Kultur


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25px Dieser Artikel behandelt die menschliche Kultur – zu anderen Bedeutungen siehe Kultur (Begriffsklärung).
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Anspielung auf die ursprüngliche Wortbedeutung: Sonderausstellung „Der Apfel – Kultur mit Stiel“ im Freilichtmuseum Hessenpark 2015
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Der antike Tempel des Parthenon in Athen ist ein klassisches Symbol für europäische „Kultur“

Kultur (von lateinisch cultura „Bearbeitung, Pflege, Ackerbau“) bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur. Kulturleistungen sind alle formenden Umgestaltungen eines gegebenen Materials, wie in der Technik oder der bildenden Kunst, aber auch geistige Gebilde wie Sprachen, Moral, Religion, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft.

Der Kulturbegriff ist im Laufe der Geschichte immer wieder von unterschiedlichen Seiten einer Bestimmung unterzogen worden.<ref>Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn trugen 1960 über 160 unterschiedliche Definitionen von „Kultur“ zusammen, vergleiche Alfred Kroeber, Clyde Kluckhohn u. a.: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York 1963 (Leseprobe in der Google-Buchsuche); zitiert bei Andrea Wegscheider: Thema: Interkulturelle Philosophie und Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie. Universität Wien, 2003–2004, S. 2–3 (Studienarbeit zur Vorlesung Interkulturelle Philosophie: Einführung; PDF-Datei; 336 kB; 15 Seiten auf univie.ac.at).</ref> Je nachdem drückt sich in der Bezeichnung Kultur das jeweils lebendige Selbstverständnis und der Zeitgeist einer Epoche aus, der Herrschaftsstatus oder -anspruch bestimmter gesellschaftlicher Klassen oder auch wissenschaftliche und philosophisch-anthropologische Anschauungen. Die Bandbreite der Bedeutungsinhalte ist entsprechend groß und reicht von einer rein beschreibenden (deskriptiven) Verwendung („die Kultur jener Zeit“) bis zu einer vorschreibenden (normativen), wenn bei letzterem mit dem Begriff der Kultur zu erfüllende Ansprüche verbunden werden.

Der Begriff kann sich auf eine enge Gruppe von Menschen beziehen, denen allein Kultur zugesprochen wird, oder auf das, was allen Menschen als Menschen zukommt, insofern Kultur sie beispielsweise vom Tier unterscheidet. Während die engere Bestimmung des Begriffs meist mit einem Gebrauch in Einzahl verbunden ist („die Kultur“), kann ein weiter gefasster Begriff auch von „den Kulturen“ im Mehrzahl sprechen.

Begriffsgeschichte

Wortherkunft

Das Wort „Kultur“ ist eine Eindeutschung des lateinischen Begriffs cultura, der eine Ableitung von lateinisch colere „pflegen, urbar machen, ausbilden“ darstellt. Denselben Ursprung haben die Bezeichnungen Kolonie und Kult. „Kultur“ ist in der deutschen Sprache seit Ende des 17. Jahrhunderts belegt und bezeichnet hier von Anfang an sowohl die Bodenbewirtschaftung als auch die „Pflege der geistigen Güter“. Heute ist der landwirtschaftliche Bezug des Begriffs nur noch in Wendungen wie Kulturland für Ackerland oder Kultivierung für Urbarmachung verbreitet; in der Biologie werden auch verwandte Bedeutungen wie Zell- und Bakterienkulturen benutzt. Im 20. Jahrhundert wird kulturell als Adjektiv gebräuchlich, jedoch mit deutlich geistigem Schwerpunkt.<ref>Duden-Redaktion: Kultur. In: Der Große Duden. Etymologie. Dudenverlag, Mannheim 1963, S. ??.</ref>

Die Wortherkunft des lateinischen Wortes colere leitet sich ab von der indogermanischen Wurzel kuel- für „ erst kraft der Bewegung […], so daß sie, wenn wir die Tastempfindung auf einen einzelnen Augenblick beschränkt sein lassen, innerhalb dieses Augenblicks als Data gar nicht mehr aufgefunden werden können.“<ref>Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1964, Band 3, S. 207.</ref>

Gestalten vollzieht sich für Cassirer stets in Verbindung mit einem sinnlichen Gehalt. Jede Formgebung geschieht also in einem Medium: Sprache braucht den Klang, Musik den Ton, der Maler die Leinwand, der Bildhauer den Stein, der Schreiner das Holz. Diesen Kerngedanken fasst Cassirers Formulierung der symbolischen Prägnanz: In einem Medium wird eine prägnante Form herausgearbeitet, die sich dann symbolisch auf anderes Beziehen kann.

