Harald Kaufmann
Harald Kaufmann (* 1. Oktober 1927 in Feldbach, Steiermark; † 9. Juli 1970 in Graz) war ein österreichischer Musikforscher.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Harald Kaufmann studierte in Graz Philosophie unter anderem bei dem Alexius Meinong-Schüler Ferdinand Weinhandl<ref>Weinhandl regte Kaufmann auch zu dessen Dissertation Methoden der philosophischen Interpretation, Graz 1948, an.</ref> sowie Musikwissenschaft bei Hellmut Federhofer. In den 1950er und 1960er Jahren wandte Kaufmann Weinhandls Methode der Gestaltanalyse auf die Analyse von Musik an.<ref>Anders als der auf tonale Musik beschränkte Ansatz von Heinrich Schenker wandte Kaufmann gestaltanalytische Methoden auf die Analyse von Kompositionen der 1950er und 1960er Jahre an. Ein gelungenes Beispiel dafür ist etwa Kaufmanns Analyse von Atmosphères von György Ligeti: Struktur im Strukturlosen, in: Harald Kaufmann Spurlinien. Analytische Aufsätze über Sprache und Musik, Wien 1969, S. 107–117. In dem Band findet sich auch der kritische Beitrag zu Schenker: Fortschritt und Reaktion in der Analyselehre Heinrich Schenkers, S. 37–46.</ref> Insofern ist Kaufmann im weiteren Sinn zur Grazer Schule der Gestalttheorie zu zählen. Ein zweites Studium (Jura) schloss Kaufmann 1953 ebenfalls mit dem Doktorat ab. Seit 1947 war er als Musikkritiker, von 1961 an als Kulturredakteur der sozialistischen Tageszeitung Neue Zeit tätig. In österreichischen, deutschen und schwedischen Zeitungen wirkte Kaufmann als Publizist, für den Österreichischen Rundfunk sowie für deutsche Rundfunkanstalten (u.a. WDR, NDR, Bayerischer Rundfunk, RIAS Berlin) verfasste er regelmäßig Sendereihen.<ref>Gottfried Krieger: Ein Pionier der Musikpublizistik in Österreich. Zum Leben und Wirken von Harald Kaufmann (1927–1970) in: Österreichische Musikzeitschrift 7–8, 2010, S. 4–12.</ref>
Leistungen
In den Monaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligte sich Kaufmann beim Wiederaufbau der Österreichischen Urania für Steiermark.<ref>Zum Wiederaufbau der Grazer Urania siehe: Walter Ernst, Markus Jaroschka: Die Schaukal-Ära und Graz, in: Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz Hg. von Karl Acham, Böhlau, Wien 2009, S. 683.</ref> Im Rahmen des Volksbildungswerkes hielt er in den 1940er und 1950er Jahren hunderte von Vorträgen über Musik mit den Schwerpunkten Wiener Schule (Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern) und Avantgarde. 1946 gründete Kaufmann zusammen mit Ulrich Baumgartner, Hellmuth Himmel und Heinz Gerstinger das Grazer Hochschulstudio als klar fortschrittlich ausgerichtete Theatergruppe.<ref> Zur Geschichte des Grazer Hochschulstudios siehe: Heinz Gerstinger: Persönliche Erinnerungen an Hellmuth Himmel und das Grazer Hochschulstudio, in: Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel zum 60. Geburtstag Hg. von Kurt Bartsch u.a., Bern und München 1979, S. 9–14.</ref> Im November 1947 wurde als Hochschulstudio-Produktion Kaufmanns Einakter Vittoria Colonna unter der Regie von Heinz Gerstinger uraufgeführt. Bei dem Stück handelt es sich um eine dramatisierte Fassung der Novelle Die Versuchung des Pescara von Conrad Ferdinand Meyer.<ref>Gottfried Krieger: Ein Pionier der Musikpublizistik in Österreich. Zum Leben und Wirken von Harald Kaufmann (1927-1970) in: Österreichische Musikzeitschrift 7–8, 2010, S. 5.</ref>
Kaufmann verfasste mehrere Opernlibretti: für Waldemar Bloch richtete er Stella nach Johann Wolfgang von Goethe ein (UA 5. Juli 1951 in Graz), für Rudolf Weishappel arbeitete er Elga nach Gerhart Hauptmann zum Opernstoff um (Ursendung 12. November 1952, ORF; szenische UA 28. Januar 1967, Landestheater Linz) und adaptierte König Nicolo oder So ist das Leben nach Frank Wedekind (szenische UA 1972, Volksoper Wien). Später distanzierte sich Kaufmann von diesen Arbeiten als "Jugendsünden".
