Ritualmord
Ein Ritualmord ist die Tötung eines Menschen als rituelle Handlung. Der Begriff kennzeichnet diese als Mord, setzt also voraus, dass religiöse Menschenopfer nicht durch gesellschaftlichen Konsens gedeckt sind. Konstruierte Ritualmordlegenden sind ein klassisches Stereotyp des Antisemitismus.
Inhaltsverzeichnis
Tötung und Ritual
In der Religionswissenschaft ist „rituelle Tötung“ oft als Oberbegriff von Menschenopfer verwendet worden. Basierend auf Walter Burkerts Definition von Ritual als kommunikative Handlung<ref>W. Burkert: Homo necans, S. 31-39</ref> ist rituelle Tötung als „Tötung, die in einer besonderen Gegebenheit, in einer vorgegebenen und stereotypen Weise und mit einer kommunikativen Funktion irgendeiner Art durchgeführt wird“ definiert worden. Von Menschenopfer sei dagegen dann die Rede, wenn das Opfer einem übermenschlichen Wesen – oder auch einem Toten – dargeboten wird oder wenn die Tötung eines Menschen in derselben Weise, derselben Gegebenheit und mit derselben rituellen Absicht als die Tötung eines (entsprechenden) Opfertieres erfolgt.<ref>D.D. Hughes: Human Sacrifice in Ancient Greece, S. 3f (Ü.d.V.)</ref>
Kritiker dieser Definition weisen darauf hin, dass in jedem Zeitalter der Geschichte und in der Gegenwart rituelle Elemente in jeder Art von Menschentötung zu finden sind, etwa bei Hinrichtungen, Vergeltungsakten, Tötungen in Kampfhandlungen.<ref>G. De Luna: Il corpo del nemico ucciso</ref> Wieweit man zeremonielle Hinrichtungen, z.B. Selbstmordanschläge, als Ritualmord bezeichnet, hängt von der Art ihrer Ausführung und dem Stellenwert ab, den man religiösen Motiven dabei zumisst.
Vorkommen
Rituelle Tötungen von Menschen kamen in verschiedenen archaischen Kulten und Religionen vor, z.B. bei den Azteken, in Indien bei der Verehrung der Göttin Kali, im Kult des Moloch im vorisraelitischen Kanaan u.a..
Die Hypothese eines prähistorischen Ritualmords wird bei „Ötzi“, der 1991 gefundenen Gletschermumie aus der Kupferzeit, erwogen. Die Tötung scheint nicht am Fundort der Leiche stattgefunden zu haben. Doch bei ihr fand man zerbrochene Pfeile und ein wertvolles Kupferbeil als Beigaben. Man vermutet daher ein Menschenopfer als Hinrichtung und nachträgliche Ehrung eines Flüchtigen. Könnte man die Ablehnung von Menschenopfern in dieser Gesellschaft nachweisen, wäre dies der älteste bekannte Ritualmord der Geschichte.<ref>Innovations-Report, 16. Januar 2002: Fiel „Ötzi“ einem Ritualmord zum Opfer?</ref>
Von einem Ritualmord sprach man bei verschiedenen Einzelmorden im 20. und 21. Jahrhundert:
- an Helmut Daube am 19. November 1928 in Gladbeck,
- an Sharon Tate und anderen durch Charles Manson und die Manson Family,
- an Sandro Beyers 1993
- beim Mordfall von Witten am 6. Juli 2001.<ref>Getrieben vom Hass auf die Menschen, Welt Online vom 2. Dezember 2001</ref>
Ritualmordlegenden
In sogenannten Ritualmordlegenden werden gesellschaftlich diskriminierten Minderheiten – meist Juden – Ritualmorde an Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft unterstellt. Sie dienen zur Verleumdung der angeblichen Tätergruppe, rechtfertigen und verstärken deren Unterdrückung und Verfolgung. Ihre Kolporteure greifen oft unaufgeklärte Entführungs-, Unglücks- oder Tötungsfälle auf, besonders von Kindern, und bieten dafür Sündenböcke an. Solche Legenden sind nicht nur als im Aberglauben verwurzelte Volkssagen anzutreffen, sondern werden auch von religiösen, staatlichen, regionalen oder lokalen Interessengruppen gezielt zur Propaganda konstruiert und genutzt. Oft bewirken sie Pogrome, Lynch- und Justizmorde an den des Ritualmords beschuldigten Gruppen.
Einzelbelege
<references />
Literatur
- Walter Burkert: Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, De Gruyter, Berlin 1972
- Dennis D. Hughes: Human Sacrifice in Ancient Greece, Routledge, London - New York, 1991
- Rainer Erb: Drittes Bild: Der Ritualmord. In: Julius H. Schoeps / Joachim Schlör (Hrsg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus - Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999, S. 74-79, ISBN 3-8289-0734-2
- Giovanni De Luna: Il corpo del nemico ucciso. Violenza e morte nella guerra contemporanea, Einaudi, Torino 2006