Kulturelles Gedächtnis
Als kulturelles Gedächtnis bezeichnen die deutschen Kulturwissenschaftler Jan Assmann und Aleida Assmann „die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen.“<ref>Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. In: Derselbe: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen Beck, München 2006, ISBN 3-406-54977-2, S. 67–75, hier S. 70 (Seitenansicht in der Google-Buchsuche).</ref> Von sozialem Gedächtnis hatte bereits Aby Warburg gesprochen. Der Begriff mémoire collective stammt von Maurice Halbwachs.<ref>Vgl. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925, ders., La mémoire collective, Paris 1950.</ref> Stärker psychologistisch und biologistisch aufgefaßt ist dagegen die Archetypenlehre von Carl Gustav Jung .
Inhaltsverzeichnis
Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis
Kommunikatives Gedächtnis und kulturelles Gedächtnis sind die beiden Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses. Das kommunikative Gedächtnis ist auf die mündliche Überlieferung der vorangegangenen drei Generationen begrenzt, nach Assmann auf rund 80 Jahre. Es ist alltagsnah und gruppengebunden.
Das kulturelle Gedächtnis hingegen umfasst den archäologischen und schriftlichen Nachlass der Menschheit. Es bezieht sich auf eine mythische Urzeit. Weitergegeben wird es mündlich, schriftlich, normativ und narrativ. Gegenüber dem kommunikativen Gedächtnis zeichnet es sich durch ein gesteigertes Maß an Formalität und Geformtheit aus. Zentrale Begriffe des kulturellen Gedächtnisses sind Tradition und Wiederholung. In oralen Gesellschaften wird das kulturelle Gedächtnis von Gedächtnisexperten weitergegeben, es manifestiert sich in Gedenktagen und religiösen Festen.
Individuum und Kollektiv
Aleida Assmann wies auf die wichtige Rolle von Medien – „externer Speichermedien und kultureller Praktiken“<ref name="A.Assmann1999,19" /> – als Träger des kulturellen Gedächtnis hin: „mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien [wird] auch die Verfasstheit des Gedächtnisses notwendig mitverändert.“<ref name="A.Assmann1999,19">Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-50961-4, S. 19 (erstveröffentlicht 1999; Seitenansicht in der Google-Buchsuche).</ref>
Individuell wird das kulturelle Gedächtnis als Bildungsbesitz erworben. Seine Bedeutung und Funktion liegen im Bewusstsein um die uranfänglich vertikale Verankerung geistigen Lebens. Es ermöglicht sinnstiftend einen Lebensentwurf nach historischen, religiösen, mythischen oder philosophischen Vorbildern. Auch ein unreflektiert gelebtes Schicksal lässt sich aus der Perspektive des kulturellen Gedächtnisses als Kulturpodukt und Wiederholung erklären.
Auf einer weiteren Bedeutungsebene erweist sich das kulturelle Gedächtnis als Fundus kunsttauglicher Themen und Motive. Im Kunstwerk werden diese tradierten Inhalte jeweils neu gestaltet.
Siehe auch
- Archetypen
- Erinnerungskultur (Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit)
- Immaterielles kulturelles Erbe („nicht anfassbares“ Kulturerbe)
- Kulturelle Identität (Zugehörigkeitsgefühl einer Person oder Gruppe zu einem kulturellen Kollektiv)
- Mythomotorik (nach Assmann: kollektiv handlungsleitende Wirkung von Mythen)
- Kalte und heiße Kulturen oder Optionen (unterschiedliche Bereitschaft zum kulturellen Wandel)
Literatur
- Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 7. Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-56844-2 (erstveröffentlicht 1992; Leseprobe in der Google-Buchsuche).
- Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann, Tonio Hölscher (Hrsg.). Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19 ISBN 3-518-28324-3 [1]
- Aleida Assmann, Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in Kommunikationswissenschaften. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, ISBN 3-531-12327-0, S. 114–140.
- Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-50961-4 (erstveröffentlicht 1999; Leseprobe in der Google-Buchsuche).
- Aleida Assmann: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Harald Welzer (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburger Edition, Hamburg 2001, ISBN 3-930908-66-2, S. 103–122.
- Eva Dewes, Sandra Duhem (Hrsg.): Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext. Akademie, Berlin 2008, ISBN 978-3-05-004132-2.
- Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik (= Jahrbuch für Kulturpolitik. Band 9). Klartext, Bonn/Essen 2009, ISBN 978-3-8375-0192-6.
- Christoph Schmitt: Über das Erinnern in der Hofkunst Alfonso d’Estes. Ein kunsthistorischer Versuch zur Theorie des kulturellen Gedächtnisses am Beispiel allegorisch-mythologischer Gemälde. Universität Hamburg, Hamburg 2005 (Doktorarbeit; PDF-Datei; 11 MB; 300 Seiten).
Weblinks
- Glossar-Eintrag: »Kulturelles Gedächtnis«. In: forum interkultur. Institut für Soziale und Kulturelle Arbeit Nürnberg (ISKA) und Medienagentur exmt, 2005, abgerufen am 18. August 2014.
Einzelnachweise
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