„Unter ‚symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“<ref name="ec235">Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Band 3, Darmstadt 1982, S. 235.</ref>

Wenn Prägnanzbildung sich immer immanent in einem Medium vollzieht, dann kann von einer immanenten Gliederung gesprochen werden: Die Eigenschaften des Mediums bestimmen zugleich die Möglichkeiten zur Formgebung und zum Sinngehalt. Das Symbol ist also nicht gänzlich beliebig, sondern entwickelt sich in steter Beziehung zur Widerständigkeit der Welt, an welcher der Mensch sich abarbeitet: Holz kann nicht in Form gegossen werden, sondern verlangt einen bestimmten Umgang mit ihm, Worte sind nicht minutenlang, sondern sind von einer Kürze, die sie im Alltag erst gebrauchbar macht. Warnsignale sind laut und grell, Liebesgeflüster ist leise und zart, so dass es dem Ohr schmeichelt. Cassirer spricht bezüglich des Gesichtssinns davon, dass sich „im Sehen und für das Sehen“ Gestalt ausbildet, denn jedem Sehprozess geht immer schon eine Gestaltung voraus, die auch das neu erfasste bestimmt. (Siehe Absch. Raumwahrnehmung.) Die immanente Gliederung des sinnlichen Gehalts ist Voraussetzung dafür, dass die Welt nicht als formlos-unbestimmte Masse begegnet: durch Verdichtung und Herauslösung bilden sich Formen, Gestalten, Kontraste, welche durch Fixierung zu einer Identität gegenüber anderen Wahrnehmungsinhalten gelangen. Erst hierdurch „zerfließt“ die Welt nicht. Damit die Formen und Gestalten aber zu einer Dauerhaftigkeit kommen und sich „aus dem Strom des Bewusstseins bestimmte gleichbleibende Grundgestalten teils begrifflicher, teils rein anschaulicher Natur“ herausheben, braucht es eine anschließende Repräsentation. Damit tritt dann „an die Stelle des fließenden Inhalts […] eine in sich geschlossene und in sich beharrende Form.“<ref>Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Band I, S. 22.</ref>

Nicht alles, was dem Menschen begegnet, wird von ihm sogleich zur Darstellung gebracht. Damit durch Prägnanz ein zwischenmenschlich handhabbares Symbol bilden kann, ist nötig:<ref>Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin, 1997, S. 89 ff.</ref>

  • Rekognition (Wiedererkennung): Nur was sich mehrmals wiederholt erfassen lässt, kann Symbol werden.
  • Präsentation: Anwesenheit des Physikalisch-Sinnlichen; Symbolisierung braucht stets ein stoffliches Medium.
  • Retention: Das Erlebnis bleibt für eine gewisse Dauer im Bewusstsein und entschwindet nicht sogleich wieder.
  • Repräsentation: Die Beziehung, welche Darstellendes und Dargestelltes verbindet: Sie ist für Cassirer eine grundlegende Leistung des Bewusstseins und vollzieht sich als eine ständige Bewegung zwischen beiden.
Universalität der Symbole

Symbole sind universelle Bedeutungsträger. Das heißt, es kann einerseits alles irgendwie Geformte zum Symbol werden, und andererseits lassen sich Symbole beliebig von einer Bedeutung hin zu einer anderen verschieben. Während zwar auch Tiere etwa Warnschreie haben, durch die sie Artgenossen auf Gefahr aufmerksam machen, bleiben diese jedoch immer an die konkrete Situation gebunden. So führen tierische Signale stets zu der gleichen Reaktion der Artgenossen oder bleiben, wenn sie außerhalb des gewöhnlichen Zusammenhangs geäußert werden, für die anderen unverständlich.<ref>Vergleiche Ernst Cassirers Unterscheidung zwischen „Tierischer Reaktion“ und „Menschlicher Antwort“ In: Versuch über den Menschen. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007, S. 52 ff.</ref> Menschliche Symbole hingegen, wie etwa das Wort, sind universell einsetzbar und auf verschiedene Dinge oder Situationen übertragbar.

