Dersim-Aufstand


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Der Dersim-Aufstand war nach der Niederschlagung des Scheich-Said-Aufstands der letzte große Kurdenaufstand in der Türkei. Er ereignete sich 1937/38 in der Region Dersim, die in etwa der heutigen Provinz Tunceli entspricht, und wurde angeführt von den Eliten der sogenannten Dersim-Kurden, welche zu den Zaza zählen. Als Anführer gilt Said Rıza. Staatlichen türkischen Berichten zufolge sollen zehn Prozent der damals insgesamt 65.000 bis 70.000 Einwohner der betroffenen Teile des historischen Dersims<ref>Martin van Bruinessen in: Genocide: Conceptual and Historical Dimensions. Philadelphia 1994, S. 141f</ref> im Verlauf der Auseinandersetzungen getötet worden sein. Wahrscheinlich waren es 10.000 Todesopfer oder weit mehr.<ref>Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Chronos, Zürich 2000, S. 411</ref> Die Regierung schlug die Revolte mit massiver Gewalt gegen Rebellen und Zivilisten nieder. Zahlreiche Bewohner wurden aus ihren Dörfern vertrieben, die anschließend zerstört wurden. Die Verluste auf Seiten der Armee betrugen etwa 100 Soldaten.<ref>Günter Seufert: Die Kurden und andere Minderheiten, in: Udo Steinbach (Hrsg.): Länderbericht Türkei. Bonn 2012, S. 238</ref> Im Jahr 2011 entschuldigte sich die türkische Regierung für die Massaker und räumte 13.806 Todesopfer ein.

Hintergrund

Landschaft, politische Zugehörigkeit und Bevölkerung Dersims

Das gebirgige Dersim war in seiner Geschichte vielfach Grenzregion verschiedener Herrschaftsgebiete und hatte auch im Osmanischen Reich seinen eigenständigen Charakter bewahrt. Dersim war eine Zeit lang Teil des Eyâlets Diyârbekir, das damals ein weiter nach Norden reichendes Gebiet umfasste als die heutige Provinz Diyarbakır. 1880 wurde es zu einer selbständigen Provinz Vilâyet Dersim und acht Jahre später Harput angegliedert. Das historische Dersim war größer als die Provinz zur Zeit des Aufstandes. Die Bevölkerung bekannte sich mehrheitlich zum alevitischen Glauben und sprach größtenteils Zazaki. Ein kleiner Teil der Aleviten sprach Kurmandschi. Damit unterschieden sich die Bewohner Dersims sprachlich und religiös von den sunnitischen Kurden der benachbarten Provinzen. Sie galten in den 1930er Jahren dennoch als Kurden. Die Wahrnehmung als eigenständige Nation existierte noch nicht.<ref>Vgl. Martin van Bruinessen: The Kurds and Islam. Tokyo, Japan, 1999. (englisch)</ref>

Die Einwohner Dersims beteiligten sich nicht an den kurdischen Hamidiye-Regimentern. Während des Völkermords an den Armeniern retteten sie Zehntausende von Armeniern.<ref>Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Chronos, Zürich 2000, S. 396</ref> Die letzten Strafexpeditionen während des Osmanischen Reiches in Dersim fanden in den Jahren 1908 und 1916 statt.<ref>Vgl. hierzu das Kap. IV im Buch des Oberst im Generalstab über die Aufstände in Dersim während des osmanischen Reiches: Burhan Özkök: Osmanlı Devrinde Dersim İsyanları. Istanbul (Druckerei der Armee) 1937</ref> Beim Aufstand Scheich Saids im Jahre 1925 kämpften sie auf der Seite des Staates.<ref>Martin von Bruinessen: Agha, Scheich und Staat. Berlin 1989, S. 401.</ref>

Herrschaftsstrukturen und Wirtschaftsweise in Dersim

Die traditionellen Gemeinschafts- und Stammesstrukturen und das Stammesrecht waren in den 1930er Jahren noch weitgehend intakt. Der Einfluss des Staates war gering. Es gab etwa 100 kleine Stämme, deren Führer um die Vorherrschaft rangen und sich mitunter blutige Fehden lieferten, in die sich die Armee bisweilen hineinziehen ließ.<ref name="Bruinessen">Martin van Bruinessen: Genocide in Kurdistan? 1994, S. 141–170.</ref> Die Bevölkerung lebte in der Hauptsache von Ackerbau und Viehzucht, meist in Form von halbnomadischer Transhumanz.<ref>Rüdiger Alte: Der Aufstand von Dersim 1937/38. In: Finis mundi – Endzeiten und Weltenden im östlichen Europa. Stuttgart 1998, S. 149</ref> Sie war arm und wenig gebildet. Ein kurdischer Nationalismus war insbesondere unter den gut ausgebildeten Söhnen führender Familien verbreitet.<ref name="Bruinessen"/>

