Islamisierung
Islamisierung bezeichnet im historischen Sinne die territoriale Ausbreitung der islamischen Religionsgemeinschaft in deren Frühphase, die beginnend nach dem Tod des Propheten Mohammed bis ungefähr ins 10. Jahrhundert hinein stattfand. In zeitgenössischen Texten wird unter Islamisierung ein Bedeutungsgewinn der islamischen Religion in Staaten, Regionen oder Gesellschaften<ref>Katharina Hierl: Die Islamisierung der deutschen Integrationsdebatte. Zur Konstruktion kultureller Identitäten, Differenzen und Grenzziehungen im postkolonialen Diskurs. (= Politik, Gemeinschaft und Gesellschaft in einer globalisierten Welt, Bd. 13) LIT Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-643-11744-1, S. 31.</ref> und ein Zuwachs der Anzahl muslimischer Glaubensangehöriger verstanden. Der Begriff wird in Europa auch als politisches Schlagwort in rechtspopulistischen und konservativen Kreisen verwendet.
Unter Islamischer Wiedergeburt (auch Re-Islamisierung genannt) wird die Rückbesinnung auf religiöse Werte und Traditionen verstanden, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einigen islamisch geprägten Ländern ihren Ausgangspunkt nahm.<ref>Re-Islamisierung. In: Bundeszentrale für politische Bildung.</ref>
Inhaltsverzeichnis
Islamisierung als wissenschaftlicher Begriff
Anders als die Konversion einer einzelnen Person zum Islam beschreibt der Begriff Islamisierung einen kollektiven Umwandlungsprozess in historisch-politischer Dimension – teilweise analog zur Christianisierung.
Historisch führte die islamische Expansion langfristig zur Islamisierung der jeweiligen Gebiete unter islamischer Herrschaft: Zwar bestand aufgrund der hohen Bedeutung der Dschizya für die damaligen muslimischen Steuereinnahmen von Seiten der muslimischen Herrscher wenig Interesse an einer Konversion von Nicht-Muslimen zum Islam,<ref>Albrecht Noth: Früher Islam. In: Ulrich Haarmann (Hrsg.): Geschichte der arabischen Welt. C. H. Beck, 1991. S. 92 f.</ref> aber aufgrund ihres niedrigeren Rechtsstatus als nicht-muslimische Schutzbefohlene zogen diese oft dennoch eine Konversion zum Islam vor. Gegen die maurische Herrschaft in Spanien richtete sich seit dem Hochmittelalter die Reconquista, durch die alle Muslime und Juden vertrieben oder zwangschristianisiert wurden (siehe auch: Conversos).
Die letzte Islamisierung auf europäischem Boden fand ab dem 15. Jahrhundert durch die Osmanen auf dem Balkan (Bosniaken, Albaner) statt, während sie in Griechenland durch den starken kulturellen Widerstand gegen die osmanische Vorherrschaft nur sehr begrenzt wirkte. Durchaus sind jedoch auch in diesen Gebieten Einflüsse auf die Bildende Kunst, die Musik (z. B. zahlreiche Opern) und die Küche festzustellen.