In den 1950er Jahren beschäftigte sich Kaufmann intensiv mit der von den Nationalsozialisten ausgerotteten jüdischen Kultur in Österreich. Über zehn Jahre lang arbeitete er an einem Buch, das den Titel Geist aus dem Ghetto tragen sollte und unveröffentlicht blieb. Das etwa 250 Seiten umfassende Manuskript gliedert sich in vier Teile: Der erste Abschnitt (Das Material) bringt einen historischen Abriss, der zweite Teil (Die Chronik) sieht eine nach Berufsgruppen (Ärzte, Kantoren, Rechtsanwälte, Musiker, Schriftsteller, Journalisten etc.) geordnete Auflistung jüdischer Intellektueller in Wien bis zum Exodus durch die Nazis vor. Im dritten Abschnitt (Die Analyse) geht Kaufmann auf wissenschaftliche Ideen und gesellschaftspolitische Theorien (u.a. Psychoanalyse, Traumdeutung, Zionismus) ein, die in Wien um 1900 entstanden sind oder ihre Ausprägung fanden. Für den vierten Teil (Ausnahmenzustände) hatte Kaufmann den Versuch vorgesehen, "das Thema des Jüdischen durch jüdische Selbstanalysen zu erfassen".<ref>Gottfried Krieger: "Genie aus dem Ghetto": Die unveröffentlichten Arbeitstagebücher des österr. Musikforschers Harald Kaufmann, in: Musik als Lebensprogramm. Festschrift für Constantin Floros zum 70. Geburtstag Hg. von G. Krieger und M. Spindler, Lang, Frankfurt am Main 2000, S. 239–248.</ref>
1958 und 1961 leitete Kaufmann jeweils die Arbeitsgemeinschaft Musik im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach. Auf der Hauptarbeitstagung des Instituts für neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt hielt Kaufmann im April 1965 Vorträge zur Musik Schönbergs und Weberns, die in Musikwissenschaftskreisen große Beachtung fanden.<ref>Harald Kaufmann: Struktur bei Schönberg, Figur bei Webern in: Spurlinien, Wien 1969, S. 159–174. Wiederabgedruckt in: Musik-Konzepte Sonderband Schönberg, München, 1980 Hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn sowie Musik-Konzepte Sonderband Webern II, München, 1984.</ref>
Kaufmann gründete 1967 als Vorstand das Institut für Wertungsforschung (jetzt: Institut für Musikästhetik) an der Grazer Musikakademie (jetzt: Universität für Musik und darstellende Kunst Graz).<ref>Erich Marckhl: In Memoriam Harald Kaufmann, Graz 1970, S. 17.</ref> Seit 1968 gab er die Studien zur Wertungsforschung heraus, für deren erste beide Bände er Theodor W. Adorno gewinnen konnte. Mit Adorno stand Kaufmann in brieflichem Gedankenaustausch.<ref>Der Briefwechsel zwischen Kaufmann und Adorno ist abgedruckt in: Harald Kaufmann, Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik Hg. v. Werner Grünzweig und Gottfried Krieger. Wolke, Hofheim 1993, S. 261–300.</ref> Kaufmann war der engste Freund György Ligetis nach dessen Emigration aus Ungarn und widmete dessen Werk die ersten bedeutenden Analysen und Interpretationen.<ref>Zahlreiche Aufsätze Kaufmanns über Ligeti sowie der Briefwechsel zwischen Kaufmann und Ligeti in: Harald Kaufmann, Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik Hg. v. Werner Grünzweig und Gottfried Krieger. Wolke, Hofheim 1993.</ref> Das erste Symposion zu Leben und Werk Harald Kaufmanns veranstalteten Andreas Dorschel (Institut für Musikästhetik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz) sowie Petra Ernst und Gerald Lamprecht (Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz) am 20. und 21. Oktober 2010 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz.<ref>Website zum Kaufmann-Symposion</ref>
Das Harald Kaufmann Archiv wurde 1995 an der Akademie der Künste (Berlin) eingerichtet. Der umfangreiche Nachlass umfasst: Manuskripte und Vorarbeiten, u.a. zur Dissertation Methoden der philosophischen Interpretation, zu den Büchern Spurlinien und Fingerübungen sowie zur unveröffentlichten Studie Geist aus dem Ghetto: Zur jüdischen Kultur in der Donaumonarchie, Druckbelege von Rezensionen, Feuilletonartikeln und Werkeinführungen, Manuskripte von literarischen Arbeiten und Libretti, Notizhefte; Korrespondenz, u.a. mit Theodor W. Adorno, Hans Erich Apostel, Helene Berg, Alfred Brendel, Francis Burt, Friedrich Cerha, Luigi Dallapiccola, Johann Nepomuk David, Ulrich Dibelius, Herbert Eimert, Josef Häusler, Ernst Krenek, Rolf Liebermann, György Ligeti, Frank Martin, Josef Polnauer, Willi Reich, Rudolf Stephan, Heinrich Strobel, Hans Heinz Stuckenschmidt, Hans Swarowsky, Wieland Wagner und Hans Weigel sowie mit zahlreichen Institutionen; ferner biografische Unterlagen und Fotos.