Einbettung der Symbole in ein Sinnganzes

Wenn sich in der Formgebung etwas herausbildet, das dann für den Menschen von Bedeutung ist, wird nicht einfach ein beliebiger Sinn zum Wahrnehmungsinhalt hinzugesetzt, sondern das Wahrgenommene wird in ein Sinnganzes eingebettet:

„Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ‚Artikulation‘ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. […] Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck ‚Prägnanz‘ bezeichnen.“<ref name="ec235" />

Gleichwohl von dieser Fähigkeit des Menschen jegliche Formgebung abhängt, gibt es historisch keinen „absoluten Nullpunkt“ der symbolischen Prägnanz, keinen Zustand der völligen Formlosigkeit, denn Ausgangspunkt ist die „physiognomische“ Weltwahrnehmung des mythischen Bewusstseins.<ref>Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Hamburg 2007, S. 123.</ref> Für das mythische Bewusstsein zeigt sich die Welt in mimetischen Ausdrucksmomenten. Diese sind affektiv wirksam und ragen ihrem Ursprung nach noch in die tierische Welt hinein.<ref>Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin 1997, S. 50–51.</ref> Sie bieten Anknüpfungspunkte für jede weitere Formgebung.

Durch Symbole werden sinnliche Einzelinhalte zu Trägern einer allgemeinen geistigen Bedeutung geformt. Die Formgebung läuft somit zugleich mit der sinnlichen Wahrnehmung ab.

„Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“<ref>Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. 1910. Werksausgabe Band 6. Hamburg 2000, S. 161.</ref>

Mit der Formgebung geht gleichzeitig eine Sinngebung einher, erst Formen lassen Bezüge und Strukturen in der Welt erkennen. Symbolische Formen sind somit Grundformen des Verstehens, die universell und intersubjektiv gültig sind und mit denen der Mensch seine Wirklichkeit gestaltet. Kultur ist die Art und Weise, wie der Mensch durch Symbole Sinn erzeugt. Symbole entstehen also stets in Verbindung zur Sinnlichkeit, haben aber einen Sinn, der über diese hinaus verweist:

„Jeder noch so ‚elementare‘ sinnliche Inhalt ist […] niemals einfach, als isolierter und abgelöster Inhalt ‚da‘; sondern er weist in eben diesem Dasein, über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von ‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘.“<ref>Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Band 3. Darmstadt 1982, S. 149.</ref>

Kultur als ein Geflecht von symbolischen Beziehungen: „Kultur als Text“

Besonders anschaulich lässt sich die Einbettung einzelner Symbole in ein übergeordnetes Ganzes fassen, wenn man Kultur metaphorisch als „Text“ beschreibt. So wie ein einzelnes Wort in einem Satz erst seine genaue Bedeutung erhält, erhalten dann auch Gesten, Bilder, Kleidung, und andere ihre Bedeutung erst im Gesamtzusammenhang einer Kultur. Max Weber bestimmte bereits 1904 Kultur als ein Gewebe von Zeichen:<ref>Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1968, S. 180.</ref>

„‚Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“

„Kultur“ ist damit für Weber alles: „Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld.“<ref>Weber 1968, S. 181.</ref> In neuerer Zeit hat Clifford Geertz seinen Kulturbegriff an Weber angeschlossen:<ref>Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt 1983, S. 9.</ref>

„Der Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich in den folgenden Aufsätzen zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“

Der Mensch lässt sich daher als dasjenige Wesen beschreiben, das durch Formgebung den Dingen eine Bedeutung verleiht, indem es sie in einen Gesamtzusammenhang einordnet. Die Auffassung, dass Kultur ein Zeichensystem sei, bestimmt daher die meisten modernen anthropologischen, soziologischen, literaturwissenschaftlichen und philosophischen Kulturtheorien.<ref>Vergleiche Roland Posner: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Fischer, Frankfurt 1991, S. ??–??.</ref> In diesem Zusammenhang hat sich der stehende Begriff von „Kultur als Text“ etabliert.<ref>Vor allem durch die gleichnamige Aufsatzsammlung von Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. UTB, Berlin 2004.</ref> Während allerdings Cassirer seinen Kulturbegriff an das praktische Tätigsein des Menschen und dessen Umgang mit der Welt knüpft, birgt hingegen die pointierte Metapher von „Kultur als Text“ die Gefahr einer Verengung des Kulturbegriffs und führt dazu, dass kulturelle Phänomene nur noch von ihrer sprachlichen Seite her in den Blick genommen werden.<ref>Die Metapher führt, zur Privilegierung des sprachlichen Zugangs zu Bedeutungen […], der als Königsweg zur Entschlüsselung auch aller anderen Kristallisationformen kultureller Praxis erscheint. […] Die je spezifischen Bedeutungspotentiale der einzelnen Künste oder kulturellen Praxen werden nicht mehr wahrgenommen.“ Böhme, Matusek, Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann und was sie will. Reinbek 2000, S. 136–137.</ref>

