Reformpädagogik
Dem Begriff Reformpädagogik werden verschiedene Ansätze zur Reform von Schule, Unterricht und allgemeiner Erziehung zugerechnet, die – oft zurückgehend auf Comenius, Rousseau und Pestalozzi – eine Pädagogik vom Kinde her vertreten. Eine zusammenfassende Definition des Begriffs ist damit nicht gegeben. Je nach Herkunft der Verfechter werden auch weitere Ansätze diesem Begriff zugerechnet und gleichzeitig von anderen Verfechtern explizit ausgegrenzt.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Begriffsentwicklung
- 2 Geschichte der Reformpädagogik
- 2.1 Reformpädagogik vor der „Reformpädagogik“
- 2.2 Die Intensivzeit der Reformpädagogik von 1890 bis 1919
- 2.3 Deutsche Reformpädagogik in der Weimarer Republik
- 2.4 Internationale Reformpädagogik vor 1933
- 2.5 Politische Ausrichtungen
- 2.6 Reformpädagogik während des Dritten Reichs
- 2.7 Entwicklung seit 1945
- 3 Leitvorstellungen und Strömungen
- 4 Siehe auch
- 5 Literatur
- 6 Weblinks
- 7 Einzelnachweise
Begriffsentwicklung
Bereits im 19. Jahrhundert finden sich die Begriffe Reformpädagogik oder Reformpädagoge in der Literatur, allerdings noch sehr uneinheitlich. So verwendet zum Beispiel Jürgen Bona Meyer 1863 den Begriff Reformpädagogik für Friedrich Fröbels Pädagogik.<ref>Jürgen Bona Meyer, Religions-Bekenntnis und Schule. Eine geschichtliche Darstellung, 1863, S. 74</ref> Zwei Jahre später werden in Karl Adolf Schmids Encyclopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens die Philanthropen Christian Gotthilf Salzmann und Johann Bernhard Basedow als deutsche Reform-Pädagogik bezeichnet.<ref>Encyclopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, 1865, Band 4, S. 325</ref> Friedrich Paulsen beginnt die Reihe der Reformpädagogen bei Wolfgang Ratke (Ratichius) und lässt sie beim Philanthropen Basedow vorläufig enden.<ref>Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten: vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 1885, S. 485</ref> Rudolf Dinkler bezieht den Begriff Reformpädagogik 1897 auf bestimmte Pädagogen des 16. und 17. Jahrhunderts, namentlich auf die Ansätze von Johann Fischart, François Rabelais, Montaigne und Comenius.<ref>Rudolf Dinkler, Der Begriff der Naturgemäßheit in den ersten Stadien seiner geschichtlichen Entwicklung. Vornehmlich bei den Reformpädagogen des 16. und 17. Jahrhunderts, 1897</ref> Im selben Jahr gebraucht der Herbartianer Otto Willmann die Bezeichnung Reformpädagogik des 18. Jahrhunderts noch in polemischer Abgrenzung von Rousseau und vom Philanthropismus.<ref>Otto Willmann, Historische Pädagogik, EHP 3, 1897, S. 705-709</ref> Unter diesem Stichwort stand auch Franz Reinhard Müllers Dissertation über David Williams Reformbestrebungen auf dem Gebiete der Pädagogik.<ref>Franz Reinhard Müller, David Williams' Reformbestrebungen auf dem Gebiete der Pädagogik, 1898 (Diss. Leipzig)</ref>
Der Begriff Reformpädagogik für die pädagogische Bewegung seit der Jahrhundertwende erscheint schließlich erstmals 1918 beim späteren NS-Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck und wurde dann vor allem durch Herman Nohl in seinem Buch Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1933) fest geprägt.<ref>Heinz-Elmar Tenorth, "Reformpädagogik". Erneuter Versuch, ein erstaunliches Phänomen zu verstehen, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1994, Nr. 6, S. 587ff.</ref>
