Rachid al-Ghannouchi


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Rachid al-Ghannouchi (arabisch ‏راشد الغنوشي‎ Raschid al-Ghannuschi, DMG Rāšid al-Ġannūšī; * 22. Juni 1941 in El Hamma) ist ein tunesischer Politiker und Anführer der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei.

Er ist ein wichtiger Intellektueller des politischen Islam und führt seit 1981 eine politische Bewegung, die einen demokratischen islamischen Staat propagiert und mit den hart kritisierten despotischen Regimen der tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba und Ben Ali in Konflikt geriet. Er verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis und ging 1989 ins Exil nach London, wo er bis 2011 blieb. Seine politischen Ansichten blieben im Westen umstritten und wurden immer wieder in der Nähe des radikalen Islamismus verortet; so war ihm die Einreise in die Vereinigten Staaten verboten.

Durch die Revolution in Tunesien 2010/2011 wurde das autokratische Regime Ben Alis Mitte Januar 2011 gestürzt, Ghannouchi kehrte am 30. Januar 2011 nach Tunesien zurück. Ennahda wurde am 1. März 2011 wieder als politische Partei zugelassen, gewann unter Ghannouchis Führung mit 37 Prozent der Stimmen die erste freie Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens 2011 und stellte von Dezember 2011 bis Januar 2014 den Ministerpräsidenten. Ennahda einigte sich im Januar 2014 mit den säkularen politischen Kräften auf eine als fortschrittlich geltende neue Verfassung und gab die Macht an eine übergangsweise Technokratenregierung unter Mehdi Jomaâ ab, die die erste Wahl zum neugeschaffenen Parlament im Oktober 2014 organisierte. Dabei wurde Ennahda zweitstärkste Kraft (etwa 27 Prozent) hinter der säkularen Sammlungsbewegung Nidaa Tounes (etwa 38 Prozent); Ghannouchi akzeptierte das Ergebnis und ließ keinen eigenen Kandidaten für die folgende Präsidentschaftswahl in Tunesien 2014 aufstellen. Ghannouchi, der immer wieder die Notwendigkeit einer Regierung der nationalen Einheit betont hat, führte seine Partei in die erste demokratisch legitimierte reguläre Regierung Tunesiens, das am 6. Februar 2015 angetretene Kabinett Essid.

Biografie

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Rachid Ghannouchi um 1980

Familie und Ausbildung

Rachid al-Ghannouchi wurde am 22. Juni 1941 in einer tunesischen Kleinstadt geboren. Durch seine religiöse Familie – der Vater war Imam – kam er früh mit der islamischen Religion in Berührung. Prägend waren für ihn die Geschehnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der tunesische Widerstand gegen die französische Kolonialpolitik. Als er als Jugendlicher die Vorbereitungsschule der Zaitouna-Universität besuchte, kam er zum ersten Mal mit der säkularen Moderne der Städte in Berührung, die in starken Kontrast zum einfachen und religiös geprägten Leben auf dem Land stand, wo er aufwuchs. Ähnlich wie viele junge Tunesier seiner Zeit fiel er bald in eine Identitätskrise zwischen säkularer, französisch beeinflusster Moderne und religiösen und kulturellen Wurzeln, die keine Relevanz im Säkularismus der französischen Kolonialzeit und dem nachfolgenden Bourguiba-Regime besaßen.<ref name="tamimiohneseitenzahl">Azzam Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat Within Islamism. Oxford University Press, New York 2001</ref>

Von 1959 bis 1962 studierte er an der Universität Ez-Zitouna in Tunis, zog anschließend für kurze Zeit nach Kairo, wo er ein Landwirtschaftsstudium begann. Aufgrund der politischen Umstände floh er jedoch wenige Monate später nach Syrien und studierte in Damaskus von 1964 bis 1968 Philosophie. 1965 reiste er das erste Mal nach Europa und durch Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Dort gewann er den Eindruck, Europa sei von religiösem Verfall und fehlender Moral geprägt. Diese subjektiven Wahrnehmungen wogen schwer. 1968 zog er nach Paris, brachte sein dortiges Philosophiestudium aber nicht zu Ende.