Modernisierungs- und Einheitsbestrebungen der Republik Türkei

Die feudalen Verhältnisse standen im Gegensatz zu den Modernisierungsbestrebungen der jungen Republik Türkei. Die staatliche Elite strebte danach, der Region die Zivilisation (medeniyet) nahezubringen. Man wollte Straßen, Schulen und Fabriken bauen und die Bevölkerung von der Vormundschaft der alevitischen religiösen Führer, der Dedes, und der Feudalherren befreien. Dersim symbolisierte die Rückständigkeit des Osmanischen Reiches, die es zu überwinden galt.

Auch die ethnische Struktur Dersims stand im Gegensatz zum Nationalitätsverständnis und Einheitsbestreben des Staates. Kurden und Zaza wurden als potenzielle Gefahr für die staatliche Einheit betrachtet. Die Türkisierung der Bevölkerung war ein Mittel, dieser Gefahr zu begegnen.

Der Generalstabschef Fevzi Çakmak inspizierte die Region im Jahre 1930 und sandte dem Innenministerium und dem Ministerpräsidialamt einen Bericht, in dem er die Bombardierung verschiedener „dreister“ kurdischer Dörfer mit Hilfe der türkischen Luftwaffe als Exempel für alle vorschlug. Die Dörfer bezahlten keine Steuern, schickten ihre Kinder nicht zum Militär und wollten ihre Waffen nicht abgeben. Außerdem äußerte Çakmak Sorgen, dass 10.000 Kurden versuchten, türkische Dörfer zu „kurdisieren“.<ref>Genelkurmay belgelerinde Kürt isyanları. Bd. II, Istanbul 1992, S. 11</ref> Einen Monat später begannen am 24. Oktober und am 1. November zwei kleinere Operationen in Pülümür. Dabei wurde nach Berichten des türkischen Generalstabs bei der letzten Operation u.a. das Dorf Kürk niedergebrannt und alle „Räuber“ in der Nähe des Dorfes vernichtet.

Innenminister Şükrü Kaya bereiste ein Jahr später das Gebiet und stellte fest, dass Stammesrecht gehandhabt werde und die Bevölkerung kaum Steuern zahle. Ferner gebe es massenhaften Waffenbesitz. Es herrsche Gesetzlosigkeit und man drücke sich vor der Wehrpflicht. Er schlug einen Zweistufenplan vor, der die Durchsetzung staatlicher Gewalt, Schulbildung und Türkisierung der Bevölkerung vorsah.<ref>Faik Bulut (Hrsg.): Belgelerle Dersim Raporları. Istanbul 1991, S. 148ff.</ref> Atatürk bezeichnete 1936 im türkischen Parlament die „Dersim-Frage“ als das wichtigste innenpolitische Problem des Landes.<ref>Paul J. White: Primitive rebels or revolutionary modernisers? Zed Books 2000, S. 79.</ref>

In der türkischen Presse und auch von Regierungsmitgliedern wurde Dersim als ‚Krankheit‘ (hastalık) und ‚Unheil‘ (belâ) bezeichnet. Die Macht der Aghas müsse gebrochen werden. Es sollten wirtschaftliche Maßnahmen eingeleitet, Straßen und Schulen gebaut und die Bevölkerung für den Staat „erwärmt werden“. Die Bewohner hätten sich vom Türkentum „entfremdet“, ihre Sprache zum Teil vergessen und angefangen, sich für Kurden zu halten.<ref>Ahmet Emin Yalman in der Tageszeitung Tan vom 15. Juni 1937. Faksimile bei M. Kalman: Belge ve tanıklarıyla Dersim Direnişleri. Istanbul 1995, S. 270.</ref>

