewusstsein schärfen und internationale Förderung sichern will.
Dazu zählen Schriftstücke (Gefahr des Zerfalls des Beschreibmaterials oder der Unfähigkeit, es noch zu lesen – insbesondere bei digital archivierten Texten, Rekonstruktion durch Entzifferung des Palimpsestes), Kunstwerke (Aufdecken des Entstehungsprozesses eines Kunstwerkes, aber auch Rekonstruktion eines hypothetischen Originalzustandes wie bei der Restaurierung der Sixtinischen Kapelle) sowie Bauwerke.
Hier stehen divergierende Haltungen der Erinnerungskultur nebeneinander und gegeneinander. Zum einen kann strikte Konservierung eines vorgefundenen Zustandes versucht werden (zum Beispiel nach einem Bombenangriff die Beibehaltung des Trümmerhaufens, wie es bei der Dresdner Frauenkirche lange geschah) oder die Integration des Überlieferten in ein neues Gesamtbauwerk (wie etwa bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin von Egon Eiermann oder der Pinakothek in München von Hans Döllgast). Man kann Restaurierung im Sinne Eugène Viollet-le-Ducs Herstellung eines ursprünglich gedachten, vollkommenen Zustandes vornehmen oder eine Rekonstruktion, wie sie in Warschau und Danzig mit ganzen Straßenzügen und ähnlich am Frankfurter Römerberg geschah, oder – recht problematisch – wie in der wilhelminischen Epoche mit der römischen Saalburg. Während die Warschauer Rekonstruktion zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt wurde, wurde die Römerberg-Rekonstruktion im Geiste Georg Dehios von dem Architekten Rudolf Schwarz aus historischen und ethischen Gründen abgelehnt.
Eine besondere Art von Rekonstruktion liegt vor, wenn ein historisches Gebäude, das eine Geschichtsepoche repräsentiert (wie etwa der Palast der Republik in Berlin), durch eine Rekonstruktion von etwas vorher Vorhandenem ersetzt werden soll. Ein weiteres Beispiel dazu ist die Nutzungsgeschichte von Prora auf Rügen, die zugunsten des geplanten (nie vollendeten) KdF-Seebades offiziell kaum erinnert wird. Die Kaserne Prora gehörte zu den größten und berüchtigtsten Militärstandorten in der DDR mit enormer systemstabilisierender Funktion. Deren Geschichte wird in den Medien kaum erwähnt, die Dokumentation bleibt in erster Linie Zeitzeugen überlassen.<ref>Andreas Montag: Prora erinnert an Bausoldaten der NVA. Mitteldeutsche Zeitung, 23. November 2010</ref><ref>http://mr3er.de/dr-lo/index.php?t=1&c=59</ref><ref>Stefan Wolter: Asche aufs Haupt! Vom Kampf gegen das kollektive Verdrängen der DDR-Vergangenheit in Prora auf Rügen. Projekte-Verlag Halle, 2012, Band 3, ISBN 978-3-86237-888-3, abrufbar unter http://www.denk-mal-prora.de/Stefan_Wolter-_Erinnerungskultur_Prora-Vom_Kampf_gegen_das_kollektive_Verdrangen_2006-2012.pdf</ref>
Ein aktuelles Beispiel von Rekonstruktion liegt bei der Frauenkirche Dresden vor. Hier spricht man von Anastylose, weil für viele noch vorhandene Steine ihre genaue Position im alten Bau berechnet wurde und diese alten Teile im neuen Bau sichtbar erhalten bleiben.
Der Dresdner Lyriker Durs Grünbein kennzeichnet diesen Versuch der Rekonstruktion mit kritischer Distanz unter dem Titel Chimäre Dresden: Einen tragischen Untergang hatten andere Städte auch, keine jedoch „kultivierte die Erinnerung an die Zeit vor der Zerstörung mit soviel schmerzvoller Nostalgie, keine lebte so sehr vom Phantombild ihrer einstigen weltstädtischen Silhouette.“ Ähnliche Konflikte gab es unter anderem um den Wiederaufbau des Heidelberger Schlosses (der unterblieb).