Bei der Islamisierung Westafrikas spielten das Malireich (13.–14. Jahrhundert) und das Songhaireich (14.–17. Jahrhundert), die beide stark auf Handel ausgerichtet waren, eine wichtige Rolle. Dioula-Händler bereisten in dieser Zeit bereits das Gebiet der heutigen Elfenbeinküste. Dessen nördlicher Teil wurde im 18. Jahrhundert durch Prediger – von den Dioula karamakow genannt – fast vollständig islamisiert.<ref>Vgl. Marie Miran: Islam, histoire et modernité en Côte d’Ivoire. Karthala, Paris, 2006. S. 37–41.</ref> Die Entwicklung des Islams hin zu einer Mehrheitsreligion auch im Süden der Elfenbeinküste ist einer der wichtigsten Islamisierungsprozesse auf dem afrikanischen Kontinent in den letzten dreißig Jahren.<ref>Vgl. Marie Miran: Islam, histoire et modernité en Côte d’Ivoire. Karthala, Paris, 2006. S. 8.</ref>
„Islamisierung“ als politisches Schlagwort
Warnungen vor einer Islamisierung in Europa
Die Warnung vor einer Islamisierung Europas findet sich regelmäßig in rechtspopulistischen Kreisen und wird mit nationalistischen Motiven und dem Beklagen drohender „Überfremdung“ und „Umvolkung“ verknüpft. In Antwerpen in Belgien stellten im Januar 2008 die Politiker Heinz-Christian Strache (Freiheitliche Partei Österreichs) und Filip Dewinter (Vlaams Belang) sowie Markus Beisicht von der Bürgerbewegung pro NRW eine „Europäische Städteallianz gegen Islamisierung“ vor.<ref>Die Presse: FPÖ vs. Islam: Strache gründet "Allianz gegen Islamisierung", 16. Januar 2008</ref> Ihre Forderungen umfassen unter anderem die Eintragung der Religionsgemeinschaft in jedem Reisepass und die Sammlung von Fingerabdrücken von „Personen mit islamischem Hintergrund“. Strache zeigte sich „entsetzt über den Islamisierungs- und Überfremdungsgrad“ Antwerpens und forderte einen sofortigen Einwanderungsstopp, da nur so „Europa jetzt noch vor dem drohenden Untergang“ zu retten sei.<ref>FPÖ-Presseaussendung: Strache bekräftigt in Antwerpen Städtepartnerschaft gegen drohende Islamisierung in Europa, 18. Januar 2008</ref>
Im Zusammenhang mit der These einer Islamisierung Europas wird auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen verwiesen, die dadurch bedingt seien. Der französische Philosoph Robert Redeker etwa warnte 2006 vor einer „Islamisierung des Denkens“ und nennt als Beispiele dafür „in den öffentlichen Badeanstalten Schwimmzeiten nur für Frauen, das Verbot, diese Religion zu karikieren, der Anspruch auf einen Sonderspeiseplan für muslimische Kinder in den Schulkantinen, der Kampf für das islamische Kopftuch an den Schulen“ und schließlich den „Vorwurf der Islamophobie gegen alle freien Denker“.<ref>Michaela Wiegel: Ein Philosophielehrer auf der Flucht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Oktober 2006.</ref>
In der Debatte wird vielfach unterschieden zwischen dem Islam bzw. den Muslimen im Allgemeinen, dem orthodoxen Islam und dem islamischen Fundamentalismus. So meint etwa der Göttinger Soziologe und Moslem Bassam Tibi: „Wer sich in der Islam-Diaspora Europas auskennt, weiß, dass nicht nur die Islamisten von einem islamischen, von der Scharia beherrschten Europa träumen; auch orthodoxe Moslems tun dies und rechnen Europa durch demographische Islamisierung durch Migration zum Dar al-Islam/Haus des Islam.“, fügt aber hinzu, es gehe „nicht darum, den Islam aus Europa zu entfernen, sondern ihn mit Europa als Euro-Islam zu versöhnen.“<ref>Bassam Tibi: Europa droht eine Islamisierung. In: Die Welt, 28. Mai 2002.</ref>
Auch in konservativen Kreisen wird der Begriff „Islamisierung“ verwendet. So schrieb Beat Christoph Bäschlin, Mitarbeiter im Schweizer Innenministerium und Autor in der Wochenzeitung Junge Freiheit, im Jahr 1990:
„Frankreich ist der Brückenkopf der islamischen Invasion. Deshalb ist Frankreich heute eine tödliche Gefahr für Europa. Seine meinungsmachende und politische Führungskaste betreibt eine systematische und äußerst wirksame Förderung der afrikanisch-asiatischen Einwanderung. Früher oder später werden sich die in Frankreich eingesickerten Einwanderermassen in das übrige Europa ergießen. […] Bei der Abwürgung der Nationalstaaten und staatlichen Nationalismen war der Einwanderung eine grundlegende Rolle zugedacht: eine Art einheitlichen europäischen Staatsvolkes war programmiert. Bis 1993 sollte jeder französische oder sonstige Nationalismus überwunden sein und eine Art gesamteuropäische Menschenrasse sollte entstehen. Durch eine massive Einspritzung von arabisch-schwarzafrikanischen Elementen sollte eine vereinheitlichte Tönung europaweit erreicht werden.“
Edmund Stoiber (CSU) warnte 2006 vor einer schleichenden Islamisierung Deutschlands und forderte in dem Zusammenhang den Schutz muslimischer Mädchen vor Zwangsehen, dass in den Moscheen auf Deutsch gepredigt werden solle und die muslimischen Gemeinden sogenannte „Ehrenmorde“ ächten und Extremisten in den eigenen Reihen der Polizei melden sollen.<ref>Stoiber warnt vor „Islamisierung“ Deutschlands. (Memento vom 22. Oktober 2009 im Internet Archive) In: Financial Times Deutschland, 14. Oktober 2006.</ref>
Bei Warnungen vor einer Islamisierung Europas wird gerne auf den von Bat Yeʾor geprägten Begriff Eurabien zurückgegriffen.