Besiedlungsgesetz 1934

Datei:Iskan kanunu.gif
Das Besiedlungsgesetz im Amtsblatt

Am 21. Juni 1934 trat das sogenannte Besiedlungsgesetz<ref>Besiedlungsgesetz Nr. 2510 vom 14. Juni 1934, RG Nr. 2733 vom 21. Juni 1934, S. 4003 ff. (PDF-Datei; 1,23 MB).</ref> (İskân Kanunu) mit Veröffentlichung im Amtsblatt der Türkei in Kraft. Ziel des Gesetzes war die Türkisierung der Bevölkerung, die staatliche Vertreter ohnehin zu den „ursprünglichen Türken“ rechneten.<ref name="Bruinessen" /> Dersim war das erste Gebiet, in dem das Gesetz zur Geltung kommen sollte.

Die Türkei wurde laut dem Mitte 1947 aufgehobenen<ref>Mit Art. 13 des Gesetzes Nr. 5098 vom 18. Juni 1947, RG Nr. 6640 vom 24. Juni 1947, S. 12542 ff. (PDF-Datei; 1,06 MB).</ref> Artikel 2 in drei Zonen unterteilt:

  1. Regionen, in denen Bevölkerung türkischer Kultur angesiedelt werden soll
  2. Regionen, die für den Transport und die Ansiedlung jener Bevölkerung vorgesehen sind, die der türkischen Kultur angeglichen werden soll
  3. Regionen, die unter anderem aus Gründen der Kultur, Politik, des Militärs und der Ordnung entvölkert werden sollen und in denen Ansiedlung und Wohnen verboten waren.<ref>Auszüge einer Übersetzung des Besiedlungsgesetzes bei Ismail Görer: Programme und Akteure der Kurdenpolitik in der Türkei. Versuch einer Einschätzung der interethnischen Koexistenzperspektiven. Der Andere Verlag, Osnabrück 2003, S. 94f.</ref>

Alle Institutionen der tribalen und religiösen Führung wurden abgeschafft und ihr Grundbesitz wurde konfisziert (Art. 10). Laut Ursprungstext sollten nicht-türkische Nomadenstämme in „Dörfern türkischer Kultur“ angesiedelt werden (Art. 9). „Diejenigen, die nicht der türkischen Kultur angehören“ oder ihr zwar angehören, „jedoch eine andere Sprache sprechen“, konnten umgesiedelt oder ausgebürgert werden (Art. 11 lit. B). Die Region Dersim wurde zu einer Region der dritten Kategorie erklärt und war somit für eine Entvölkerung vorgesehen.<ref>Asa Lundgren: The unwelcome neighbour. Turkey's Kurdish Policy. I. B. Tauris 2007, S. 44.</ref>

Militärverwaltung

Anfang 1936 wurde Dersim in Tunçeli Feuer vernichtet. So wurden in den Höhlen im durchkämmten Gebiet insgesamt 216 Räuber vernichtet.<ref>Reşat Hallı: Türkiye Cumhuriyetinde Ayaklanmalar (1924–1938). Ankara: T. C. Genelkurmay Baskanlıgı Harp Tarihi Dairesi 1972, S. 437.</ref>“

In einer Schulungsbroschüre der Jandarma mit dem Titel „Führer über die Operationen zur Verfolgung von Räubern, über die Durchsuchung von Dörfern und das Einsammeln der Waffen im Gebiet Tunceli“ aus dem Jahre 1938 heißt es im Kapitel über die „Suche nach Räubern im Dorf“: „Dörfer, in denen geschossen wird, müssen verbrannt werden“. Im nächsten Abschnitt werden die speziellen Schwierigkeiten beim Abbrennen der Häuser thematisiert und Ratschläge erteilt, wie man die Häuser anzündet.<ref>Titel der Broschüre: Tunceli Bölgesinde Yapılan Eşkiya Takibi Hareketleri, Köy Arama ve Silah Toplama İşleri Hakkında Kılavuz. Vgl. M. Kalman: Belge ve tanıklarıyla Dersim Direnişleri. Istanbul 1995, S. 359.</ref> Celâl Bayar verkündete am 29. Juni 1938 vor der Nationalversammlung, die Armee werde mit einer allgemeinen Säuberungsaktion die Verfolgungstruppen unterstützen und dieses Problem ein für alle Mal ausradieren.<ref>Hans-Lukas Kieser: The Alevis’ Ambivalent Encounter With Modernity. Islam, Reform and Ethnopolitics In Turkey (19th-20th cc.). (PDF, 141 KB; englisch)</ref>

Die Augenzeugin Menez Akkaya aus dem Dorf Halborulu berichtete:

„“

Datei:Breguet 19 Sabiha.jpg
Die erste Kampfpilotin der Welt und der Türkei Sabiha Gökçen nahm an der Bombardierung Dersims mit teil. Hier steht sie vor einem Breguet 19 Doppeldecker-Bomber.