„So wie es eine Reformpädagogik vor der Reformpädagogik gab, die mit den Gestalten von Comenius, Rousseau und Pestalozzi nur angedeutet ist, so gibt es eine Reformpädagogik nach der Reformpädagogik, denn die Bildungsreform ist etwas Fortlaufendes, das auf Zukunft und damit auf eine pädagogische Vollendung des Seienden ausgerichtet bleibt. All jene, die die Reformpädagogik als historisch festlegen und aus dem Entwicklungsgang ausgrenzen wollen, seien auf die Schulen der Reformpädagogik verwiesen, die gegenwärtig existieren und sich fortentwickelnd ihre pädagogische Lebenskraft erwiesen haben.“<ref>Hermann Röhrs, Reformpädagogik und innere Bildungsreform, 1998, S. 241</ref>
Zur älteren Reformpädagogik im weiteren Sinne zählen in diesem Sinne also bereits die sich auf Comenius, Rousseau, Pestalozzi und den Philanthropismus beziehenden reformpädagogischen Ansätze der Anschauungspädagogik und Erlebnispädagogik. Sie wendet sich nicht nur gegen den klassischen Schulbetrieb, sondern auch gegen den Herbartianismus, dem man vorwarf, Herbarts Forderungen nach „eigener Beweglichkeit“ der Schüler und die emotionale Bildung ursprünglicher Werturteile an ästhetischen Beispielen vernachlässigt zu haben. Daher sei von seinem Anliegen, über die Bildung des Intellekts den sittlichen Willen wecken zu wollen, nur noch ein starres Unterrichtsschema übriggeblieben.
Reformpädagogik im engeren Sinne meint jene Versuche, die sich Ende des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegen die Lebensfremdheit und den unterwerfenden Autoritarismus der vorherrschenden „Pauk- und Drillschule“ wandten. Anstelle einer Didaktik, die aus heutiger Sicht als Entfremdung bis zur Kindesmisshandlung im Bildungssystem zu werten ist, wollten die Reformpädagogen über eine veränderte Bildungstheorie und Lerntheorie zu einer veränderten Didaktik gelangen, die in einem handlungsorientierten Unterricht vor allem die Selbsttätigkeit der Schüler in den Mittelpunkt stellt.
Reformpädagogische Ansätze nach 1945 werden häufig als Alternativpädagogik bezeichnet.
Geschichte der Reformpädagogik
Reformpädagogik vor der „Reformpädagogik“
Im Mittelpunkt einer „Erziehung vom Kinde aus“ stand in der Didactica magna von Comenius mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhaftes Forschen der Schüler.<ref>Johann Amos Comenius, Große Didaktik, 1992, S. 1</ref> Der Erziehungsroman Emile oder über die Erziehung von Jean-Jacques Rousseau prägte die nachfolgenden Ansätze der Anschauungspädagogik und Erlebnispädagogik ebenso maßgeblich wie Pestalozzis Hauptwerk Wie Gertrud ihre Kinder lehrt<ref>ISBN 978-3-86672-024-4</ref>, das dann noch stärker die Elementarbildung und den Gedanken der Selbsttätigkeit betonte. Ziel ist es, ein sicheres Fundament zu legen, das den Menschen befähigt, sich selbst zu helfen, oder wie die spätere Montessoripädagogik es ausdrückt: „Hilf mir, es selbst zu tun“
Bereits Comenius bezeichnete die Schulen als Werkstätten der Menschlichkeit<ref>Comenius, Große Didaktik, 1970, S. 59</ref>, was die Philanthropen um Pestalozzi und um Johann Bernhard Basedow unter dem Stichwort „Menschenfreundlichkeit“ vertieft haben.<ref>Jürgen Oelkers, Die Reformpädagogik VOR der "Reformpädagogik", Reformpädagogik: eine kritische Dogmengeschichte, 2005, S. 26ff.</ref> Im 19. Jahrhundert setzte sich in Deutschland die Didaktik des Herbartianismus durch. Doch übten Vorläufer der Reformpädagogik wie Friedrich Diesterweg, Karl Gottfried Scheibert und Friedrich Wilhelm Dörpfeld bereits Kritik an der strikten Trennung zwischen höherem und niederem Schulwesen und der Neigung zur oberflächlichen Vielwisserei und Disziplinierung.