Tradition und kulturelles Gedächtnis

Menschliche Gesellschaften sind für ihr Überleben und ihre Bedürfnisbefriedigung auf ihre kulturellen Fähigkeiten angewiesen. Damit diese auch folgenden Generationen zur Verfügung stehen, muss eine Generation ihre Praktiken, Normen, Werke, Sprache, Institutionen an die nächste Generation überliefern. Diese Traditionsbildung ist als anthropologisches Grundgesetz in allen menschlichen Gesellschaften anzutreffen.

Anthropologische Voraussetzungen der Traditionsbildung

Den Anreicherungsprozess von Wissen durch Traditionsbildung hat in neuerer Zeit Michael Tomasello aus anthropologischer Sicht als „Wagenheber-Effekt“ beschrieben: Mit jeder Generation kommen etwas Wissen und kulturelle Fähigkeiten hinzu.<ref>Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Suhrkamp, Frankfurt 2002, S. ??.</ref> In der Traditionsbildung zeigt sich für Tomasello ein Hauptunterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber dem Tier, das keine Wissensweitergabe durch Nachmachen kennt. Zwar können beispielsweise Affen ihre Artgenossen nachahmen, aber sie sind nicht dazu in der Lage diese als intentionale Wesen zu erkennen, d. h. als Wesen, die bei ihrem Tun einen bestimmten Zweck im Sinn haben. Es gelingt ihnen daher nicht, den Sinn hinter einer Handlung nachzuvollziehen und diese in der zum Gelingen notwendigen Weise selbst auszuführen. Stattdessen bilden sie nur spiegelbildlich die Bewegungen ihrer Artgenossen ab und kommen somit nur zu zufälligen Erfolgen.

Sprache als Medium des kulturellen Gedächtnisses

Damit die Überlieferung der kulturellen Gehalte gelingt, bedarf es einer regelmäßigen Wiederholung dessen, was überliefert werden soll, beispielsweise eines bestimmten Rituals zu einer bestimmten Jahreszeit. Eine wesentliche Form der Wiederholung ist nicht nur die tatsächliche Ausübung dessen, was tradiert wird, sondern auch die Fixierung in der Sprache, also die Einbettung in ein Symbolsystem. Sprache ist daher ein vorrangiges Medium der Überlieferung, welches auch jede nichtsprachliche Weitergabe von Wissen begleitet.

Folgen der Schriftkultur
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Erst die schriftliche Fixierung von Ereignissen ermöglicht es, diese auch nach einigen Generationen noch mit der mündlichen Überlieferung abzugleichen.

Ist die mündliche Sprache das einzige Medium, in das sich das kulturelle Gedächtnis einschreibt, dann ist die Überlieferung stets von einer Verfälschung bedroht. Denn werden Sagen, Mythen und Abstammungslinien lediglich mündlich weitergegeben (orale Tradition), dann können sich die erzählten Geschichten mit der Zeit unmerklich verändern oder bewusst verändert werden. So rechtfertigen in den meisten frühen Kulturen die Erzählungen über Abstammungslinien und Herrschergeschlecht die aktuellen sozialen Verhältnisse. Nun kann es aber vorkommen, dass beispielsweise durch den plötzlichen Tod des Herrschers eine andere Familie diesen Platz besetzt. In der Absicht, diese neuen Verhältnisse zu rechtfertigen, können Kulturen, die allein auf eine mündliche Überlieferung angewiesen sind, die die Herrschaft rechtfertigenden Erzählungen den neuen Verhältnissen anpassen. Dies führt dann zu einer Stabilisierung der neuen Ordnung. Dieser Vorgang kann als „homöostatische Organisation der kulturellen Tradition“ bezeichnet werden.<ref>Jack Goody, Ian Watt: Konsequenzen der Literarität. In: Dieselben, Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Suhrkamp, Frankfurt 1986, S. 68.</ref> Erst mit der Schrift steht einer Kultur ein Medium zur Verfügung, welches die Nachprüfbarkeit der überlieferten Inhalte ermöglicht. So ist beispielsweise in Streitfällen nachlesbar, welcher Familie die Abstammung vom Göttergeschlecht zugesprochen wird. Damit bringt die Schrift den größten Einschnitt innerhalb der kulturellen Entwicklung des Menschen, sie stellt eine Revolution dar, die – außer der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern – auch von folgenden Aufschreibesystemen wie Grammophon, Film und Computer nicht mehr erreicht wird.