Die türkischen Truppen umfassten auf dem Höhepunkt der Kämpfe drei Armeekorps mit etwa 50.000 Mann. Die Dersimer Stämme waren der Armee nicht gewachsen.<ref name="Strohmeier">Martin Strohmeier, Lale Yalçin-Heckmann: Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur. München 2003, S. 101.</ref> Bei den Kämpfen wurde die Armee von der Luftwaffe unterstützt.<ref>Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Zürich 2000, S. 411.</ref> Insgesamt wurden 40 Flugzeuge für Aufklärung und Bombardements eingesetzt.<ref name="Mcdowall209">David McDowall: A Modern History of the Kurds. London 2004, S. 209.</ref> Die Flugzeuge starteten von Stützpunkten in Diyarbakır und Elazığ aus. Auch die Adoptivtochter Atatürks, Sabiha Gökçen, war als Pilotin an den Bombardements beteiligt. Ein Bericht des Generalstabs sprach von „schweren Schäden“, die ihre 50-Kilo-Bombe unter einer Gruppe von „50 flüchtenden Räubern“ angerichtet habe.<ref> Reşat Hallı: Türkiye Cumhuriyetinde Ayaklanmalar (1924–1938). Ankara: T. C. Genelkurmay Baskanlığı Harp Tarihi Dairesi 1972, S. 382.</ref>

Der britische Konsul in Trabzon berichtete seinem Botschafter in Ankara:

Thousands of Kurds including women and children were slain; others, mostly children, were thrown into the Euphrates; while thousands of others in less hostile areas, who had first been deprived of their cattle and other belongings, were deported to vilayets (provinces) in Central Anatolia. It is now stated that the Kurdish question no longer exists in Turkey.<ref>Bericht des britischen Konsuls in Trabzon an Botschafter Loraine vom 27. September 1938, zitiert nach David McDowall: A Modern History of the Kurds. London, New York 1996, S. 209. (Originalquelle: Public Record Office, London, FO 371 files, document E5961/69/44)</ref>”

Tonaufzeichnungen einer Reportage aus dem Jahre 1986 mit dem Zeitzeugen und späteren Außenminister Çağlayangil sollen den Einsatz von Giftgas durch die Armee belegen. Wörtlich heißt es:

„Sie hatten sich in Höhlen geflüchtet. Die Armee setzte Giftgas ein. Durch den Höhleneingang. Sie vergifteten sie wie Mäuse. Sie schlachteten jene Dersim-Kurden [im Alter] von sieben bis siebzig Jahren. Es wurde eine blutige Operation.<ref>Türkisches Original: Mağaralara iltica etmişlerdi. Ordu zehirli gaz kullandı. Mağaraların kapısının içinden. Bunları fare gibi zehirledi. Yediden yetmişe o Dersim Kürtlerini kestiler. Kanlı bir hareket oldu. Aus: Ayşe Hür in der Zeitung Taraf vom 16. November 2008.</ref>“

Maßnahmen nach der endgültigen Niederschlagung des Aufstandes

Die Auseinandersetzungen gingen noch bis Oktober 1938 weiter. Nach der endgültigen Niederschlagung des Aufstandes wurden zahlreiche Bewohner in andere Landesteile deportiert, wofür eigens Auffanglager eingerichtet wurden. Es wird von bis zu 50.000 Deportierten berichtet.<ref>Geoffrey Haig: The Invisibilisation of Kurdish. The Other Side of Language Planning in Turkey. In: Stephan Conermann und Geoffrey Haig (Hrsg.): Asien und Afrika. Beiträge des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien (ZAAS) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Bd. 8. Die Kurden. Schenefeld 2004, S. 129.</ref> Die Menschen wurden in die Provinzen Manisa, Tekirdağ, Balıkesir, Kırklareli, Edirne und Izmir umgesiedelt.<ref>M. Kalman: Belge ve tanıklarıyla Dersim Direnişleri. Istanbul 1995, S. 192–195.</ref>

