Apollonios von Tyana
Apollonios von Tyana (griechisch Ἀπολλώνιος ὁ Τυανεύς Apollṓnios ho Tyaneús, lateinisch Apollonius Tyan(a)eus; * um 40; † um 120) war ein antiker griechischer Philosoph. Er stammte aus der Stadt Tyana in Kappadokien und verbrachte sein Leben umherziehend und lehrend im Osten des Römischen Reichs. Da er sich zum Vorbild und zur Lehre des Pythagoras bekannte, wird er zu den Neupythagoreern gezählt.
Seine offenbar außergewöhnliche Persönlichkeit und seine als mustergültig betrachtete philosophische Lebensweise beeindruckten seine Zeitgenossen nachhaltig und hatten eine breite Nachwirkung. Um sein Leben und Wirken rankten sich früh zahlreiche Legenden. Die umfangreiche Apollonios-Biographie des Philostratos, die einen großen Teil der Erzählungen versammelt, bietet dabei eine Fülle von offensichtlich erfundenem Material. Sie stellt damit eine zentrale Quelle für die antike Apollonios-Rezeption dar. Nur wenige der überlieferten biographischen Angaben und Lehrinhalte können als gesichert gelten.
Einen großen Teil der antiken Apollonioslegende machen die zahlreichen Berichte über Wundertaten aus, die der wandernde Weise vollbracht haben soll. Schon in der Antike wurden dabei Parallelen zu den Berichten über Jesus von Nazareth und dessen Wunder beobachtet und teils für polemische Vergleiche genutzt: Christen und Nichtchristen warfen einander vor, ihren jeweiligen Helden nach dem Vorbild des anderen gestaltet zu haben. Auch in der Frühen Neuzeit wurde Apollonios oft als pagane Gegenfigur oder Parallelgestalt und Alternative zu Jesus Christus wahrgenommen und unter diesem Gesichtspunkt beurteilt. Die moderne Forschung hat zum einen hinsichtlich der historischen Gestalt Quellenkritik betrieben, zum anderen die Legendenbildung und die Instrumentalisierung des Philosophen in religiösen Konflikten eingehend untersucht.
Inhaltsverzeichnis
Der historische Apollonios
Quellen
Werke des Apollonios
Die Apollonios zugeschriebenen Werke sind teils nicht erhalten, teils in ihrer Echtheit umstritten oder sicher unecht. Zu den Schriften, die als möglicherweise authentisch in Betracht kommen, zählen in erster Linie Briefe, eine verlorene Biographie des Pythagoras und die wahrscheinlich echte oder zumindest im Umfeld des Apollonios entstandene Schrift „Über die Opferbräuche“, von der nur ein Bruchstück erhalten ist.<ref>Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 129–149; Gerd Petzke: Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, Leiden 1970, S. 36–45; Jaap-Jan Flinterman: Power, Paideia and Pythagoreanism, Amsterdam 1995, S. 76–79.</ref>
Philostratos, Johannes Stobaios und eine separate Briefsammlung überliefern zahlreiche angeblich von Apollonios verfasste oder an ihn gerichtete Briefe. Manche davon sind vollständig wiedergegeben, andere nur auszugsweise oder als Paraphrase. Offenbar wurden bereits im 2. Jahrhundert Briefe gesammelt, die zum Teil fingiert waren. Inwieweit sich unter den erhaltenen Briefen echtes Material befindet, ist schwer zu beurteilen.<ref>Robert J. Penella (Hrsg.): The Letters of Apollonius of Tyana, Leiden 1979, S. 1–4, 23–29. Vgl. Graham Anderson: Philostratus, London 1986, S. 185–191.</ref> Jedenfalls hat Philostratos einen erheblichen Teil der Briefe, die er anführt, selbst verfasst; bei anderen handelt es sich um ältere fiktive Schreiben, auf die er zurückgriff.<ref>Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 38f., 41–44, 54, 80f., 134f.; Matthias Dall'Asta: Philosoph, Magier, Scharlatan und Antichrist, Heidelberg 2008, S. 25f.</ref>