Übergreifende Momente kulturellen Lebens

Der Vergleich der folgenden Kulturelemente hat zu verschiedenen Versuchen geführt, geographische Räume zu definieren, in denen ähnliche, abgrenzbare Kulturen konstatiert werden können. Die so entstehenden Kulturareale sind zwar aus verschiedenen Gründen umstritten, bilden jedoch eine Möglichkeit, die kulturelle Vielfalt der Welt zu strukturieren, um einen groben Überblick zu erhalten.

Tradition

Identität und Tradition

Die Identitätsbildung einer Gruppe ist stark mit der in ihr lebendigen Tradition verknüpft. So beanspruchen etwa die drei großen Traditionslinien der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam auch die Identität der ihnen angehörenden Mitglieder zu bestimmen. Daher kann „Tradition […] definiert werden als eine auf Dauer gestellte kulturelle Konstruktion von Identität.“<ref>Aleida Assmann: Zeit und Tradition. Böhlau, Köln 1999, S. 90.</ref>

Verhältnis zu anderen Traditionen

Oft geht mit der eigenen Tradition ein Anspruch auf Wahrheit einher, weshalb andere Traditionen als unverständlich und seltsam empfunden werden. Während die eigene Tradition keiner Begründung bedarf, gilt die andere als nicht begründungsfähig. Bei einem solchen Zusammentreffen kann es entweder zur Abschottung gegen das Fremde kommen, zur Übernahme einzelner fremder Elemente (Synkretismus) oder aber auch zu ersten Ansätzen einer Traditionskritik, welche die eigenen Riten, Sitten, Gebräuche und Normen in Frage stellt. Eine einschneidendere Situation tritt ein, wenn im Dialog mit der anderen Tradition nach einer gemeinsamen Geltungsgrundlage gesucht wird. Da jede Tradition für sich das Alter ihrer Herkunft geltend macht, kann dies nicht als Maßstab dienen. Damit wird aber das erste Mal Tradition an sich zum Thema und Gegenstand der bewussten Auseinandersetzung. Damit kann Tradition in Zweifel gezogen werden, weil sie nur Tradition ist.

Traditionskritik

Die im Abendland historisch frühste Traditionskritik vollzieht sich in den Anfängen der griechischen Philosophie, wenn nämlich in den Platonischen Dialogen es den Verfechtern der Tradition nicht gelingt, ihre eigene Position philosophisch zu begründen. Auch in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert übernimmt die Philosophie die führende Rolle in der Traditionskritik, vor allem im Zeitalter der Aufklärung. Die Aufklärer kritisieren das mit Fehlern behaftete Überlieferungsgeschehen der heiligen Schriften und setzen ihm die ewig gültigen Gesetze der Vernunft entgegen. Im Naturrecht wird nach natürlichen Gesetzen gesucht, auf deren Grundlage das traditionelle Recht kritisiert werden kann. Mit der Französischen Revolution wird erstmals erkannt, dass Gesellschaften von Grund auf veränderbar, revolutionierbar, sind. In der Kunst tobt der Streit der Alten und der Neuen (frz. querelle des anciens et des modernes) welchem das Gegensatzpaar von Tradition und Moderne entspringt. Dieser Gegensatz machte allerdings auch dafür blind, dass die moderne Gesellschaft ihrerseits eine Tradition der Zweckrationalität und Wertrationalität hat, ihre Festschreibung auf Wandel statt wie in traditionellen Gesellschaften auf Stabilität.