Die Intensivzeit der Reformpädagogik von 1890 bis 1919
Etwa gleichzeitig mit dem Entstehen der Jugendbewegung, die die Jugend erstmals als einen eigenständigen, nach Freiheit und Naturerfahrung suchenden Lebensabschnitt begriff, entstanden reformpädagogische Konzepte, die ähnlich zur Bandbreite der Jugendbewegung in politischer Hinsicht von demokratischer bis zu völkischer Erziehung reichten. Auch zum Antisemitismus verhielten sich die Reformpädagogen ambivalent. Einigkeit herrschte lediglich in der Ablehnung der alten Schule und der alten Erziehung sowie der didaktischen Ausrichtung an den Erfahrungen der Kinder statt an Unterrichtsstoffen oder organisatorischen Gesichtspunkten. Ihre Selbsttätigkeit sollte im Zentrum stehen.
Der Beginn wird oftmals im Jahr 1890 angesetzt mit dem Erscheinen von Julius Langbehns Buch Rembrandt als Erzieher sowie der Eröffnungsrede Kaiser Wilhelms II. zu der von ihm nach Berlin einberufenen Schulkonferenz<ref>Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 2005, S. 27</ref>. Andere setzen ihn erst mit der Jahrhundertwende an, u. a. mit der Ausrufung des Jahrhunderts des Kindes durch die schwedische Autorin Ellen Key.<ref>Wolfgang Scheibe, Die reformpädagogische Bewegung, 1900-1932, 1999</ref>
In Deutschland standen dabei in einer ersten bewegten Phase vor allem die Konzepte der
- Arbeitsschule (Georg Kerschensteiner) zur allgemeinen und beruflichen Bildung breiter Bevölkerungsschichten
- Landerziehungsheimbewegung (begründet durch Hermann Lietz) und Gustav Wyneken, die auf das Lernumfeld und eine "Erziehung auf dem Land" setzten,
- Erziehung zur Toleranz und den Gesamtunterricht (Berthold Otto)
- Einheitsschule (unter anderem durch Johannes Tews) im Vordergrund,
- in enger Verbindung mit der Kunsterziehungsbewegung (Alfred Lichtwark) und der Jugendbewegung.<ref>Hermann Röhrs, Reformpädagogik und innere Bildungsreform, 1998, S. 39</ref>
Der 1908 gegründete Bund für Schulreform - als Allgemeiner deutscher Verband für Erziehungs- und Unterrichtswesen - vereinte reformorientierte Lehrer aller Schularten, Vertreter der Schulverwaltungen, Universitätsdozenten und interessierte Laien. Er bestand bis 1933. Das Verbandsorgan war von 1910 bis 1914 die Zeitschrift „Der Säemann“. Maßgeblichen Einfluss hatten hier Gertrud Bäumer, Ernst Meumann, Georg Kerschensteiner, Hugo Gaudig, William Stern und Kurt Löwenstein. Ende Dezember 1915 wurde der Bund unter dem neuen Namen Deutscher Ausschuss für Erziehung und Unterricht zum Dachverband zahlreicher Verbände. An der Spitze stand lange Peter Petersen.
Von 1914 bis 1924 wurde durch Universitätspädagogen wie Herman Nohl, Wilhelm Flitner und Erich Weniger die Phase der Stabilisierung (Artikulation und Formierung) der eigenen Reformvorhaben angesetzt. Ab 1924 nimmt in der dritten Phase die theoretische Grundlegung, Kritik und Deutung zu, von Weniger Theoretisierung genannt.<ref>Hermann Röhrs, Reformpädagogik und innere Bildungsreform, 1998, S. 39</ref>
Deutsche Reformpädagogik in der Weimarer Republik
Zur Diskussion trugen weitere Experimentalschulen mit neuen Konzepten bei wie die
- Lebensgemeinschaftsschulen (William Lottig in Hamburg)
- Freie Schulgemeinde Wickersdorf (Gustav Wyneken)
- Jena-Plan-Schule (Peter Petersen)
- Berliner Rütli-Schule
- Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln (Fritz Karsen)
Nach dem Ersten Weltkrieg waren in den Bildungsministerien auch viele Anhänger oder Sympathisanten in zentrale Positionen gekommen und konnten so reformpädagogische Ansätze unterstützen. Vor allem sind Max Greil, Heinrich Schulz, Carl Heinrich Becker und Ludwig Pallat zu nennen. Schulleiter wie Fritz Karsen oder Gustav Wyneken bekamen die Möglichkeit, bildungspolitisch aktiv zu werden.
