Geisteskrankheit
Unter Geisteskrankheiten oder Geistesstörungen wurden unterschiedliche Verhaltensbilder und Krankheiten zusammengefasst, die sich durch Verhaltensformen ausdrücken, die in der Gesellschaft nicht akzeptiert werden, siehe Kapitel Staatsmedizin.
Geisteskrankheiten können als Oberbegriff für jede Art von seelischer Störung verstanden werden oder spezieller als Psychose, d. h. als Krankheitsgruppe mit klinisch stärker ausgeprägter Symptomatik und eher ungünstiger Prognose.<ref name="WPP" />
Im medizinischen und psychologischen Sprachgebrauch findet der Begriff Geisteskrankheit heute wegen definitorischer Schwierigkeiten kaum noch Verwendung.<ref>Wissenschaftlicher Dienst Hoffmann-La Roche: Roche Lexikon Medizin. Elsevier, München (© Urban & Fischer 2003 – Roche Lexikon Medizin 5. Auflage) online (Stichworteingabe „Geisteskrankheit“ erforderlich)</ref> Siehe dazu auch die Veröffentlichung "Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten". Eine historisch - kritische Untersuchung am Beispiel "Schizophrenie" Rolf Kaiser, Pahl Rugenstein Verlag 1983, die die Mängel der Definitionsversuche belegt. Man spricht heute anstelle von Geisteskrankheiten neutraler von psychischen Störungen oder seelischen Krankheiten. Aber noch in dieser Wortwahl macht sich das historische Erbe bemerkbar, vgl. auch Kap. Historische Wurzeln des Begriffs. Von den Geisteskrankheiten wurden die Gemütskrankheiten als umschriebene affektive Psychose und die Geistesschwäche als Störung mit klinisch schwächer ausgeprägter Symptomatik abgegrenzt.
In der juristischen Diktion und insbesondere in der forensischen Psychiatrie findet der Begriff hingegen für psychische Störungen von erheblichen Ausmaß wie Schizophrenie oder auch für geistige Behinderung und bestimmte Persönlichkeitsstörungen weiterhin Verwendung, etwa im Betreuungsrecht, bei der Entmündigung und der Schuldunfähigkeit.
Inhaltsverzeichnis
Historische Wurzeln des Begriffs
Nach Klaus Dörner wurde der Begriff Geisteskrankheit maßgeblich durch Friedrich Wilhelm Schelling und seine Identitätsphilosophie um 1800 geprägt. Schelling wandte sich hier gegen Hegel, indem er behauptete, dass die Seele nicht erkranken könne, da sie göttlichen Ursprungs sei: ›Nicht der Geist wird vom Leib, sondern umgekehrt der Leib vom Geist infiziert.‹<ref>F. W. J. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen. (1810) In: »Werke«, Ed. Schröter, München 1927, Band IV, S. 360.</ref><ref name="B&I">Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. (1969) Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a) zu Stw. „Geisteskrankheit“, S. 263 f., 270 f. (Fußnote 224); (b) zu Stw. „Endogenität“, S. 56, 58, 98, 178, 260, 288, 339 f.; (c) zu Stw. „Degenerationslehre“, S. 187, 214, 267, 271, 309, 327, 329; (d) zu Stw. „Staatsmedizin“, S. 199, 202; (e) zu Stw. „Ausgrenzung der Unvernunft", „ausgenzender Zwang“ usw.: siehe Text auf dem Cover (Rückseite) sowie Seiten 26-36, 43, 49, 55, 57, 73 f., 87-89, 119, 132, 137 f., 140, 144 f., 155, 164, 190-202, 211, 230, 239, 242-244, 251, 258, 274, 286, 332, 335; (f) zu Stw. „Pinel und Crouthon“, S. 159 f.</ref> Hier liegen auch die Ursprünge für die deutsche Endogenitätslehre<ref name="B&I" /> und die französische Degenerationslehre<ref name="B&I" /> sowie ihrer vermutenden Vorwegnahme körperlicher Begründbarkeit. Es handelte sich hierbei um den Standpunkt der Psychiker, wonach vor allem Sünde und moralische Verfehlungen eine Geisteskrankheit verursachen. Es musste dahingestellt bleiben, ob Seele oder Geist erkranken.<ref name="KGP">Erwin H. Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie. 3. Auflage. Enke, Stuttgart 1985, ISBN 3-432-80043-6; (a) Standpunkt der Psychiker, S. 59; (b) Standpunkt der Somatiker, S. 61.</ref> Für die Seelenkrankheit setzte sich im 19. Jahrhundert der Begriff Gemütskrankheit durch, für die Geisteskrankheit ab 1845 der Begriff Psychose.<ref name="WPP">Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. 3. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München 1984; Lexikon-Stw. „Geisteskrankheit“, S. 212; Lexikon-Stw. „Gemütskrankheit“, S. 215.</ref> Dies war allerdings auch der Zeitpunkt, ab dem die allgemeine Geltung der Psychiker ins Wanken geriet. Psychische Störung meint ebenfalls eher den naturwissenschaftlich definierten Begriff von Krankheit, vgl. die Unterscheidung von Psyche und Seele und die von Johann Christian Reil geprägte Bezeichnung Psychiatrie.