Traditionstheorien
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Herder sieht als einer der Ersten das Principium der Tradition

Neben Ansätzen bei Giambattista Vico liefert eine erste Traditionstheorie Gottfried Herder 1784 in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit:<ref>Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Band 1, 1784, S. 335 bzw. 337.</ref>

„Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede.“

Durch Tradition und Kultur vollzieht sich also eine Überformung des Menschen, die Herder eine „zweite Genesis des Menschen“ nennt und mit Lessing eine „Erziehung des Menschengeschlechts“. Indem Herder die Kette der Tradition zurückreichen lässt bis zu ihren Anfängen wertet diese zugleich auf:<ref>Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Band 1, 1784, S. 338 bzw. 340.</ref>

„Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. Auch der Kalifornier und Feuerländer lernte Bogen und Pfeile machen und sie gebrauchen; er hat Sprache und Begriffe, Übungen und Künste, die er lernte, wie wir sie lernen; sofern ward er also wirklich kultiviert und aufgekläret, wiewohl im niedrigsten Grade. Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise.“

Für Herder ist der Traditionsbegriff also nicht auf die treue Wahrung einer Ursprungsweisheit angelegt, sondern auf die allmähliche Anreicherung wertvollen Wissens, dass über die gesamte Geschichte der Menschheit nach und nach das Unmenschliche ausscheidet. Dass allerdings Traditionsbildung auch auf irrationalen Ängsten und gewaltsamen Zwängen beruhen kann, darauf hat Sigmund Freud in seiner Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion hingewiesen. Freuds inhaltliche Rekonstruktion des Überlieferungsgeschehens durch unbewusste Zwänge und archaische Ängste stieß zwar auf breite Ablehnung, trotz allem kommt ihm das Verdienst die Gründe für Tradition und Überlieferung nicht nur unter dem optimistischen Gesichtspunkt einer fortschreitenden Verbesserung zu sehen und so den Blick auf pathologische Momente der Tradierung zu öffnen.

Als die institutionalisierten Geistes- und Geschichtswissenschaften im 20. Jahrhundert den Anschein aufkommen ließen, man könnte sich der Vergangenheit gänzlich objektiv und theoriefrei nähern, hat Hans-Georg Gadamer darauf hingewiesen, wie prägend auch für uns Heutige noch der Bezug zur Tradition ist: Inhalte der Überlieferung können durch wissenschaftliche Methoden niemals restlos verobjektiviert und zum bloßen Gegenstand einer der Tradition enthobenen Erkenntnis werden. Gadamer prägt dafür den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, dass über die Tradition reflektiert und sich zugleich seiner Bestimmtheit durch die Tradition bewusst ist.<ref>Vergleiche Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. 2. Teil; dazu auch die Studie von Bernd Auerochs: Gadamer über Tradition. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Band 49, 1995, S. 294–311.</ref>

Sprache

Ein wesentliches Ordnungssystem, durch welches sich Bewältigungs- und Kommunikationsprozesse vollziehen, ist die Sprache. Sprache ist ein symbolisches Medium, das kein einzelner Mensch aus sich heraus selbst erfindet, sondern welches ihm überliefert wird. Der Mensch kann sich daher immer nur zur Sprache als einem immer schon Gegebenen verhalten. Als ein Zeichensystem schafft Sprache einen Raum der Öffentlichkeit, aus dem der Mensch beim Sprechen schöpft und in den hinein er stets zurückspricht. Sprache darf, wenn ihre kulturelle Bedeutung verstanden werden soll, nicht nur als Mittel der Kommunikation angesehen werden, sondern sie strukturiert grundsätzlich das menschliche Verstehen der Welt.