Außerdem versammelten sich 1919 - an den Bund für Schulreform anknüpfend und als Abspaltung vom Deutschen Philologenverband - viele reformorientierte Pädagogen im Bund Entschiedener Schulreformer. Bis zur Auflösung dieses Bundes 1933 verfolgten seine Anhänger unter der Führung von Paul Oestreich das Ziel mit Kongressen und umfangreichen Publikationen, wie der Schriftenreihe Entschiedene Schulreform oder in der Zeitschrift Die Neue Erziehung, den Weimarer Schulkompromiss in eine entschiedene Schulreform überzuleiten.
Nach der neuen Weimarer Verfassung sollten „Anlage und Neigung“ und nicht die soziale Herkunft über die Bildung entscheiden. Bei der Reichsschulkonferenz 1920 wurden insbesondere die Landerziehungsheime und die Einheitsschulen diskutiert. Gleichzeitig wurden weitgehende Schritte zu einer demokratischen Erziehung gefordert (zum Beispiel Schülermitverwaltung, Kinderrechte).<ref>Jürgen Oelkers, Reformpädagogik: eine kritische Dogmengeschichte, 2005, S. 183</ref> Insgesamt blieben die Reformpädagogen aber eine Minderheit, besonders im staatlichen Schulsystem.
Ein ungelöstes Problem in der Bewegung blieb die moderne Sexualerziehung. Ellen Key plädierte offen für darwinistische Eugenik. Gustav Wyneken wurde wegen Missbrauchs gerichtlich verurteilt. Mit der pathetisch beschworenen Kameradschaft in der Schule und der charismatischen Führerstellung der Lehrer wurden teilweise homoerotische Abhängigkeiten begründet.<ref>Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Basel 2011 </ref>
Von außen wurden zudem, wenn auch nur langsam die Montessoripädagogik (Schule in Berlin ab 1919) der italienischen Pädagogin Maria Montessori und die Freinet-Pädagogik des französischen Lehrers Célestin Freinet wirksam. Nur bedingt gehört die anthroposophische Konzeption Rudolf Steiners in die Reformpädagogik.
Internationale Reformpädagogik vor 1933
Eine zentrale Rolle spielte die New Education Fellowship<ref>Hermann Röhrs, Reformpädagogik und innere Bildungsreform, S. 448</ref>, die 1921 auf Initiative von Beatrice Ensor, Elisabeth Rotten und Adolphe Ferrière gegründet wurde und das internationale Forum für Reformpädagogen war. Die New Education Fellowship gab die Zeitschrift „The New Era“ heraus und organisierte zwischen 1923 und 1932 Konferenzen in Montreux, Heidelberg, Locarno, Helsingör und Nizza mit einer breiten internationalen Beteiligung. Im deutschsprachigen Raum waren neben Rotten vor allem Karl Wilker darum bemüht, den Internationaler Arbeitskreis für Erneuerung der Erziehung zur Sektion auszubauen. Sie gaben dazu die Zeitschrift „Das Werdende Zeitalter“ heraus. Die offizielle Gründung erfolgte aber erst nach der Heidelberger Konferenz 1931 unter dem Namen Weltbund für Erneuerung in der Erziehung. Im Vorstand saßen Erich Weniger als Vorsitzender, Carl Heinrich Becker, Julius Gebhard, Robert Ulich und Leo Weismantel.
Politische Ausrichtungen
Eine starke wechselseitige Beeinflussung gab es mit verschiedenen Bewegungen wie der Jugendbewegung, der 1. Frauenbewegung, der Arbeiterbewegung oder der Kunsterziehungsbewegung.
Einige Reformpädagogen verbanden eine starke liberale Grundhaltung mit starkem sozialem Engagement (unter anderem Walter Fränzel, Theodor Litt, Gustav Wyneken) , andere schlossen sich sozialistischen Erziehungsvorstellungen an (unter anderem Hans Alfken, Otto Felix Kanitz, Fritz Karsen, Siegfried Kawerau), daneben gab es auch völkische Vertreter (unter anderem Wilhelm Schwaner).