Die Neuplatoniker Porphyrios und Iamblichos hatten anscheinend noch Zugang zu der heute verlorenen Pythagoras-Biographie des Apollonios; sie beriefen sich auf dieses Werk.<ref>Porphyrios, Vita Pythagorae 2; Iamblichos, De vita Pythagorica 254.</ref> Die Identität des von Porphyrios und Iamblichos erwähnten Apollonios mit dem Tyaneer wird in der Forschung meist angenommen, doch bestehen auch Zweifel.<ref>Gerd Petzke: Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, Leiden 1970, S. 37–40. Zu den Zweifeln siehe Peter Gorman: The ‚Apollonios’ of the Neoplatonic Biographies of Pythagoras. In: Mnemosyne 38, 1985, S. 130–144 und Constantinos Macris: Becoming divine by imitating Pythagoras? In: Mètis 4, 2006, S. 297–329, hier: S. 322 und Anm. 111; vgl. Jaap-Jan Flinterman: Power, Paideia and Pythagoreanism, Amsterdam 1995, S. 77–79.</ref> Auch in der Suda, einer mittelalterlichen byzantinischen Enzyklopädie, wird ein „Leben des Pythagoras“ unter den Schriften des Apollonios angeführt.<ref>Suda, Stichwort Apollonios (Ἀπολλώνιος), Adler-Nummer: alpha 3420, Suda-Online.</ref>
Sonstige Quellen
Die weitaus ausführlichste Quelle ist eine umfangreiche, acht Bücher umfassende Lebensbeschreibung des Apollonios (Ta es ton Tyanéa Apollṓnion, lateinisch Vita Apollonii), die der Sophist Flavius Philostratos in griechischer Sprache verfasste und im Zeitraum zwischen 217 und 238 abschloss.<ref>Zur Datierung siehe Jaap-Jan Flinterman: Power, Paideia and Pythagoreanism, Amsterdam 1995, S. 25–27; Ewen Lyall Bowie: Apollonius of Tyana: Tradition and Reality. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 16.2, Berlin 1978, S. 1652–1699, hier: 1669f.</ref> Philostratos schrieb im Auftrag der römischen Kaiserinwitwe Julia Domna († 217). Er konnte ihr aber das Ergebnis seiner Bemühungen nicht vorlegen, da sie bereits verstorben war, als er seine Arbeit vollendete. Seine Schilderung hat das Bild des Apollonios bis in die Gegenwart geprägt. Er verwertete Material aus älteren, heute verlorenen Schriften und versuchte den Eindruck von Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit und großer Sachkenntnis zu erwecken. Sehr wichtig war ihm aber auch die literarische Gestaltung; er legte die Biographie romanhaft an<ref>Zu den romanhaften Aspekten und ihrer Umgestaltung in der Philosophenbiographie siehe Alain Billault: Les formes romanesques de l’héroïsation dans la Vie d’Apollonios de Tyane de Philostrate. In: Bulletin de l’Association Guillaume Budé 1991, S. 267–274.</ref> und schmückte sie mit einer Fülle von Wundergeschichten aus. Daher und wegen zahlreicher Unstimmigkeiten hat die moderne Quellenkritik seiner Darstellung in vielerlei Hinsicht die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Seine Unzuverlässigkeit zeigt sich unter anderem bei falschen Angaben zur Chronologie.
Philostratos behauptete, seine Apollonios-Biographie sei in erster Linie eine Überarbeitung eines älteren Werks, der Aufzeichnungen (hypomnḗmata) des Damis. Damis sei ein Schüler des Apollonios gewesen, er habe seinen Lehrer auf dessen Reisen begleitet und als Augenzeuge die Ereignisse und die Äußerungen des Philosophen schriftlich festgehalten. Ein Verwandter des Damis habe Julia Domna die Aufzeichnungen des Philosophenschülers vorgelegt. Diese habe sich eine gefälligere Behandlung des Stoffs gewünscht, denn Damis sei zwar ein gewissenhafter Berichterstatter, aber kein guter Schriftsteller gewesen. Daher habe sie ihn, Philostratos, beauftragt, auf der Basis von Damis’ Angaben eine Biographie zu schreiben, die auch in stilistischer Hinsicht befriedigen könne.<ref>Philostratos, Vita Apollonii 1,3.</ref>
Diese Ausführungen des Philostratos sind von der modernen Forschung einer fundamentalen Kritik unterzogen worden. Dabei hat sich herausgestellt, dass das „Tagebuch des Damis“ eine literarische Fiktion ist. Authentische Aufzeichnungen eines Apollonios-Schülers namens Damis hat es sicher nie gegeben. Entweder hat Philostratos das Tagebuch frei erfunden<ref>Dieser Ansicht sind Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 12f., 19–49, 141, Ewen Lyall Bowie: Apollonius of Tyana: Tradition and Reality. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 16.2, Berlin 1978, S. 1652–1699, hier: 1653–1666, Erkki Koskenniemi: Der philostrateische Apollonios, Helsinki 1991, S. 9–15, 85f. und Thomas Schirren: Philosophos Bios. Die antike Philosophenbiographie als symbolische Form, Heidelberg 2005, S. 5f.</ref> oder es handelt sich um eine von ihm benutzte Schrift eines unbekannten Autors, der sich als Schüler des Apollonios ausgab.<ref>Jaap-Jan Flinterman: Power, Paideia and Pythagoreanism, Amsterdam 1995, S. 79–88; Robert J. Penella (Hrsg.): The Letters of Apollonius of Tyana, Leiden 1979, S. 1 Anm. 3; Wolfgang Speyer: Zum Bild des Apollonios von Tyana bei Heiden und Christen. In: Jahrbuch für Antike und Christentum, Jg. 17, 1974, S. 47–63, hier: 49–53. Vgl. Graham Anderson: Philostratus, London 1986, S. 155–173.</ref>
Zu den wichtigsten heute verlorenen älteren Quellen, die über Apollonios berichteten, zählt anscheinend ein Werk, das Maximos von Aigeai, ein Sekretär Kaiser Hadrians, in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts verfasste. Es behandelte, wie Philostratos mitteilt, die Taten des Apollonios in der Stadt Aigeai (Aigai) in Kilikien.<ref>Philostratos, Vita Apollonii 1,3 und 1,12.</ref> Ob es sich bei dieser Schrift um eine reale oder um eine von Philostratos erfundene Quelle handelt, ist in der Forschung umstritten. Heute wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass Maximos tatsächlich unter Hadrian gelebt und das ihm zugeschriebene Werk geschrieben hat und dass Philostratos zu dieser Quelle Zugang hatte. Die Zweifel sind jedoch nicht völlig ausgeräumt.<ref>Eine Forschungsübersicht bietet Thomas Schirren: Philosophos Bios. Die antike Philosophenbiographie als symbolische Form, Heidelberg 2005, S. 2–5. Vgl. Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 34f.; Ewen Lyall Bowie: Apollonius of Tyana: Tradition and Reality. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 16.2, Berlin 1978, S. 1652–1699, hier: 1684f.; Jaap-Jan Flinterman: Power, Paideia and Pythagoreanism, Amsterdam 1995, S. 68f. Für die Historizität plädierte auch Fritz Graf: Maximos von Aigai. In: Jahrbuch für Antike und Christentum 27/28, 1984/1985, S. 65–73, wobei er aber von einer heute überholten Chronologie ausging.</ref>
Ebenfalls nicht erhalten sind die vier Bücher der Apollonios-Biographie des Moiragenes, die sicher existiert hat, da sie außer bei Philostratos auch bei dem Kirchenschriftsteller Origenes bezeugt ist.<ref>Philostratos, Vita Apollonii 1,3 und 3,41; Origenes, Contra Celsum 6,41.</ref> Über diese Lebensbeschreibung äußerte sich Philostratos abfällig. Er meinte, Moiragenes sei nicht glaubwürdig, denn er sei schlecht informiert gewesen.<ref>Philostratos, Vita Apollonii 1,3. Zum Hintergrund von Philostratos’ Kritik an Moiragenes siehe Duncan H. Raynor: Moeragenes and Philostratus: two views of Apollonius of Tyana. In: The Classical Quarterly 34, 1984, S. 222–226; Ewen Lyall Bowie: Apollonius of Tyana: Tradition and Reality. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 16.2, Berlin 1978, S. 1652–1699, hier: 1673–1679.</ref>
Die älteste überlieferte Bezeugung des Apollonios stammt aus dem späten 2. Jahrhundert; es ist eine Erwähnung bei Lukian von Samosata.<ref>Lukian von Samosata, Alexander 5f.</ref> Aus dessen Angaben geht hervor, dass Apollonios Gefährten und Schüler hatte, die nach seinem Tod ihrerseits Unterricht erteilten und so die Tradition fortsetzten.
Leben und Lehren
Nach heutigem Forschungsstand wurde Apollonios um 40 geboren und starb um 120. Damit ist die ältere, früher gängige Datierung überholt, der zufolge Apollonios von ca. 3 v. Chr. bis ca. 97 n. Chr. lebte.<ref>Siehe zur Chronologie Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 30–38.</ref>
Philostratos schildert Apollonios als umherziehenden Prediger und Wundertäter, der in Italien, Spanien und Äthiopien tätig gewesen sei, in Rom dem Kaiser Domitian furchtlos entgegengetreten sei und bis nach Babylon, Arabien und Indien gekommen sei. Dass Apollonios ein Wanderphilosoph war, trifft zu, doch die Fernreisen sind erfunden.<ref>Zur Bedeutung der fiktiven Reisen im Kontext der Legendenbildung siehe John Elsner: Hagiographic geography: travel and allegory in the Life of Apollonius of Tyana. In: The Journal of Hellenic Studies 117, 1997, S. 22–37.</ref> Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Apollonios den Osten des Römischen Reiches nie verlassen. Die Städte, in denen er sich aufhielt, waren Ephesos, Aigeai, Antiocheia und seine Heimatstadt Tyana.
Von den legendenhaft ausgeschmückten Angaben der Quellen lässt sich nur Weniges plausibel mit der historischen Gestalt des Apollonios und seinen authentischen Lehren in Zusammenhang bringen. Sicher ist, dass er Pythagoras verehrte, sich zum neupythagoreischen Weisheitsideal bekannte und auf eine entsprechende Lebenspraxis großen Wert legte.<ref>Zur Nachahmung des Pythagoras siehe Constantinos Macris: Becoming divine by imitating Pythagoras? In: Mètis 4, 2006, S. 297–329, hier: 300f., 306–309, 311–316, 320–322.</ref> Glaubwürdig sind die Berichte, wonach er gemäß der pythagoreischen Tradition gegen Tieropfer auftrat und sich vegetarisch ernährte.<ref>Karin Alt: Opferkult und Vegetarismus in der Auffassung griechischer Philosophen (4. Jahrh. v. Chr. bis 4. Jahrh. n. Chr.). In: Hyperboreus 14/2, 2008, S. 87–116, hier: 104f.; Johannes Haussleiter: Der Vegetarismus in der Antike, Berlin 1935, S. 299–312.</ref> Einen Einblick in seine theologische Denkweise gewährt ein Fragment aus der verlorenen Schrift über Opferbräuche (Peri thysiōn), die wahrscheinlich von ihm oder in seinem Umfeld verfasst wurde und seine authentische Auffassung darlegte. Der Verfasser bezeichnet Gott als das schönste Wesen, das durch Gebete und Opfer nicht beeinflussbar und an Verehrung durch die Menschen nicht interessiert sei, aber auf geistigem Wege erreicht werden könne. Gott sei Nous (Geist, Intellekt) und daher dem menschlichen Geist zugänglich.<ref>Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 139–141; Bruce L. Taggart: Apollonius of Tyana: His Biographers and Critics, Ann Arbor 1972 (Dissertation, Tufts University), S. 90–98; deutsche Übersetzung des Fragments bei Matthias Dall'Asta: Philosoph, Magier, Scharlatan und Antichrist, Heidelberg 2008, S. 23.</ref>
Weiteren Aufschluss bietet der 58. Brief, der vermutlich von dem historischen Apollonios oder aus seinem Umfeld stammt.<ref>Robert J. Penella (Hrsg.): The Letters of Apollonius of Tyana, Leiden 1979, S. 66–71 (Text und englische Übersetzung); zur Echtheit siehe Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 33f., 143–145.</ref> Der Empfänger des Briefs ist ein Valerius, wahrscheinlich Decimus Valerius Asiaticus Saturninus, der Prokonsul der Provinz Asia war.<ref>Werner Eck: Zum neuen Fragment des sogenannten testamentum Dasumii. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 30, 1978, S. 277–295, hier: 292–295.</ref> Valerius ist nach dem Tod seines Sohnes in Verzweiflung verfallen. In dem stark von mittelplatonischem Gedankengut geprägten Trostbrief wird ihm erklärt, die Geburt sei nur ein Übergang aus dem Bereich des reinen Wesens (ousía) in den Bereich der Natur (phýsis), der Tod ein Übergang in umgekehrter Richtung. Nichts trete in die Existenz oder gehe zugrunde, sondern es gebe nur einen Wechsel von Sichtbarwerden und Unsichtbarwerden. Wenn etwas sei, so sei es unentstanden und unvergänglich. So werde auch ein Kind nicht von seinen Eltern erzeugt, sondern die Eltern seien nur ein Mittel, das erforderlich sei, damit es auf die Welt komme. Der Tod sei nur eine Änderung des Aufenthaltsorts. Daher solle er nicht beklagt, sondern geehrt werden. Nach einem Todesfall solle nicht das Verstreichen der Zeit, sondern die Vernunft bewirken, dass der Gemütszustand der Hinterbliebenen sich bessere. Es sei eines guten Menschen unwürdig, den Schmerz von der Zeit lindern zu lassen, denn auch das Leid der Schlechten vergehe mit der Zeit. Vielmehr komme es darauf an, dass man seine Einstellung zum Tod ändere. Wer als Amtsträger über Befehlsgewalt verfüge, solle zuerst lernen, sich selbst zu beherrschen. Wenn er dazu nicht in der Lage sei, könne er nicht einmal seinen eigenen Haushalt lenken, geschweige denn Städte und Provinzen.
Antike Ikonographie
Philostratos erwähnt Bildnisse des Philosophen, die sich zu seiner Zeit in einem Apollonios-Heiligtum in Tyana befunden hätten.<ref>Philostratos, Vita Apollonii 8,29.</ref>
In Gortyn auf Kreta wurde eine gut erhaltene, im 2. Jahrhundert entstandene Statue eines asketischen Wanderphilosophen ausgegraben, die sich heute im Archäologischen Museum von Heraklion befindet. Früher glaubte man zu Unrecht, es handle sich um ein Bildnis des Vorsokratikers Heraklit. Eine genauere Untersuchung hat ergeben, dass der Dargestellte ein wandernder und lehrender Philosoph ist, und zwar kein ungebildeter und ungepflegter Kyniker, sondern – wie sein Bündel von Buchrollen zeigt – ein Gelehrter. Die Verbindung von Wanderleben – worauf der keulenartige Stock deutet –, Askese (er trägt kein Untergewand), gepflegtem Äußeren und Gelehrsamkeit passt gut zu Apollonios. Es ist daher anzunehmen, dass der Philosoph von Gortyn entweder Apollonios selbst oder ein charismatischer Wanderlehrer seiner Art ist.<ref>Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995, S. 250f.</ref>
Wohl im frühen 3. Jahrhundert ist eine Statue entstanden, deren oberer Teil erhalten ist. Der Beschriftung zufolge handelt es sich um Apollonios, daher galt dieser in der älteren Forschung als der Dargestellte. Das Stück befand sich 1972 in Mailand im Besitz eines Kunsthändlers.<ref>Salvatore Settis: Severo Alessandro e i suoi Lari. In: Athenaeum 50, 1972, S. 237–251, hier: 244f. (mit Abbildung); Abbildung online.</ref> Da die Beschriftung aber von einem neuzeitlichen Gelehrten stammt, fällt die Begründung für die Identifizierung mit Apollonios weg.<ref>Andreas Alföldi, Elisabeth Alföldi: Die Kontorniat-Medaillons, Teil 2, Berlin 1990, S. 102f.</ref> Der Kopf eines anhand der Beschriftung bestimmbaren spätantiken Schildporträts des Apollonios aus Aphrodisias in Karien ist verloren, nur ein Teil des Gewandes ist erhalten geblieben.<ref>Roland R. R. Smith: Late Roman Philosopher Portraits from Aphrodisias. In: The Journal of Roman Studies 80, 1990, S. 127–155, hier: 141–144, Abbildung Tafel XI.</ref>
In der Spätantike wurden Kontorniaten (Medaillons) geprägt, auf denen berühmte Persönlichkeiten aus der griechischen und römischen Kulturgeschichte abgebildet sind. Diese in der damaligen Bildungselite geschätzten Prägungen wurden wohl im Milieu traditionsbewusster paganer Senatoren initiiert. Auf einem in großer Anzahl verbreiteten, um 395 geprägten Kontorniaten ist laut der lateinischen Umschrift Apollonios dargestellt. Er trägt einen Lorbeerkranz.<ref>Peter Franz Mittag: Alte Köpfe in neuen Händen, Bonn 1999, S. 115, 126, 159–162.</ref>
Der Verfasser der spätantiken Historia Augusta berichtet von einer Vision des Kaisers Aurelian, dem Apollonios im Jahr 272 erschienen sei „in der Gestalt, in der man ihn (auf Bildnissen) sieht“. Der Kaiser habe den Philosophen erkannt, da ihm dessen Gesichtszüge von Porträts in vielen Tempeln her vertraut gewesen seien.<ref>Historia Augusta, Vita Aureliani 24,3–5.</ref> Daraus ist ersichtlich, dass Bildnisse des Apollonios verbreitet waren und dass es einen allgemein bekannten ikonographischen Typus gab.
Rezeption
Zu seinen Lebzeiten scheint Apollonios außerhalb der Stätten seines Lebens und Wirkens wenig bekannt gewesen zu sein. Kein zeitgenössischer Geschichtsschreiber oder Philosoph erwähnt seinen Namen. Die literarische Beschäftigung mit ihm setzte – soweit erkennbar – in den Jahrzehnten nach seinem Tode ein, die volkstümliche Legendenbildung erreichte ihren Höhepunkt erst in der Spätantike.
2. und 3. Jahrhundert
Wundergeschichten
Aus der Dauerhaftigkeit von Apollonios’ Ruhm als Wundertäter lässt sich schließen, dass er nicht nur zu seinen Lebzeiten, sondern auch in den Jahrzehnten nach seinem Tod eine erhebliche Anzahl von Bewunderern hatte, die ihm übermenschliche Qualitäten zuschrieben. Die Anfänge der legendenhaften Überlieferung liegen aber im Dunkeln.
Zu den Wundern, die ihm zugeschrieben wurden, gehören außersinnliche Wahrnehmungen. So soll er im Jahr 96 in Ephesos die zeitgleich in Rom geschehene Ermordung des Kaisers Domitian miterlebt und geschildert haben. Diese Episode wird von Cassius Dio und Philostratos mitgeteilt, wohl auf der Basis mündlicher Überlieferung. Beide berichten, dass der Philosoph die Tat als Tyrannenmord begrüßt habe.<ref>Cassius Dio 67,18; Philostratos, Vita Apollonii 8,26–27. Vgl. Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History, Rom 1986, S. 30–32, 41.</ref>
Philostratos erzählt, Apollonios habe die Epheser von einer Pestepidemie befreit, indem er die Jugendlichen der Stadt dazu gebracht habe, einen Bettler beim Standbild des Herakles zu steinigen. Nach Philostratos’ Schilderung handelte es sich um den Pestdämon, der die Gestalt eines Bettlers angenommen hatte und sich bei der Steinigung in einen löwengroßen Hund verwandelte; anschließend erlosch die Epidemie.<ref>Philostratos, Vita Apollonii 4,10.</ref> Diese Episode ist in der Forschung als Beleg für ein pharmakós-Opfer, ein Menschenopfer im Rahmen eines Reinigungsrituals, herangezogen worden. Walter Burkert sieht darin ein spätes und „nahezu unritualisiert, die eine Ähnlichkeit zeigen“. Dies sei aber nicht wesentlich, vielmehr seien „Apollonius von Tyana und der Christus Jesus die größten Gegensätze“. Apollonios habe nach einer ortsgebundenen irdischen Weisheit gesucht, Christus hingegen „ganz nur aus dem Überirdischen heraus“ gesprochen.<ref>Rudolf Steiner: Vortrag vom 28. März 1921, abgedruckt in dem Band Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung (= Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 203), Dornach 1978, S. 291, 294, 298.</ref>
Belletristik
Gustave Flaubert ließ in seinem Roman Die Versuchung des heiligen Antonius (La Tentation de saint Antoine), dessen letzte Fassung er 1874 veröffentlichte, Apollonios und Damis unter den Gestalten auftreten, die den Eremiten Antonius in Versuchung führten.<ref>Siehe zu Flauberts Apollonios-Rezeption Jean Seznec: „Le Christ du paganisme“. Apollonius de Tyane et Flaubert. In: Henri M. Peyre (Hrsg.): Essays in honor of Albert Feuillerat, New Haven 1943, S. 231–247.</ref>
Der russische Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow schrieb eine Kurze Erzählung vom Antichrist, die als Teil seiner Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte im Jahr 1900 in Buchform erschien. In dieser Schrift griff Solowjow die Thematik der christlichen Endzeiterwartung auf. Hier ist Apollonios ein genialer Magier, der in der Endzeit als Helfer des Antichrist auftritt. Nach dem Willen des Antichrist, der als Kaiser regiert, wird Apollonios zum Papst gewählt. Schließlich beseitigt aber die göttliche Vorsehung beide Widersacher Christi; sie fallen einem Vulkanausbruch zum Opfer.
Der US-amerikanische Dichter und Essayist Charles Olson schuf 1951 das „Tanzspiel“ Apollonius of Tyana.
In der esoterischen Belletristik wurde Apollonios 1948 zum Titelhelden eines Romans von Maria Schneider.<ref>Maria Schneider: Apollonius von Tyana, 6. Auflage. Hammelburg 1997 (1. Auflage unter dem Titel Der Wanderer durch den Sternkreis, Berlin 1948).</ref>
Ausgaben und Übersetzungen von Quellen
- Christopher P. Jones (Hrsg.): Philostratus: Apollonius of Tyana. Letters of Apollonius, Ancient Testimonia, Eusebius’s Reply to Hierocles (= Loeb Classical Library 458). Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2006, ISBN 0-674-99617-8 (griechische Texte mit englischen Übersetzungen; Rezension)
- Vroni Mumprecht (Hrsg.): Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana. De Gruyter, Berlin 2014 (Erstveröffentlichung 1983), ISBN 978-3-11-036115-5 (griechischer Text mit deutscher Übersetzung)
- Robert J. Penella (Hrsg.): The Letters of Apollonius of Tyana. A Critical Text with Prolegomena, Translation and Commentary. Brill, Leiden 1979, ISBN 90-04-05972-5.
Literatur
Gesamtdarstellungen
- Ewen Lyall Bowie: Apollonius of Tyana: Tradition and Reality. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II 16.2. De Gruyter, Berlin 1978, ISBN 3-11-007612-8, S. 1652–1699.
- Maria Dzielska: Apollonius of Tyana in Legend and History (= Problemi e ricerche di storia antica 10). „L'Erma“ di Bretschneider, Rom 1986, ISBN 88-7062-599-0.
- Gerd Petzke: Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament (= Studia ad Corpus Hellenisticum Novi Testamenti, Bd. 1). Brill, Leiden 1970 (Dissertation)
Antike Rezeption
- Johannes Hahn: Weiser, göttlicher Mensch oder Scharlatan? Das Bild des Apollonius von Tyana bei Heiden und Christen. In: Barbara Aland u. a. (Hrsg.): Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike. Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147982-3, S. 87–109.
- Christopher P. Jones: Apollonius of Tyana in Late Antiquity. In: Scott Fitzgerald Johnson (Hrsg.): Greek Literature in Late Antiquity. Ashgate, Aldershot 2006, ISBN 0-7546-5683-7, S. 49–64.
- Wolfgang Speyer: Zum Bild des Apollonios von Tyana bei Heiden und Christen. In: Jahrbuch für Antike und Christentum, Jg. 17, 1974, S. 47–63.
Neuzeitliche Rezeption
- Matthias Dall'Asta: Philosoph, Magier, Scharlatan und Antichrist. Zur Rezeption von Philostrats Vita Apollonii in der Renaissance (= Kalliope Bd. 8). Winter, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8253-5412-1 (Dissertation)
Weblinks
- Literatur von und über Apollonios von Tyana im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Jona Lendering: Artikel. In: Livius.org (englisch)
- Englische Übersetzung der Vita Apollonii
Anmerkungen
<references />
Personendaten | |
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NAME | Apollonios von Tyana |
ALTERNATIVNAMEN | Apollonius Tyanaeus, Apollonius Tyaneus |
KURZBESCHREIBUNG | Philosoph, Neupythagoreer |
GEBURTSDATUM | um 40 |
STERBEDATUM | um 120 |