Politische Aktivitäten im alten Regime

Er kehrte nach Tunesien zurück und begann dort, Philosophie zu unterrichten. Erste Artikel erschienen zur Reformierung der Unterrichtspläne an Schulen.<ref name="tamimiohneseitenzahl"/> Von 1970 bis 1973 leitete er die von ihm ins Leben gerufene Jamâa al-Islamiya, eine religiöse Vereinigung, die sich darauf konzentrierte, die Verwestlichung Tunesiens zu kritisieren. Die Gruppe wurde 1973 wie auch andere soziale und politische Gruppierungen vom Bourguiba-Regime verboten. Die Arbeiterproteste in Tunis 1978 sowie die Islamische Revolution im Iran 1979 inspirierten Ghannouchi zu einer Weiterentwicklung seiner Ideologie. 1981 gründete er das Mouvement de la Tendance Islamique (MTI), eine islamistische Gruppe, die seiner Ideologie folgend die despotische Regierung kritisierte und sich für einen demokratisch inspirierten islamischen Staat einsetzte. In der Folge wurde Ghannouchi inhaftiert und verbrachte die Jahre 1981 bis 1984 im Gefängnis. 1987 wurde er erneut inhaftiert und zusammen mit anderen führenden Persönlichkeiten der MTI-Bewegung wegen Anstiftung zu Gewalt und Aufwiegelung zu einem Staatsstreich zum Tode verurteilt. Der Fall Ghannouchi wurde zum Politikum, Politiker auch in der Regierungspartei Bourguibas kritisierten den Prozess, Richter hoben die verhängte Todesstrafe wieder auf.<ref name="tamimiohneseitenzahl"/>

1987 löste Zine El Abidine Ben Ali Habib Bourguiba an der Spitze des Staates ab, Ghannouchi und andere inhaftierte Mitglieder der MTI kamen 1988 frei. Die Führung der Gruppe übernahm 1988 Sadok Chourou, der als radikal eingestuft wird, während Ghannouchi noch inhaftiert war.<ref>Dunn (1994), S. 158</ref> Nachdem Ben Ali ein pluralistischeres politisches System ankündigt hatte, stellte Ghannouchi einen Antrag auf Anerkennung der MTI, die sich in Ennahda umbenannte. Mitglieder der Partei nahmen als unabhängige Kandidaten an den Parlamentswahlen 1989 teil und errangen große Erfolge. Das Regime jedoch akzeptierte einen solchen Machtgewinn für eine Oppositionspartei nicht und lehnte den Antrag auf Anerkennung der Nahda-Partei ab. Mitglieder wurden von nun an als Mitglieder einer illegalen politischen Vereinigung verfolgt. Ghannouchi floh 1989 ins britische Exil, wo er bis 2011 lebte.<ref name="tamimiohneseitenzahl"/>

Im britischen Exil

Anfang der 1990er machte er Schlagzeilen durch seine radikale Kritik der amerikanischen Präsenz in Saudi-Arabien während des Golfkrieges. Analysten sehen diese Radikalisierung als politischen Zug, um die tunesische Regierung mit ihrer Unterstützung der anti-irakischen Allianz zu Sturz zu bringen – ursprünglich lehnte Ennahda das Regime Saddam Husseins als unislamisch ab. Ghannouchi rief in seinen folgenden Reden und Schriften Muslime weltweit zum Kampf gegen die saudische Regierung auf, die sich mit ihrer Einladung der Amerikaner in das Land der heiligen Stätten des Islams aus Sicht der Islamisten als „unislamisch“ disqualifiziert hatte. Kritiker werfen Ghannouchi die Anwendung des Takfir vor, was den Kampf gegen des Unglaubens bezichtigte Staaten legitimiere.<ref>Dunn (1994), S. 159</ref> In den folgenden beiden Jahren erhob das Regime Vorwürfe gegen Ghannouchi, indem es ihn mit aufgedeckten Terrorplänen Ennahdas in Tunesien in Verbindung brachte. Ghannouchi erwirkte gerichtlich mehrfach von verschiedenen britischen Zeitungen die Feststellung, dass er als in London lebender Ex-Führer der Ennahda keine Beteiligung oder Mitwissen an derartigen Terrorplänen nachzuweisen sei.<ref>Dunn (1994), S. 160–161</ref>