Aufgrund der Verbindung von verschiedenen Reformpädagogen mit der Völkischen Bewegung finden sich in ihren Werken zum Teil auch völkische, antisemitische und darüber hinaus eugenische und rassistische Äußerungen (zum Beispiel durch Ellen Key oder Peter Petersen).
Reformpädagogik während des Dritten Reichs
Die reformpädagogischen Verbände beendeten 1933 ihre Arbeit, entweder durch Verbot oder durch Selbstauflösung. Röhrs verweist darauf, dass selbst der Begriff Reformpädagogik im nationalsozialistischen Schrifttum so gut wie nicht vorkommt.<ref>Hermann Röhrs, Reformpädagogik und innere Bildungsreform, 1998, S. 68</ref>
Große Teile, besonders auch der kommunistisch, sozialistisch bzw. sozialdemokratisch orientierte Teil der deutschsprachigen Reformpädagogik wurde von den Nazis zum Schweigen gebracht oder in die Emigration gedrängt. Viele jüdische oder jüdischstämmige Vertreter sowie einige Widerstandskämpfer unter den Reformpädagogen starben in Konzentrationslagern (unter anderem Janusz Korczak, Paula Fürst, Gertrud Feiertag, Clara Grunwald, Adolf Reichwein, Elisabeth von Thadden, Kurt Adams, Theodor Rothschild).
Verhältnismäßig wenige Reformpädagogen arrangierten sich mit dem "Dritten Reich" und traten zum Beispiel der NSDAP bei wie Fritz Jöde, Hanns Maria Lux, Heinrich Scharrelmann, Ludwig Wunder und Otto Friedrich Bollnow. Einige reformpädagogische Schulen, die bestehen blieben, wurden einer tiefgreifenden nationalsozialistischen Umgestaltung unterzogen, so die Odenwaldschule oder Wickersdorf.<ref>Dennis Shirley, Reformpädagogik im Nationalsozialismus: Die Odenwaldschule 1910 bis 1945, 2010</ref>
Entwicklung seit 1945
Im deutschsprachigen Raum konnten nach 1945 die noch lebenden Reformpädagogen zunächst nicht an ihre Bedeutung in den zwanziger Jahren anknüpfen, sowohl im Bereich der Landerziehungsheimbewegung als auch in der Psychoanalytischen Pädagogik (Siegfried Bernfeld, Anna Siemsen).
Der Weltbund für Erneuerung in der Erziehung wurde allerdings durch Initiative von Elisabeth Rotten unter der Leitung von Franz Hilker wiederbegründet. Zu den Mitarbeitern gehörte unter anderem Hermann Röhrs. Derzeitiger Präsident ist Gerd-Bodo von Carlsburg, Vizepräsidentin Uta-Christine Härle.
Dagegen konnten sich die Montessori-Pädagogik und die Waldorf-Pädagogik wieder etablieren. Neuere Ansätze aus dem nichtdeutschsprachigen Raum wie die demokratische Schule Summerhill wurden dagegen kaum aufgegriffen.
Mit der 68er-Bewegung sowie der Außerparlamentarischen Opposition kam auch die Alternativpädagogik wieder stärker zur Geltung. Einen ersten großen Bucherfolg konnte dabei Alexander Sutherland Neill mit Die antiautoritäre Erziehung erzielen.
Als Alternativpädagogik werden heute unter anderem die Freinet-Pädagogik, das Deschoolings-Konzept und die Antipädagogik bezeichnet, mit jeweils zugehörigen Alternativschulen (Alternativ-Schule, Freie-Alternative Schule, Freie Schule, Demokratische Schule).
Inwieweit die reformpädagogischen und alternativpädagogischen Ansätze in die Regelschule zu integrieren sind, so wie im unter anderem von Hans Brügelmann und Falko Peschel vertretenen Konzept des Offenen Unterrichts, bei dem für das Geschehen im Unterricht allein die individuellen Lernvorhaben der Kinder ausschlaggebend sind, ist innerhalb der Reform- und Alternativpädagogik umstritten (siehe dazu auch Laborschule Bielefeld, Oberstufen-Kolleg Bielefeld und Glockseeschule).