Kritik des Begriffes „Islamisierung“
Daniel Bax (taz) wirft Anhängern der Islamisierungsthese vor, sie würden aufgrund xenophober Reflexe das Fremde für schlecht halten und erlägen alten Überfremdungsängsten.<ref>Daniel Bax: Die Islamisierung in den Köpfen. In: die tageszeitung, 26. März 2007.</ref> Diese Gegenposition erkennt keine Islamisierung. Ein Teil ihrer Vertreter sieht eine sogenannte Islamophobie.
Von Björn Schwentker wurde darauf hingewiesen, dass die Zukunftsszenarien weitgehend spekulativ seien und sich keine stichhaltigen Aussagen über die Entwicklung treffen ließen.<ref>Björn Schwentker: Jede hat einen guten Grund. In: Die Zeit, 22. Juni 2006.</ref> Darüber hinaus sei auch kein ausreichendes Datenmaterial vorhanden, um eine Prognose über die künftige Bevölkerungsentwicklung der Muslime zu treffen. So fehlten genaue Angaben dazu, wie viele Muslime heute in europäischen Ländern leben. Im Sommer 2010 wurde die Dissertation der Soziologin Nadja Milewski veröffentlicht, laut der die Geburtenrate von Migrantinnen sich der deutschen Geburtenrate annähere,<ref>Matthias Kamann: Migrantinnen passen sich deutscher Geburtenrate an. In: Die Welt, 10. August 2010.</ref><ref>Nadja Milewski: Fertility of Immigrants. A Two-Generational Approach in Germany. Hamburg, Springer, 2010.</ref> jedoch mit einer weiterhin deutlich höheren Fertilität der türkischstämmigen Frauen auch in der zweiten Generation.<ref>Milewski 2010, S. 148</ref>
Die Daten für Prognosen sind nicht ausreichend vorhanden, da es nur in wenigen europäischen Ländern aktuelle oder gesicherte Zahlen über den Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölkerung gibt. Eine Reihe von Ländern, darunter Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Italien, Luxemburg und Spanien, stellen die Frage nach dem Glaubensbekenntnis weder in Volkszählungen noch anderen offiziellen Dokumenten. In Deutschland wurde diese Frage zuletzt bei der Volkszählung im Jahr 1987 erhoben.<ref name="focus04.2007">Islam im demographischen Aufwind. In: Focus, 23. April 2007.</ref> Oftmals werden Menschen, deren Vorfahren aus islamisch geprägten Ländern stammen, automatisch hierzu gezählt.<ref>Deutschland: Bundesregierung antwortet auf Große Anfrage zum Islam. In: migration-info.de.</ref>
Zwangsislamisierung
Die Zwangsislamisierung bezeichnet die erzwungene Konversion zum Islam. Nach klassischem islamischem Recht ist sie bei Polytheisten<ref>The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden. Bd. 9, S. 484</ref> sowie vom Islam Abgefallenen als auch unter bestimmten Umständen bei Frauen, Kindern und Kriegsgefangenen<ref name="Friedmann">Yohanan Friedmann: Tolerance and Coercion in Islam. Interfaith Relations in the Muslim Tradition. Cambridge University Press, 2003. S. 106 und 121.</ref> erlaubt: Sie können vor die Wahl zwischen der Annahme des Islams oder dem Tod gestellt werden. In der gegenwärtigen islamischen Welt findet dies – von einzelnen Staaten, die für den Abfall vom Islam die Todesstrafe vorsehen, abgesehen – keine Anwendung mehr.
