Abri
Ein Abri (Maskulinum; französisch abri ‚Unterstand, Schutz, Obdach‘) ist ein durch Erosion entstandener, zumeist in Tälern von Buntsandstein- oder Jurakalkgebieten gelegener Felsüberhang. Solche Unterstände werden auch Halbhöhle genannt (englisch rock shelter), je nach Gestalt auch „Felsdach“, „Felsnische“ oder „Felsvorsprung“.
Ein Lokalwort ist Balm (galloromanisch, in der Schweiz).<ref>Schweizerisches Idiotikon, Bd. 4, Sp. 1215 f.;
*balmâ ‘Grotte’. In: Uwe Friedrich Schmidt: Praeromanica der Italoromania auf der Grundlage des LEI (A und B). Band 49 von Europäische Hochschulschriften, Reihe 9 Italienische Sprache und Literatur, Verlag Peter Lang, 2009, ISBN 978-363158770-6, S. 160–170 (ausführlicher Überblick über die Forschung; Google eBook, vollständige Ansicht).</ref>
Inhaltsverzeichnis
Nutzung
Abris boten Menschen Schutz vor Nässe, Kälte und Wind, weshalb sie zum einen für die Archäologie bezüglich steinzeitlicher Siedlungsspuren von hoher Relevanz sind, zum anderen für die Zoologie zum Nachweis von Nahrungsresten oder Winterruheplätzen bestimmter Tiere.
In geschichtlicher Zeit wurden in Frankreich und in der Schweiz Häuser unter großen Abris errichtet – und noch bis ins 20. Jahrhundert bewohnt. Auch die Cliff Dwellings genannten Bauten der Indianer in Gila New Mexiko stehen unter weiten Abris.
Entstehung
Abris entstehen etwa aus der Verwitterung von hartem mittlerem Buntsandstein. An freistehendem Fels führt die hygroskopische Struktur des Materials zu Wabenverwitterung sowie einer permanenten Absandung. Besonders in den glazialen Phasen treten Frostverwitterung und, je nach Lage, auch Korrasionseffekte (Windabtragungen) auf. So entstehen aber nicht nur Felsdächer, sondern auch Hohlkehlen und in selteneren Fällen auch Pilzfelsen.
Buntsandstein
Im Buntsandsteingebiet des südlichen Leineberglandes zwischen den Orten Nörten-Hardenberg, Heiligenstadt und Göttingen befindet sich die größte Gruppe von Abris in Mitteleuropa. Sie finden sich in den schluchtartigen Felstälern zwischen der Leine und dem Eichsfeld oft auf engstem Raum. In einem Gebiet von rund 30 km Länge und 6 bis 10 km Breite sind heute rund 1600 Abris erfasst.
Kreidesandstein
Auch in den kreidezeitlichen Quarzsandsteinen Sachsens und Böhmens entstanden durch Verwitterung zahlreiche Abris.
Kalkstein
In Felswänden von Tälern der Kalkgebirge entstanden Felsvorsprünge durch die stärkere Erosion schwacher Gesteinsschichten oder durch Auskolkungen während der Talbildung.
Archäologie
Zwischen 1978 und 1998 hatte ein interdisziplinäres Erfassungs- und Untersuchungsprojekt der Göttinger Kreisarchäologie mit einer Reihe von Probegrabungen in Niedersachsen zur Auffindung von über 100 in vorgeschichtlicher Zeit bewohnter Abris geführt. Gute archäologische und geostratigrafische Befunde in den bis über zwei Meter mächtigen Sedimentlagen unter den Felsdächern ergaben sich dabei für die älteren Perioden des Jung- und Spätpaläolithikums und für das Mesolithikum. Funde aus Stein, Knochen und Geweih, gut erhaltene Feuerstellen, Gruben und Steinpflasterungen und verkohlte botanische Reste ermöglichten sehr differenzierte Momentaufnahmen zu den Lagerplätzen früher Jäger und Sammler. In aufeinander folgenden Kulturschichten gefundene Geräte (z. B. die Abri-Audi-Spitzen) bilden die Grundlagen altsteinzeitlicher Chronologien.