International durchgesetzt hat sich dagegen offensichtlich das auf dem Gedankengut von Comenius, Rousseau, Pestalozzi und Montessori fußende Lehr- und Lernmodell einer „Verkehrserziehung vom Kinde aus“, mit dem der Didaktiker Siegbert A. Warwitz seit den 1970er Jahren die Verkehrspädagogik reformierte. Die bis dahin übliche „Verkehrserziehung vom Bedarf des Verkehrs“ und der "Unfallvermeidung" betrachtete das Kind als noch unfertigen Erwachsenen und den Verkehrsunterricht als Anpassung des Verhaltens an die offiziellen Verkehrsregeln.<ref>Siegbert A. Warwitz: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Wahrnehmen-Spielen-Denken-Handeln, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag. 6. Auflage 2009</ref>
Insgesamt sind viele reformpädagogische Ideen tief in das staatliche Schulsystem vorgedrungen: Dies gilt für die Zusammenarbeit von Kindergarten und Schule, das frühe Sprachenlernen, den alters- und fachübergreifenden Unterricht, die Wochenplanarbeit, die Abschaffung des Sitzenbleibens und die Ganztagsschule.<ref>Schweigen, stottern, aufklären, in: Die Zeit, 18. März 2010, Seite 72</ref>
Leitvorstellungen und Strömungen
Als reformpädagogische Bewegungen werden in der historischen Perspektive und in der aktuellen Präsenz unter anderem bezeichnet:
- Schulpflichtbewegung auf der Grundlage einer Pädagogik vom Kinde her
- Lehrerbildungsbewegung
- Schulgarten- bzw. Schrebergartenbewegung
- Philanthropische Bewegung
- Anschauungspädagogik
- Erlebnispädagogik
- Pestalozzi-Pädagogik
- Kindergartenbewegung
- Volkshochschulbewegung
- das Konzept der Selbsttätigkeit
- Kunsterziehungsbewegung, Jugendmusikbewegung
- Arbeitspädagogik (verbunden mit den Konzepten der Arbeitsschule, Berufsschule, Produktionsschule)
- das Konzept eines Learning by Doing (Lernen durch Handeln)
- Lernen durch Lehren (konstruktivistische Methode von Jean-Pol Martin)
- Schulgemeindebewegung (Freie Schulgemeinde)
- Freinet-Pädagogik, 1920 von Célestin Freinet in Frankreich begründet
- Landerziehungsheimbewegung
- Laborschule, Projektschule, Hauslehrerschule
- Konzepte wie Projektlernen, Projektarbeit, Projektunterricht, Lernlabor
- Schulfarmbewegung
- Koedukationsbewegung
- Gemeinschaftsschule, Einheitsschule, Gesamtschule
- Waldorfpädagogik
- Montessori-Pädagogik
- Mannheimer Schulsystem
- Kinderrechtsbewegung, das Konzept der Kinderrepublik
- Geisteswissenschaftliche Pädagogik
- Waldpädagogik, Waldkindergarten
- Freizeitpädagogik
- Antiautoritäre Erziehung, Demokratische Schule, Kinderladen
- Alternativpädagogik, Alternativschule
- "Grundregeln positiver Kindererziehung" nach Oscar Schellbach
- zum Teil auch antipädagogische Ansätze
Siehe auch
Literatur
Einführungen
- Wolfgang Keim/ Ulrich Schwerdt(Hrsg.): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933). Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Teil 2: Praxisfelder und pädagogische Handlungssituationen. Frankfurt am Main 1992.