Auswirkungen

Dersim markierte das Ende tribaler, ethnischer und religiöser Aufstände in der Türkei.<ref name="Mcdowall209"/> Eine Amnestie für Bewohner, die sich in die Berge geflüchtet hatten, wurde 1946 – Jahre nach dem Aufstand – erlassen. Am 1. Januar 1947 hob die Regierung das „Tunceli-Gesetz“ auf. Den Ausnahmezustand beendete sie im Jahre 1948.<ref>Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Zürich 2000, S. 410.</ref> Erst danach wurde der Zutritt zur Region wieder ermöglicht. Osman Mete, Korrespondent der damals meist verkauften Zeitung Anatoliens Son Posta, bereiste das Gebiet zehn Jahre nach dem Aufstand und berichtete erschüttert über die völlige Abwesenheit von Schulen, Straßen und medizinischer Versorgung.<ref>Osman Mete in Son Posta, April 1948, zitiert nach: Ali Kemal Özcan: Turkey's Kurds: A Theoretical Analysis of the PKK and Abdullah Ocalan. New York 2006, S. 85.</ref> Die unmittelbaren Folgen des Dersim-Aufstandes waren eine großflächige Verheerung des Landstriches, der Tod von möglicherweise mehr als 10.000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, und die Deportation Zehntausender Einwohner.<ref>Die Historikerin und Publizistin Ayşe Hür in der Tageszeitung Radikal vom 12. Februar 2006.</ref><ref name="Hans-Lukas Kieser: Some Remarks"/> Dem Aufstand folgte eine zwei Jahrzehnte währende Phase ohne Widerstand gegen die Zentralregierung. Dabei spielten nicht nur die Zwangsmaßnahmen, sondern auch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine Rolle, der auch in den kurdischen Gebieten mit Sorge betrachtet wurde.<ref>Hamit Bozarslan: Kurds and the turkish State. In: Suraiya Faroqhi und Reşat Kasaba (Hrsg.): The Cambridge history of Turkey. Bd. 4, Turkey in the modern World, S. 343.</ref>

Als die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Mitte der 1980er Jahre den bewaffneten Kampf aufnahm, war Dersim erneut Schauplatz von Kämpfen. Die Armee ließ im Jahre 1994 ein Drittel der Dörfer zwangsräumen und zerstören und brannte große Areale Wald nieder.<ref>Martin van Bruinessen: Forced Evacuations and Destruction of Villages in Dersim (Tunceli) and western Bingöl, Turkish Kurdistan September-November 1994. (PDF, 4,71 MB; englisch)</ref> Heute finden noch vereinzelt Kämpfe statt. Die Politik der Zerstörung von Dörfern wurde aufgegeben.

Am 23. November 2011 nahm der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan Stellung zu den Ereignissen und entschuldigte sich öffentlich für die Vorgehensweise der staatlichen türkischen Stellen gegenüber den Kurden. Er bezeichnete die Vorgänge von Dersim als die „tragischsten und schmerzhaftesten Ereignisse“ der neueren türkischen Geschichte.<ref>Vorlage:Internetquelle/Wartung/Zugriffsdatum nicht im ISO-FormatVorlage:Internetquelle/Wartung/Datum nicht im ISO-FormatTürkischer Ministerpräsident bricht mit Tabu: Erdogan entschuldigt sich für Massaker an Kurden. tagesschau.de, 23. November 2011, abgerufen am 23. November 2011.</ref>

Bewertung

Die Niederschlagung des Dersim-Aufstandes gilt als eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Republik Türkei.<ref>Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Zürich 2000, S. 412</ref> Die wichtigste schriftliche Quelle über die bewaffneten Auseinandersetzungen ist das Buch Türkiye Cumhuriyetinde Ayaklanmalar (1924–1938). Dieses Buch wurde von der historischen Abteilung des türkischen Generalstabs veröffentlicht und bietet eine chronologische Abfolge isolierter Ereignisse.<ref name="Bruinessen"/> Zur Zeit des Aufstandes gab es keine ausländischen Beobachter in der Region; denn bereits während des Koçgiri-Aufstandes hatte die Regierung alle Missionare des Landes verwiesen. Diese fehlten nun, um der Welt von dem „Krieg gegen Männer, Frauen und Kinder“, von der Zerstörung ganzer Ortschaften und der Deportation ihrer Einwohner zu berichten.<ref name="Hans-Lukas Kieser: Some Remarks">Hans-Lukas Kieser: Some Remarks on Alevi Responses to the Missionaries in Eastern Anatolia (19th-20th cc.). In: Altruism and Imperialism. The Western Religious and Cultural Missionary Enterprise in the Middle East. Middle East Institute Conference: Bellagio Italien, August 2000</ref> Ein Massengrab aus diesen Tagen befindet sich in Alacık.