Die meisten Spuren unter aufgesuchten Felsschutzdächern stammen aus der letzten Kaltzeit (Weichsel-Kaltzeit). Sie dienten Jägern vielleicht als Basislager. Von einer regelrechten Sammeltätigkeit kann angesichts der Fauna kaum oder nur saisonal ausgegangen werden. Ein solcher Platz wurde eher saisonal aufgesucht, bis die größeren Herdentiere weiter zogen.
Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die offene Seite von Abris möglicherweise mit zeltartigen Konstruktionen aus organischem Material verschlossen wurde. Feuer- und Herdstellen deuten offenbar darauf, dass auch Nahrung zubereitet wurde.
Seit 1978 werden in Nordböhmen Abris unter der Leitung des tschechischen Prähistorikers Jiří A. Svoboda archäologisch untersucht.
Bekannte Abris
Im deutschsprachigen Raum
- Deutschland
- Abris am Bettenroder Berg; besonders Abri IX, Lkrs. Göttingen
- Abri im Pfaffenholz, Altmühltal
- Allerberg bei Reinhausen (Gleichen), Lkrs. Göttingen
- Bürgertal (Abri Bürgertal IV), Lkrs. Göttingen
- Felsställe bei Ehingen (Donau), Ortsteil Mühlen
- Heidenschmiede in Heidenheim an der Brenz, (Mittelpaläolithikum)
- Helga-Abri, Gemarkung Schelklingen im Achtal, Feuerstellen des Magdalénien, des Spätpaläolithikum und des Frühmesolithikums
- Sesselfelsgrotte (Mittelpaläolithikum, Jungpaläolithikum) und Abri I (Gravettien und Magdalénien), beide in Neu-Essing, Niederbayern
- Stendel (Abri Stendel XVIII), bei Groß Schneen, Friedland (Niedersachsen)
- Österreich
- Schweiz
- Abri Unterkobel, St. Galler Rheintal
- Chesselgraben, Kanton Solothurn
- Schweizersbild bei Schaffhausen
In Frankreich
- Abri-Audi bei Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil in der Dordogne
- Abri Cap Blanc
- Abri de Cro-Magnon
- Abris des Vachons
- Abri du Mannlefelsen (Haut-Rhin)
- Abri du Roc-aux-Sorciers in Angles-sur-l’Anglin
- Abri Pataud (Dordogne)
- Blanchard (Dordogne)
- Caminade
- Cap Blanc (Abri)
- Abri Castanet
- Castel Merle
- Labattut bei Montignac
- La Cave
- La Madeleine (Abri)
- Le Moustier (Dordogne)
- Movius (Dordogne)
- Abri Pataud
- Abri Reverdit
Siehe auch
Literatur
- Claus-Joachim Kind: Das Felsställe. Eine jungpaläolithisch-frühmesolithische Abri-Station bei Ehingen-Mühlen, Alb-Donau-Kreis. Die Grabungen 1975–1980 (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 23). Theiss, Stuttgart 1987, ISBN 3-8062-0777-1.
- Klaus Grote: Die Abris im südlichen Leinebergland bei Göttingen. Archäologische Befunde zum Leben unter Felsschutzdächern in urgeschichtlicher Zeit (= Veröffentlichungen der urgeschichtlichen Sammlungen des Landesmuseums zu Hannover. Band 43). 3 Bände. Isensee, Oldenburg 1994.
- Jiří A. Svoboda (Hrsg.): Mezolit severních Čech. Komplexní výzkum skalních převisů na Českolipsku a Dĕčínsku, 1978–2003. In: Dolnovĕstonické Studie. Band 9, Archeologický ústav Av ČR, Brno 2003, ISBN 80-86023-52-4 (tschechisch; englisch: Mesolithic of northern Bohemia. Complex excavation of rockshelters in the Česká Lípa and Děčín areas, 1978–2003).