- Die alte Schule überwinden. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hrsg. von Ullrich Amlung, Dietmar Haubfleisch, Jörg-W. Link und Hanno Schmitt. Frankfurt 1993 (=Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, 15). ISBN 3-7638-0185-5
- Norbert Collmar/Ralf Koerrenz (Hrsg.): Die Religion der Reformpädagogen. Ein Arbeitsbuch. Weinheim 1994
- Dietmar Haubfleisch: Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Republik. Überblick, Forschungsergebnisse und -perspektiven. In: Die Reform des Bildungswesens im Ost-West-Dialog. Geschichte, Aufgaben, Probleme. Hrsg. von Hermann Röhrs und Andreas Pehnke (= Greifswalder Studien zur Erziehungswissenschaft, 1), Frankfurt a.M. [u. a.] 1994, S. 117–132. Neuauflage: Marburg 1998: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0013.html
- Kurt Hahn: Reform mit Augenmaß. Ausgewählte Schriften einens Politikers und Pädagogen. Hrsg. von Michael Knoll, mit einem Vorwort von Hartmut v. Hentig. Stuttgart: Klett-Cotta 1998.
- Andreas Pehnke: „Ich gehöre in die Partei des Kindes!“ Der Chemnitzer Sozial- und Reformpädagoge Fritz Müller (1887–1968): In Diktaturen ausgegrenzt – in Demokratien vergessen und wiederentdeckt. Sax-Verlag: Beucha (bei Leipzig) 2000
- Manfred Berger: Clara Grunwald. Wegbereiterin der Montessori-Pädagogik, Frankfurt/Main 2000, ISBN 3-86099-294-5
- Dietmar Haubfleisch: Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen Unterrichts- und Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin der Weimarer Republik (=Studien zur Bildungsreform, 40), Frankfurt [u. a.] 2001. ISBN 3-631-34724-3 Inhaltsverzeichnis und Vorwort des Herausgebers der Reihe „Studien zur Bildungsreform“
- Andreas Pehnke: (Hrsg): „Reformpädagogik aus Schülersicht“ Dokumente eines spektakulären Chemnitzer Schulversuchs (Fritz Müller) in der Weimarer Republik. Schneider-Verlag, Hohengehren 2002
- Adrian Klenner: Reformpädagogik Konkret: Leben und Werk des Lehrers Carl Friedrich Wagner - ein Reformpädagoge an der Hamburger Versuchsschule Telemannstraße 10, 2002, veröffentlicht: Kovač, Hamburg 2003, ISBN 3-8300-1018-4 (= Hamburger Schriftenreihe zur Schul- und Unterrichtsgeschichte. Band 10, herausgegeben von Reiner Lehberger).
- Martin Näf: Paul und Edith Geheeb-Cassirer. Gründer der Odenwaldschule und der Ecole d'Humanité. Deutsche, Schweizerische und Internationale Reformpädagogik 1910–1961. Beltz, Weinheim / Basel 2006, ISBN 3-407-32071-X
- Helga Jung-Paarmann: Reformpädagogik in der Praxis - Geschichte des Bielefelder Oberstufen-Kollegs. Band 1: 1969 - 1982. Bielefeld 2010, ISBN 978-3-921912-52-2
- Ellen Schwitalski: Werde, der du bist. Pionierinnen der Odenwaldschule. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und der Weimarer Republik, Bielefeld: transcript, 2005
- Michael Knoll: Dewey, Kilpatrick und "progressive" Erziehung. Kritische Studien zur Projektpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. ISBN 978-3-7815-1789-9
- Ralf Koerrenz: Schulmodell: Jena-Plan. Grundlagen eines reformpädagogischen Programms, Paderborn 2011, ISBN 978-3-506-77228-2
- Ralf Koerrenz: "Landerziehungsheime in der Weimarer Republik", Alfred Andreesens Funktionsbestimmung der Hermann Lietz-Schulen im Kontext der Jahre von 1919 bis 1933, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-631-44639-X.
- Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Beltz, Weinheim / Basel 2011, ISBN 978-3-407-85937-2.
Weblinks
- Schulverbund 'Blick über den Zaun'
- Forschungs- und Studienarchiv, Sammlung von Dokumenten zu den drei Phasen moderner Reformpädagogik, Bildungsreform und erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung
- der Server für Reformpädagogik
- Weltbund für die Erneuerung in der Erziehung (mit Veröffentlichungen von Examensarbeiten zur Reformpädagogik und Rezensionen)
- Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik
- Bildungsserver Südtirol, Dokumentation zur Reformpädagogik
- Hager, Maik: Reformpädagogik. Begriffsbestimmung, Geschichte und Personen (www.geschichte-erforschen.de).
Einzelnachweise
<references />
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