Abendländische Standardwerke von Bernard Lewis<ref>Bernard Lewis: The Emergence of Modern Turkey. London 1962</ref> und Stanford J. Shaw<ref>Stanford J. Shaw and Ezel Kural Shaw: Shaw, History of the Ottoman Empire and of Modern Turkey. Band 2: The Rise of Modern Turkey 1808-1975. Cambridge 1977</ref> erwähnen die Ereignisse mit keinem Wort.<ref name="Bruinessen"/> Der Aufstand und die Art der Niederschlagung wurden auch in der türkischen Geschichtswissenschaft lange Zeit nicht thematisiert, die Beteiligten wurden in der türkischen Öffentlichkeit als Briganten hingestellt.<ref>Mesut Yegen: The Kurdish Question in Turkish State Discourse. In: Journal of Contemporary History. 34, Nr. 4, 1999, ISSN 00220094, S. 555-568, S. 563f..</ref> İsmail Beşikçi war einer der ersten, die über die Vorgänge schrieben. Das Buch Tunceli Kanunu (1935) ve Dersim Jenosidi wurde verboten und Beşikci saß wegen seiner Veröffentlichungen mehr als zehn Jahre im Gefängnis.

Das Thema löst große Kontroversen aus, von kurdischer Seite wird vielfach von Genozid gesprochen. Eine Politik der gezielten physischen Vernichtung eines Teils der kurdischen Minderheit hat es nach Ansicht von Martin van Bruinessen allerdings nie gegeben.<ref name="Bruinessen"/> Das Umsiedlungsgesetz, die Reformmaßnahmen und die militärische Kampagne waren Teil der Türkisierungspolitik und richteten sich primär gegen die kurdische Identität und Sprache. Wissenschaftler wie van Bruinessen und Hans-Lukas Kieser bewerten die Niederschlagung und Umsiedlung als Ethnozid. Günter Seufert bewertet die Ereignisse als Feldzug oder Krieg, für den die anfänglichen Scharmützel nur als Vorwand gedient hätten.

Der Völkerbund wurde über die Vorfälle in Dersim in Kenntnis gesetzt. Nuri Dersimi schrieb am 14. September 1937 von seinem syrischen Asyl aus einen zweiseitigen französischen Brief an den Völkerbund in Genf. Er unterzeichnete den Brief mit „Seyid Rıza“. Der Völkerbund reagierte nicht. Nach der Hinrichtung Seyid Rızas schrieb Dersimi erneut. Der Völkerbund betrachtete die Ereignisse aber als innere Angelegenheit der Türkei, da eine muslimische Minderheit betroffen war und dies die Minderheitenklauseln des Lausanner Vertrags nicht berührte.<ref>Hans-Lukas Kieser: Nuri Dersimi, ein asylsuchender Kurde. (PDF; 99 KB)</ref>

Literatur

  • Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938. Chronos, Zürich 2000, S. 408ff.
  • Martin van Bruinessen: Genocide in Kurdistan? The Suppression of the Dersim Rebellion in Turkey (1937–1938) and the Chemical War against the Iraqi Kurds (1988). In: George J. Andreopoulos (Hrsg.): Genocide – Conceptueal an Historical Dimension. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1994, S. 141–170. (PDF, 134 KB; englisch)
  • Genelkurmay belgelerinde Kürt isyanları. Bd. II, Istanbul 1992.

Belletristische Darstellungen

Weblinks

Commons Commons: Dersim-Aufstand – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise und Anmerkungen

<references/>

24px Dieser Artikel wurde am 10. Oktober 2009 in dieser Version in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen.
ar:مذبحة درسيم

fa:کشتار درسیم mzn:درسیم قتل‌عام