Das von Wilhelm Griesinger mit seinem Lehrbuch „Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ 1845 verkündete Fazit: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ erforderte ein Umdenken der Psychiatrie im Sinne der Somatiker.<ref name="KGP" /> Damit kam die Forschung aber erst recht auf die Bahn einer Suche nach somatischen Befunden bei Psychosen, wie sie vor allem die klassische deutsche Psychiatrie vertrat. Die Sichtweise Freuds und der von ihm behandelten Neurosen erschien daher wie ein Rückfall in die romantische Medizin. Gesellschaftspolitische Bezüge wurden so aber eher nicht hergestellt, sondern ärztlicherseits meist ein rein naturwissenschaftliches Paradigma ohne gesellschaftliches Engagement behauptet, siehe Kap. Staatsmedizin. Ein triadisches System der Psychiatrie und die mit ihm verbundene multikonditionale Betrachtungsweise (Ernst Kretschmer) bildete sich erst nach und nach heraus. Auch die Sichtweise einer Mitbedingtheit psychischer Erkrankungen durch körperliche und seelische Faktoren, wie sie die psychosomatische Medizin mit Modellvorstellungen von psychophysischer Korrelation vertritt, ist ein erst vergleichsweise junger Entwicklungsschritt in der seit zwei Jahrhunderten währenden Geschichte der Erforschung von Geisteskrankheiten.<ref name="GPS">Thure von Uexküll: Grundfragen der psychosomatischen Medizin. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1963, Stw. „Geisteskrankheit“ Seiten 44 ff., 72, 98 f., 215</ref>
Staatsmedizin
In Deutschland waren die Anfänge der institutionellen Psychiatrie im 19. Jahrhundert weitestgehend durch eine Staatsmedizin<ref name="B&I" /> bestimmt, die Ihre staatstragenden ideologischen Anleihen vorwiegend aus den Morallehren der Philosophie und der Religion übernahm, die aber auch durch die beginnende Industrialisierung zunehmend sozialökonomische Gesichtspunkte in die staatspolitischen Überlegungen aufnahm. Das Vorhandensein staatlicher Präsenz erschien vor allem deshalb unerlässlich, weil man von der Grundannahme der Uneinfühlbarkeit und Unverständlichkeit des tätigen Verhaltens bei Geisteskrankheiten ausging, so insbesondere auch von der Gefahr der Tobsucht.<ref name="APP">Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. 9. Auflage. Springer, Berlin 1973, ISBN 3-540-03340-8, 4. Teil: Die Auffassung der Gesamtheit des Seelenlebens; § 2 Die Grundunterscheidungen im Gesamtbereich des Seelenlebens, II. Wesensunterschiede d) Gemütskrankheiten und Geisteskrankheiten (natürliches und schizophrenes Seelenleben) „Uneinfühlbarkeit und Unverständlichkeit“, S. 483 f.</ref> Dies bewirkte, dass man Geisteskranke teilweise in Fortsetzung der absolutistischen Ausgrenzung von Unvernunft<ref name="WUG">Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. (Histoire de la folie. Paris, 1961) Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, stw 39, 1973, ISBN 3-518-27639-5; Das Vorwort verwendet Begriffe wie „Absplitterung“, „Abgrenzung“ und „Geschichte der Grenzen“ als gängige Vokabel für das Verhältnis von Vernunft und Unvernuft, um das Anliegen des Werks verdeutlichen, siehe insbesondere Seite 9</ref><ref name="B&I" /> – etwa durch die Methoden des Hôpital général – potentiell als gemeingefährlich hielt. Diese Annahme hat sich jedoch durch die neueren Erkenntnisse der psychiatrischen Kriminalstatistik nicht bestätigt.<ref>Wolfgang Böker, Heinz Häfner: Gewalttaten Geistesgestörter. Eine psychiatrisch-epidemiologische Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland. Springer, Berlin 1973, ISBN 3-540-06225-4.</ref><ref name="PSK">Rudolf Degkwitz u. a. (Hrsg.): Psychisch krank. Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9; – (a) zu Stw. „Psychische Erkrankungen im Urteil der Fachwelt und der Bevölkerung“ S. 7, Sp. 1; (b) zu Stw. „Gemeingefährlichkeit und Zwangsunterbringung“, S. 402–404.</ref> Die Grundannahme der Gemeingefährlichkeit begünstigte die Befürwortung von Zwangsmaßnahmen.<ref name="PSK" /> Philippe Pinel (1745–1826) wird allgemein dafür gerühmt, die Kranken von ihren Ketten befreit zu haben, weil er die Grundannahme der Gemeingefährlichkeit umkehrte und gegenüber dem jakobinischen Schreckensmann Georges Couthon vor den Anstaltsinsassen behauptete, die Tobsüchtigen seien deshalb aggressiv, weil sie wegen der Zwangsmaßnahmen dieses Verhalten angenommen hätten.<ref name="B&I" /> Der Begriff Geisteskrankheit spielte daher auch in rechtlicher Hinsicht eine entscheidende Rolle. Bis Ende 1991 war der Begriff „Geisteskrankheit“ gemäß § 6 BGB gesetzestextlich verankert.
Einzelnachweise
<references />
Siehe auch
Weblinks
- Eintrag In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy