Blaue Stunde
Der Begriff blaue Stunde bezieht sich auf die besondere Färbung des Himmels während der Zeit der Dämmerung nach Sonnenuntergang und vor Eintritt der nächtlichen Dunkelheit. Besonders geprägt wurde der Begriff von Schriftstellern und Dichtern, die ihn häufig mit melancholischen Gefühlen assoziieren.<ref name="LochmannOverath1988"/><ref name="Hoeppe2007-236"/> Dieselbe Färbung ist auch während der Morgendämmerung zu sehen, allerdings wird der Begriff in diesem Zusammenhang seltener verwendet. Das Blau des Himmels hat eine andere spektrale Zusammensetzung, da es auf eine andere physikalische Ursache als bei Tage zurückzuführen ist. Während der blauen Stunde besitzt dieser tiefblaue Himmel etwa dieselbe Helligkeit wie das künstliche Licht von Gebäude- und Straßenbeleuchtungen.
Inhaltsverzeichnis
Physikalische Erklärung der Färbung
Das Himmelsblau während des Tages wird durch die Rayleigh-Streuung verursacht, aufgrund derer mehr Licht kürzerer Wellenlänge – also blaues Licht – gestreut wird. Wenn das Sonnenlicht im Verlauf der Dämmerung immer schräger einfällt und einen längeren Weg durch die Erdatmosphäre nimmt, ist immer mehr Licht bereits herausgestreut, bevor es den Himmel über dem Ort der Dämmerung erreichen kann. Da dies insbesondere für das blaue Licht gilt, würde das dazu führen, dass der Himmel im Zenit nach Sonnenuntergang eher gelblich oder grünlich wäre. Mit dem schrägen Lichteinfall hat das Licht aber auch einen längeren Weg durch die Ozonschicht in 15 bis 30 Kilometer Höhe, weshalb ein Effekt zum Tragen kommt, der sich während des Tages nicht bemerkbar macht, da er deutlich schwächer als die Rayleigh-Streuung ist, nämlich die Chappuis-Absorption.<ref name="Hoeppe2007-238"/>
Bereits im Jahr 1880 hatte der französische Chemiker James Chappuis erkannt, dass Ozon sichtbares Licht blau färbt, da es Licht im gelben, orangen und roten Spektrum absorbiert, wodurch das blaue Licht sozusagen übrig bleibt.<ref name="Hautefille1880"/> Man hielt aber das Himmelsblau durch die damals bekannte Rayleigh-Streuung bereits für vollkommen ausreichend erklärt, so dass man diesem Effekt in dieser Hinsicht keine Bedeutung beimaß. Erst 1952 erkannte der US-amerikanischen Geophysiker Edward Hulburt (1890–1982) diesen Zusammenhang. Er stieß darauf, als er die Intensität und Färbung des Lichts während der Dämmerung vermaß und mit den theoretisch vorhergesagten Werten verglich. Die Größenordnung der Abweichungen schloss Messfehler aus und erst als Hulburt, dem die Absorptionswirkung des Ozons bekannt war, die Chappuis-Absorption in seine Berechnungen einbezog, waren Theorie und experimentelle Daten in Einklang zu bringen.<ref name="Hoeppe2007-238"/>
Mit dem bei Dämmerung immer länger werdenden Weg durch die Erdatmosphäre nimmt die Bedeutung der Rayleigh-Streuung für die Färbung des Himmels im Zenit ab, die Bedeutung der Chappuis-Absorption dagegen nimmt zu. Zum Zeitpunkt des Sonnenuntergangs ist die Färbung nur zu einem Drittel auf die Rayleigh-Streuung und zu zwei Dritteln auf die Chappuis-Absorption zurückzuführen, im späteren Dämmerungsverlauf wird letztere zum einzigen maßgeblichen Effekt.<ref name="Hoeppe2007-238"/>
Über die Entdeckung dieses vollkommen zufällig erscheinenden harmonischen Zusammenspiels zweier so unterschiedlicher physikalischer Effekte staunte Hulburt selbst und brachte dies in einem Dankschreiben für eine Auszeichnung, die er für seine Forschungen erhielt, zum Ausdruck.<ref name="Hoeppe2007-238"/><ref name="Hulburt1956"/>
“The unsuspecting observer lying on his back and looking upward at the clear sky during sunset sees only that the overhead sky which was blue before, remains the same luminous blue color during sunset and throughout the darkening period of twilight. He is not aware that in order to produce this apparently simple and satisfactory result nature has dipped quite freely into her best bag of optical tricks.”
„Der nichtsahnende Beobachter, der während des Sonnenuntergangs auf dem Rücken liegend in den klaren Himmel schaut, sieht nur, dass der Himmel über ihm, der vor dem Sonnenuntergang blau war, dasselbe leuchtende Blau beibehält, während die Sonne untergeht und es anschließend während der Dämmerung immer dunkler wird. Er ist sich nicht bewusst, dass die Natur, um dieses anscheinend so selbstverständliche und naheliegende Ergebnis zu produzieren, recht großzügig ganz tief in die optische Trickkiste gegriffen hat.“
Farbtemperatur
Physikalisch beschreibt die Farbtemperatur die geänderten Beleuchtungsverhältnisse. Während die Sonne im Mittel eine Farbtemperatur von 5500 K hat, beträgt die des blauen Himmels zwischen 9000 K und 12000 K. Am Tage mischen sich diese beiden Lichtquellen zum typischen Tageslicht mit einer Farbtemperatur von 6500 K. In der blauen Stunde entfällt das direkte Sonnenlicht und das Himmelsblau verbleibt. Der höhere Blauanteil des Himmelslichts lässt sich tagsüber im Schatten beobachten.