Als der islamische Religionsstifter Mohammed 632 n. Chr. starb, erstreckte sich der islamische Machtbereich über die gesamte arabische Halbinsel.<ref>Für eine Zusammenfassung siehe: W. Montgomery Watt: Muhammad at Medina. Oxford University Press, 1962. S. 78–151; Elias Shoufani: Al-Ridda and the Muslim Conquest of Arabia. University of Toronto Press, 1973. S. 10–48</ref> Einige arabische Stämme, die mit der islamischen Gemeinschaft auf verschiedenem Wege verbunden waren,<ref>Albrecht Noth: Früher Islam. In: Ulrich Haarmann (Hrsg.): Geschichte der arabischen Welt. C.H. Beck, 1991. S. 39</ref> weigerten sich nach Mohammeds Tod, die finanziellen Abgabebedingungen des Islam (Zakat) weiterhin zu erfüllen. In den sogenannten Ridda-Kriegen unter Führung des ersten Kalifen Abu Bakr wurden diese unterworfen und zwangsislamisiert.
Die osmanische Knabenlese, bei der ein bestimmter Anteil christlicher Knaben abgeliefert werden musste, die dann zu muslimischen Soldaten ausgebildet wurden, war eine organisierte Form der Zwangsislamisierung.
Literatur
Historisch
- Yohanan Friedmann: Tolerance and Coercion in Islam. Interfaith Relations in the Muslim Tradition. Cambridge University Press, 2006, ISBN 0-521-02699-7.
- Adel Théodor Khoury: Toleranz im Islam. Kaiser, München / Grünewald, Mainz 1980. ISBN 3-459-01250-1 (Kaiser) / ISBN 3-7867-0848-7 (Grünewald) (= Entwicklung und Frieden).
- Bat Ye'or: Der Niedergang des orientalischen Christentums unter dem Islam. Vom Dschihad zum Schutzvertrag. Resch, Gräfelfing 2002, ISBN 3-935197-19-5.
- Anton Minkov: Conversion to Islam in the Balkans. Kisve Bahasi Petitions and Ottoman Social Life, 1670–1730. Leiden 2004 (The Ottoman Empire and its heritage, Band 30), ISBN 90-04-13576-6.
Aktuell
- Ralph Ghadban: Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas. Schiler, Berlin 2006, ISBN 3-89930-150-1.
- John L. Esposito: The Islamic Threat. Myth or Reality? Oxford University Press, 1992. ISBN 0-19-507184-0
- Michael Blume: Wird Deutschland islamisch? Zahlen, Fakten & Prognosen
- Michael Blume, Carsten Ramsel, Sven Graupner: Religiosität als demografischer Faktor – Ein unterschätzter Zusammenhang? (PDF; 514 kB); In: Marburg Journal of Religion, Volume 11, No. 1, Juni 2006
- Benjamin Kerst: Islamisierung. In: Bente Gießelmann, Robin Heun, Benjamin Kerst, Lenard Suermann, Fabian Virchow (Hrsg.): Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe. Wochenschau Verlag, Schwalbach 2015, ISBN 978-3-7344-0155-8, S. 144–161.
- Nadja Milewski: Fertility of Immigrants. A Two-Generational Approach in Germany, Springer 2010, ISBN 978-3-642-03704-7
- Steffen Kröhnert, Reiner Klingholz: Glaube, Macht und Kinder. Erobern religiöse Menschen mit vielen Nachkommen die Welt? (PDF; 178 kB), Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
- Heinz Buschkowsky: Die andere Gesellschaft. Ullstein, Berlin 2014, ISBN 978-3-550-08050-0
Einzelnachweise
<references/>
Weblinks
- Frank Schirrmacher: Muslime in Deutschland. Vorbereitungsgesellschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Februar 2006.
- bpb Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2006: Parallelgesellschaften? (PDF-Datei; 1,09 MB)
- „Sparschweinalarm“ Kommentar zum sog. „Kampf der Kulturen“ in den Medien von Robert Misik
- „Kreuzzug für 'westliche Werte' und starken Staat“ Zur Debatte um muslimische „Parallelgesellschaften“ von Justus Leicht
- Keine Angst vor Islamisierung in der Türkei – Essay von Loay Mudhoon, Politik- und Islamwissenschaftler, Universität zu Köln
- Die türkische AKP als Vorbild für die arabische Welt? Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 39-40/2009)