Im Mai 2001 segnete er in einer von Al-Jazeera ausgestrahlten Fernsehsendung die Mütter von Selbstmordattentätern mit den Worten: „Ich möchte meine Segenswünsche den Müttern dieser Jugendlichen übermitteln, dieser Männer, denen es gelungen ist, ein neues Gleichgewicht der Kräfte zu erringen… Ich segne die Mütter, die im gesegneten Palästina den Samen dieser Jugendlichen gepflanzt haben, die dem internationalen System und den von den USA unterstützten arroganten Israelis eine wichtige Lehre erteilt haben. Die palästinensische Frau, die Mutter der Shahids </ref>, der der Führung von Yusuf al-Qaradawi untersteht und den ägyptischen Muslimbrüdern zugerechnet wird. Wichtigstes Ziel dieses Rates ist es, das Leben der Muslime in Europa entsprechend den Bestimmungen der Scharia zu regeln.<ref>Ziele des ECFR: [2]</ref> Wie das Middle East Media Research Institute berichtet, hat Qaradawi selbst noch im Jahr 2004 eine Fatwa erlassen, die in der Al-Ahram Al-Arabi vom 3. Juli desselben Jahres erschienen ist und die das Töten muslimischer Intellektueller als Apostaten erlaubt. Jawad Hashim und Shaker Al-Nabulsi schrieben 2004 in einer Petition an die Vereinten Nationen einen Aufruf zur Reaktion auf religiösen Extremismus als bestärkendes Element für den Terrorismus. Insbesondere legten sie ihr Augenmerk auf Fatwas, die Gewalt billigen und führten eine Reihe von Beispielen auf. Sie schreiben al-Ghannouchi darin eine Fatwa zu, die es erlaube, alle israelischen Zivilisten zu töten, weil es, so seine Rechtfertigung, in Israel keine Zivilisten gebe, denn die Bevölkerung − Männer, Frauen und Kinder − sei die Reserve der Armee und daher als solche zu töten.<ref>Special Dispatch Arab Liberals Petition the U.N. to Establish an International Tribunal for the Prosecution of Terrorists. In: MEMRI. The Middle East Media Research Institute, 8. November 2004.</ref>

Literatur

  • Azzam Tamimi: Rachid Ghannouchi: A Democrat Within Islamism. Oxford University Press, New York 2001.<ref>Rezension von Martin Kramer. In: Middle East Quarterly des Middle East Forum, Herbst 2002.</ref>
  • Joyce M. Davis: Interview with Rachid al-Ghannouchi. In: Between Jihad and Salaam: Profiles in Islam. MacMillan, 1997.
  • Michael Collins Dunn: The Al-Nahda Movement in Tunisia: From Renaissance to Revolution. In: Ruedy (Hrsg.): Islamism and Secularism in North Africa. S. 149–165.
  • Susan Waltz: Islamist Appeal in Tunisia. In: Middle East Journal. Band 40, Nr. 4, Herbst 1986, S. 651–670.
  • Nikkie Keddie: The Islamist Movement in Tunisia. In: The Maghreb Review. Band II, I, 1986, S. 26.
  • Rached Channouchi: Penseur et Tribun. Interview. In: Le Cahiers De L'Orient. Nr. 27, 1992.
  • Khadija Katja Wöhler-Khalfallah: Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie. Algerien und Tunesien: Das Scheitern postkolonialer „Entwicklungsmodelle“ und das Streben nach einem ethischen Leitfaden für Politik und Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004.
  • Menno Preuschaft: Tunesien als islamische Demokratie? Rašid al-Ġannūšī und die Zeit nach der Revolution. Waxmann, Münster 2011.

Weblinks

Commons Commons: Rachid al-Ghannouchi – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Belege

<references/>