Dauer
Die Dauer beträgt zwischen 20 Minuten in den Tropen, 30 Minuten (Tag-und-Nacht-Gleiche) bis 50 Minuten (Sonnenwende) in Mitteleuropa und bis zu fünf Stunden in den Weißen Nächten. An den Polen dauert diese Erscheinung theoretisch zwei Wochen .
Die blaue Stunde in der Fotografie
In der Fotografie wird die blaue Stunde für Available-Light-Aufnahmen und die Nachtfotografie genutzt. Gegenüber Aufnahmen bei absoluter Dunkelheit ist zu dieser Zeit die Umgebung noch leicht erhellt und besser sichtbar. Im erhaltenen Bild sind die Kontraste zwischen Hell und Dunkel abgemildert und die Bilder weisen eine besondere Stimmung auf. Die Beleuchtung innerhalb von Gebäuden kommt in den fotografisch gleichen Kontrastumfang der nicht künstlich beleuchteten Fassade und Umgebung und der Farbkontrast zur Straßenbeleuchtung und Gebäudebeleuchtungen bieten fotografische Anreize. Die unterschiedlichen Farbtemperaturen (Blau des Himmels, Orange der Glühbirnen, Türkis der Leuchtstoffröhren) machen solche Fotos ungewöhnlich bunt. Dieser Effekt wird durch die notwendige lange Belichtungszeit noch verstärkt.
Die blaue Stunde in der Literatur
- Oskar Loerke: Blauer Abend in Berlin (Gedicht, 1911)<ref> Oskar Loerke: Blauer Abend in Berlin</ref>
- Ein Gedicht von Gottfried Benn trägt den Titel Blaue Stunde.<ref>Stefanie Golisch: Stunde der Illusion – Stunde der Wahrheit auf Anthologie.de (Text des Gedichts von Benn und Interpretation)</ref>
- Ein Gedicht von Ingeborg Bachmann trägt den Titel Die blaue Stunde.<ref>Stefanie Golisch: Die Stunde zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit bei Fixpoetry (Text der Gedichte von Benn und Bachmann und Interpretation)</ref>
- Ein Roman von William Boyd aus dem Jahr 1994 trägt in der deutschen Übersetzung den Titel Die blaue Stunde (Original: The Blue Afternoon).
- Ein Roman von Joan Didion aus dem Jahr 2012 trägt in der Übersetzung den Titel Die blauen Stunden (Original: Blue Nights).
- Ein Lied der Band Faun aus dem Jahr 2014 trägt den Titel Blaue Stunde.
- Der Roman Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen zeigt im melancholischen Bewusstsein des Protagonisten Philipp die „heure bleue“ in den geistigen, politischen und sozialen Strukturen der Krisensituation des Jahres 1951: „Philipp liebte die Stunde. In Paris war es die heure bleue, die Stunde des Träumens, eine Spanne relativer Freiheit, der Augenblick des Freiseins von Tag und Nacht.“<ref>Wolfgang Koeppen:Tauben im Gras. Hamburg 1951, Episode 74.</ref>
Siehe auch
Literatur
- E. O. Hulburt: Explanation of the Brightness and Color of the Sky, Particularly the Twilight Sky. Journal of the Optical Society of America 43 (2), 1953, S. 113–118, doi:10.1364/JOSA.43.000113 (englisch).
- Götz Hoeppe: Why the Sky is Blue. Discovering the Color of Life. Princeton University Press, Princeton 2007, ISBN 0-691-12453-1.
Weblinks
- Zeit-Tabellen der blauen Stunde für frei wählbare Orte
- Götz Hoeppe: Himmelslicht. Spiegelbild des Erdklimas.
Einzelnachweise
<references> <ref name="Hoeppe2007-236"> Götz Hoeppe: Why the Sky is Blue. Discovering the Color of Life. Princeton University Press, Princeton 2007, ISBN 0-691-12453-1, S. 236 f. (Google books)</ref> <ref name="Hoeppe2007-238"> Götz Hoeppe: Why the Sky is Blue. Discovering the Color of Life. Princeton University Press, Princeton 2007, ISBN 0-691-12453-1, S. 238–253 (Google books)</ref> <ref name="LochmannOverath1988"> Angelika Lochmann, Angelika Overath: Das blaue Buch. Lesarten einer Farbe. Greno Verlag, Nördlingen 1988, ISBN 3-89190-432-0, S. 208 f.</ref> <ref name="Hulburt1956"> E. O. Hulburt: Some Recent Papers in the Journal of the Optical Society of America. In: Journal of the Optical Society of America. Band 46, S. 9, 1956, doi:10.1364/JOSA.46.000005</ref> <ref name="Hautefille1880">P. Hautefille, J. Chappuis: Sur la liquéfaction de l’ozone et sur la couleur à l’état gaseux. In: Comptes rendus de l'Académie des sciences, Band 91 (1880), S. 552–525, deutsch in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Band 13 (1880), S. 2408</ref> </references>