Werke
- Methoden der philosophischen Interpretation (Diss.), Graz 1948
- Neue Musik in Steiermark, Graz 1957
- Hans Erich Apostel Lafite, Wien 1965
- Eine bürgerliche Musikgesellschaft. 150 Jahre Musikverein für Steiermark, Graz 1965
- Studien zur Wertungsforschung 1: Symposion für Musikkritik Hg. von Harald Kaufmann, Graz 1968
- Studien zur Wertungsforschung 2 Hg. von Harald Kaufmann, Graz 1969
- Spurlinien. Analytische Aufsätze über Sprache und Musik Lafite, Wien 1969
- Fingerübungen. Musikgesellschaft und Wertungsforschung Lafite, Wien 1970
- Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik Hg. v. Werner Grünzweig und Gottfried Krieger. Wolke, Hofheim 1993. ISBN 3-923997-52-3
Literatur
- Gerald Lamprecht: Schreiben und Forschen über jüdische Geschichte in Österreich nach der Shoah, in: transversal. Zeitschrift (des Centrums) für Jüdische Studien (an der Universität Graz), 13. Jahrgang 1/2012, S. 59–70 (Schwerpunktheft H. K.)
- Petra Ernst: Harald Kaufmanns Projekt „Geist aus dem Ghetto“ im Spiegel kulturwissenschaftlicher Forschung - eine Annäherung, in: transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien, 13. Jahrgang 1/2012, S. 42–57
- Heidy Zimmermann: „Man glaubt gar nicht, wie wenig Gojim es gibt“. Harald Kaufmanns kulturgeschichtlicher Versuch im Licht zeitgenössischer Diskurse, in: transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien, 13. Jahrgang 1/2012, S. 27–41
- Gottfried Krieger: „Geist aus dem Ghetto – Zum jüdischen intellektuellen Wien der Jahrhundertwende“. Ein unveröffentlichtes Buchprojekt des österreichischen Philosophen und Musikforschers Harald Kaufmann, in: transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien, 13. Jahrgang 1/2012, S. 7–26
- Federico Celestini: Struktur bei Schönberg, Figur bei Webern: Harald Kaufmanns polemische Analyse, in: Musik und Ästhetik, Heft 63, 2012, S. 43–54
- Gottfried Krieger: Ein Pionier der Musikpublizistik in Österreich. Zum Leben und Wirken von Harald Kaufmann (1927-1970), in: Österreichische Musikzeitschrift 65. Jg, Nr. 7–8, 2010, S. 4–12
- Harald Haslmayr: Neuerlicher Versuch über das Österreichische in der Musik, in: Österreichische Musikzeitschrift 65. Jg, Nr. 7–8, 2010, S. 13–22
- Werner Grünzweig, Gottfried Krieger: Werten als Wissenschaft: Spurlinien eines Begriffs. Der Grazer Musikforscher Harald Kaufmann (1927–1970), in: Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz Hg. v. Karl Acham. Böhlau, Wien 2009, S. 609–623
- Gottfried Krieger: Genie aus dem Ghetto. Die unveröffentlichten Arbeitstagebücher des österreichischen Musikforschers Harald Kaufmann, in: Musik als Lebensprogramm. Festschrift für Constantin Floros zum 70. Geburtstag Hg. v. Gottfried Krieger und Matthias Spindler. Peter Lang, Frankfurt 2000, S. 239–248
- Werner Grünzweig: Vom Glauben ans Nichtnegative oder: Der Optimismus einer Zeit, in: Von innen und außen Hg. von W. Grünzweig und G. Krieger. Wolke, Hofheim 1993, S. 308–318
- Gottfried Krieger: Erleben - Analysieren - Kritisieren. Zum Wechselverhältnis von Praxis und Theorie bei Harald Kaufmann, ebd. S. 9–14
Weblinks
- Literatur von und über Harald Kaufmann im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Harald Kaufmann Website
- Harald Kaufmann Archiv
- Online: (PDF; 197 kB) Gottfried Krieger: Volksbildner und Philosoph, Kritiker und kritischer Geist. Zum Leben und Werk des österreichischen Musikforschers Harald Kaufmann. Überarb. Vortrag auf dem Harald Kaufmann-Symposion am 20. Oktober 2010 in Graz
- Vortrag (PDF; 64 kB) von Bertl Mütter: Harald Kaufmann und György Ligeti. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst. (ebd.)
Einzelnachweise
<references/>
Personendaten | |
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NAME | Kaufmann, Harald |
KURZBESCHREIBUNG | österreichischer Musikforscher |
GEBURTSDATUM | 1. Oktober 1927 |
GEBURTSORT | Feldbach, Steiermark |
STERBEDATUM | 9. Juli 1970 |
STERBEORT | Graz |