Zur aktuellen Diskussion
In der Veranstaltung Memorial Mania<ref>am 9./10. Dezember 2011 in Berlin (deutsche Vorankündigung durch das Haus der Kulturen der Welt und englische Vorankündigung durch die American Acadamy)</ref> wurde 2011 über angemessene Zeitpunkte für die Errichtung von Denkmälern und die Gefahr einer Instrumentalisierung von Denkmälern für soziale Durchsetzungskämpfe gesprochen. Der amerikanische Denkmalexperte James Young, der den Begriff Counter-Memorial (Gegen-Denkmal) prägte, um die im Blick auf den Holocaust entstandene Denkmalästhetik zu charakterisieren, stellte das New Yorker Mahnmal an Ground Zero in diese Denkmaltradition.<ref>„Vergessenheit und Versessenheit“ Bericht der Frankfurter Rundschau vom 12. Dezember 2011.</ref>
Weitere prominente aktuelle Konflikte um Erinnerungskultur sind unter anderem die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses an Stelle des Palastes der Republik, die per Anastylose wiederhergestellte Dresdener Frauenkirche und der Ausbau der als KdF-Seebad geplanten, jedoch zur stalinistischen Großkaserne ausgebauten Anlage von Prora auf Rügen zur Luxusimmobilie.<ref>Stefan Wolter: Prora – Inmitten der Geschichte. Bd. I: Der südliche Koloss und die Erinnerungskultur, Norderstedt 2015, ISBN 978-3738632378.</ref>
Rolle bei der Stiftung nationaler Identität
Beim Streit um das Berliner „Holocaust-Mahnmal“ spielte eine Erinnerungskultur, eine historische Trauer nur eine nachgeordnete Rolle.<ref>Nationaler Mythos oder historische Trauer?: der Streit um ein zentrales "Holocaust-Mahnmal" für die Berliner Republik, Jan-Holger Kirsch, Böhlau Verlag Köln Weimar, 2003, vergleiche Rezension von Nina Leonhard, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg</ref> Seine eigentliche Bedeutung besteht laut Jan-Holger Kirsch<ref>Kirsch 2003 a.a.O. S. 125</ref> in einer „Neudefinition ‚nationaler Identität’ im vereinten Deutschland“. Das Mahnmal gilt als prominentes Exponat einer „Berliner Republik“ bei der Bekenntnisse zur Nation und Bekenntnisse zur historischen Schuld nicht mehr als Widerspruch empfunden werden<ref>Kirsch 2003 a.a.O. S. 317</ref>. Der Holocaust wird dabei in den Dienst einer Identitätspolitik genommen, bei der insbesondere die Juden trotz ostentativer Vereinnahmung erneut ausgeschlossen werden.<ref>Kirsch 2003 a.a.O. S. 319</ref>
Dementsprechend wurde das Holocaustgedenken der heute in Deutschland und Österreich lebenden Juden jahrelang vernachlässigt. Hier finden sich als Extreme die Majorisierung des Gedenkens durch Nichtjuden wie die Delegation von wichtigen geschichtspolitischen Entscheidungen an herausragende Juden.<ref name="ösi" /> Die Mahnmalinitiatorin Lea Rosh hatten mehrfach Kontroversen mit verschiedenen jüdischen Vertretern, die ihr oder ihrem Vorhaben kritisch gegenüberstanden, so gegenüber Julius H. Schoeps, Rafael Seligman und anderen.<ref>Kirsch 2003 a.a.O. S. 161</ref>
„“
Galinskis Nachfolger Ignaz Bubis kam wegen zentraler organisatorischer Aspekte in Konflikte mit Rosh Mitstreiter Eberhard Jäckel.<ref name="ösi" >Lea Rosh: Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. In: Holger Thünemann: Zentrale Holocaust-Denkmäler in der Kontroverse: ein deutsch-österreichischer Vergleich. Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2005, S.159 ff.</ref> Dies ging soweit, daß Mitte der 1990er Jahre jüdischen Organisationen die Zuständigkeit oder Partizipation bei den ostdeutschen Gedenkstätten verweigert werden sollte. Galinskis Nachfolger Ignatz Bubis stimmte nicht zu, erkannte Roshs Engagement als Nichtjüdin<ref>Die Politische Meinung, Ausgaben 302-307 von Karl Willy Beer, Verlag Staat und Gesellschaft, 1995, S. 331.</ref> zwar an, versuchte sich aber einer Vereinnahmung zu entziehen. Die Kontroverse wurde zugunsten einer Minderheitsbeteiligung jüdischer Organisationen entschieden.<ref name="ösi" />
Eine wichtige Rolle hatte zudem der Mitte der 1990er ausgetragene Konflikt zwischen dem Zentralrat und dem damaligen Bundeskanzler um die Ausgestaltung der Neuen Wache in Berlin. Diese wurde von ersterem unter der Bedingung akzeptiert, ein zentrales Holocaustmahnmal wie von der Initiative Rosh und Jäckels initiiert zu bauen, aber dafür dort keine anderen Opfergruppen wie z. B. Sinti und Roma zuzulassen.<ref name=ber>Berlin, David Clay Large Basic Books, 15. Oktober 2007</ref><ref>Denk mal an! Erinnerung Die Geschichte ist nicht erledigt: Aber sind Denkmäler die richtigen Medien der Erinnerung? der Freitag, vom 18. November 2010 Jakob Augstein im Gespräch mit Lea Rosh, Wolfgang Wippermann und Markus Meckel</ref>
Sonstiges
In der DDR gab es eine andere Erinnerungskultur als in Westdeutschland. Wiedervereinigung und Umzug des Regierungssitzes nach Berlin waren Anlässe zum Nachdenken und zu Diskussionen über Formen des Erinnerns.
Als Martin Walser im Oktober 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hielt er eine Rede, mit der er ein großes Medienecho auslöste. Er sagte unter anderem:
„“
Viele äußerten sich empört und/oder warfen Walser historischen Revisionismus und eine Verharmlosung des Holocaust vor.
Dana Giesecke und der Sozialpsychologe Harald Welzer veröffentlichten 2010 ein Buch (siehe #Literatur). Sie sehen die deutsche Erinnerungskultur an einer Epochenwende. Bald werde es keine Zeitzeugen mehr geben; die junge Generation sei mit neuen Themen und Herausforderungen wie Klimawandel und Globalisierung befasst. Sie beschreiben bzw. erklären, dass ein historischer Diskurs, der – wie in der deutschen Erinnerungskultur über viele Jahrzehnte gängig – nur auf die Dämonisierung des Bösen setze, sein Ziel nicht erreiche. Der Diskurs sollte vielmehr „Orientierung für unsere Gegenwart bieten, um eine Basis für zukünftiges Handeln zu schaffen“.
Giesecke und Welzer plädieren für eine Modernisierung oder Renovierung der Erinnerungskultur (ihrer Themen wie auch die Art ihrer Vermittlung). Sie schlagen einen Ausstellungsort neuen Typs vor:
„In diesem Sinne wäre das ‚Haus der menschlichen Möglichkeiten’ seinem Selbstverständnis nach eine lernende Institution, die den einmal erreichten historischen Erkenntnisstand als Zwischenstand in einem erinnerungs- und geschichtskulturellen Prozess begreift, der sich mit der fortschreitenden Gegenwart selbst verändert. Wir glauben, dass diese Abwendung vom enthistorisierten absoluten Grauen und die Hinwendung zu den – positiven wie negativen – menschlichen Möglichkeiten mehr aufklärerisches und emanzipatives Potential enthält, als die Erinnerungskultur und ihre Institutionen zurzeit anbieten. Hier wird das Leben selbst interessant, nicht nur das historische Exempel, wie man es zerstören kann.“
Dieses „Haus der menschlichen Möglichkeiten“ sollte auch zum „Haus der je eigenen Möglichkeiten werden – ein reflexiver und zum Selberdenken einladender Ort der historischen und politischen Bildung“.<ref>Winfried Stanzick: Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Rezension auf: juedischelebenswelten.wordpress.com</ref>
Siehe auch
- Geschichtskultur
- Memorialwesen
- Geschichtspolitik
- Liste der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus
- Zug der Erinnerung
- Kollektives Gedächtnis
- Public History Weekly
Literatur
- Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. In: Schriftenreihe 633, Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2007, ISBN 978-3-89331-787-5.
- Walther L. Bernecker, Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2006. Nettersheim 2006, ISBN 3-939045-02-0.
- Michael Bernhard, Jan Kubik (Hrsg.): Twenty Years After Communism: The Politics of Memory and Commemoration. Oxford University Press, 2014.<ref>Leseprobe</ref>
- Erich und Hildegard Bulitta: Trauer, Erinnerung, Mahnung – Grundlagen und Materialien für einen zeitgemäßen Volkstrauertag. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Kassel 2002.
- Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2003/2004, ISBN 3-596-15219-4.
- Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 54, 2003, S. 548–563.
- Mihran Dabag, Kristin Platt (Hrsg.): Generation und Gedächtnis – Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995, ISBN 3-8100-1233-5.
- Heinrich Dauber: Erinnern und Gedenken (Mnemosyne und sachor) in der griechischen und jüdischen Tradition. Bad Heilbrunn 2002.
- Elisabeth Domansky, Harald Welzer (Hrsg.): Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Tübingen 1992
- Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2012, ISBN 978-3-89684-089-9.
- Dominik Groß, Christoph Schweikardt (Hrsg.): Die Realität des Todes. Zum gegenwärtigen Wandel von Totenbildern und Erinnerungskulturen. (= Todesbilder, Bd. 3). Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-593-39165-6.
- Thorsten Gubatz: Erinnerung (kulturwissenschaftlich). In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 2, 2. Auflage. Stuttgart/ Weimar 2005, ISBN 3-476-02108-4, S. 371–374.
- Rolf Italiaander (Hrsg.): Wir erlebten das Ende der Weimarer Republik: Zeitgenossen berichten. Droste, Düsseldorf 1982, ISBN 3-7700-0609-7.
- Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hrsg.): Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit. Unrast Verlag, Münster 2004, ISBN 3-89771-811-1.
- Milosz Matuschek: Erinnerungsstrafrecht. Eine Neubegründung des Verbots der Holocaustleugnung auf rechtsvergleichender und sozialphilosophischer Grundlage. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2012, ISBN 978-3-428-13733-6.
- Alexander Muschik: Schweden und das "Dritte Reich" – Die Geschichte einer späten Aufarbeitung, in: Christoph Cornelißen (Hrsg.): Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945, Essen 2008, S. 57-66.
- Hannes Obermair, Sabrina Michielli (Hrsg.): Erinnerungskulturen des 20. Jahrhunderts im Vergleich – Culture della memoria del Novecento a confronto. Stadtarchiv Bozen, Bozen 2014, ISBN 978-88-907060-9-7.
- Manfred Osten: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Frankfurt 2004.
- Theodor Reik: Über kollektives Vergessen. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. VI. Jahrgang, 1920.
- Ralf Steckert: Begeisterndes Leid. Zur medialen Inszenierung des „Brands“ und seiner geschichtspolitischen Wirkung im Vorfeld des 2. Irakkriegs. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-89821-910-5.
- Harald Welzer (Hrsg.): Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-17227-6.
Weblinks
- Christoph Cornelißen: Erinnerungskulturen. Version: 2.0, In: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. Oktober 2012.
- Sabine Moller: Erinnerung und Gedächtnis. Version: 1.0, In: Docupedia Zeitgeschichte, 12. April 2010.
- Informations- und Diskussionsportal zum Thema Erinnerungskulturen
- Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik
- Europäische Erziehung: Themenheft Europäische Erinnerungskulturen Heft 2 / 2014
- Debatte (2015) um die Konzepte Erinnerungskultur und Geschichtskultur und Public History bei Public History Weekly: [1]
Einzelnachweise
<references />