Wenn die Bedeutung der Sprache für den Menschen als kulturelles Wesen verstanden werden soll, dann kann es nicht darum gehen, einzelne konkrete Sprachen auf ihre Eigenart hin zu untersuchen, sondern es muss verstanden werden was überhaupt Sprache als Sprache ausmacht. Dabei konnten sich biologistische Sprachtheorien nicht durchsetzen, wie etwa in der Antike die von Demokrit (460–371 v. Chr.) vertretene Auffassung, dass Sprache aus Lauten rein emotionalen Charakter hervorginge, oder die an Charles Darwin (1809–1882) anschließende Sprachforschung, welche Sprache auf evolutionstheoretische Notwendigkeiten zurückführen möchte. Auch die ausgefeiltere von Otto Jespersen (1860–1943) vorgeschlagene Holistische Sprachgenesetheorie ist für die kulturwissenschaftliche Sprachauffassung bedeutungslos geblieben.<ref>Vergleiche zur Kritik hieran: Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Meiner, Hamburg 2007, S. 171–211.</ref> Diesen Sprachtheorien ist gemeinsam, dass sie Sprache lediglich im Hinblick auf ihren affektiven und emotionalen Zug betrachten. Damit wird aber der propositionale Gehalt von einfachen Aussagen wie „Der Himmel ist blau“ übergangen, denn diese Aussage fordert weder zu einer unmittelbaren Handlung auf, noch hat sie einen emotionalen Gegenstand, sondern sie weist symbolisch auf etwas hin, das womöglich im Gesamtzusammenhang einer Kultur von Bedeutung ist.

Sprache als Zeichensystem

Es war der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure, der eine Zeichentheorie der Sprache entwickelte, die Semiotik, von griechisch semeion für Zeichen, und der vorschlug, diese für das allgemeine Studium der Kultur zu verwenden. Nach Saussure sind sprachliche Zeichen durch zwei Eigenschaften ausgezeichnet:

  • sie sind beliebig, d. h. das, worauf das Zeichen zeigt, ist nur durch Verabredung und Konvention festgelegt
  • Zeichen sind linear, d. h. das bezeichnende Wort läuft in der Zeit ab und kann daher nicht auf einmal ausgesagt werden.

Bei der Untersuchung vorhandener Sprachen unterscheidet Saussure zwischen der synchronischen (zeitgleichen) und diachronischen (in der Zeit sich verändernden) Betrachtungsweise. Für Saussure ist die erste Form die wichtigere. Das heißt, er arbeitete nicht sprachhistorisch, sondern versuchte anhand einer gegebenen Sprache deren innere Struktur freizulegen, weshalb man Saussure auch als Gründer des Strukturalismus bezeichnet. Saussure kommt zu dem Urteil, dass Sprache nicht dadurch funktioniert, dass ein Laut oder eine damit bezeichnete Vorstellung an sich gegeben ist. Vielmehr bilden sich einzelne verständliche Laute (Phoneme) nur in Abgrenzung zu anderen aus: „In der Sprache gibt es nur Verschiedenheiten.“<ref>Ferdinand de Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft. De Gruyter, Berlin 1967, S. 143.</ref> Dass phonetische Laute nicht einfach gegeben sind, zeigt sich beispielsweise daran, dass Japaner und Chinesen den Unterschied zwischen „L“ und „R“ nicht hören, da sich diese Differenz kulturell nicht ausgeprägt hat. Es wird also nicht ein Wort wie ein Anker an einen Gegenstand gekettet, den es von nun ab bezeichnet, sondern aus dem durch Verschiedenheiten aufgebauten Geflecht der Laute können mehrere Laute zu einem neuen und von den anderen unterscheidbaren Gebilde zusammengesetzt werden. Dieses Wort kann dann innerhalb der Menge der Vorstellungen. die sich ebenfalls durch Abgrenzung zueinander ausbilden, eine solche Vorstellung bezeichnen.

Indem Saussure vorschlägt, dieses Modell der Sprache auf alles kulturell Hervorgebrachte anzuwenden, öffnet er den Blick dafür, Kultur als einen Zusammenhang von Zeichen und Symbolen aufzufassen:

„Man kann also sagen, dass völlig beliebige Zeichen besser als andere das Ideal des semeologischen Verfahrens verwirklichen; deshalb ist auch die Sprache, das reichhaltigste und verbreitetste Ausdruckssystem, zugleich das charakteristischste von allen; in diesem Sinne kann die Sprachwissenschaft Musterbeispiel und Hauptvertreter der ganzen Semeologie werden, obwohl die Sprache nur ein System unter anderen ist.“<ref>Ferdinand de Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft. De Gruyer, Berlin 1967, S. 80.</ref>

Mit der ikonischen Wende (von altgriechisch ikon „Zeichen“; englisch iconic turn) wird seither Kultur hauptsächlich unter dem Aspekt der Zeichentheorie aufgefasst, wobei nun nicht mehr nur abstrakte Zeichen, sondern auch an Anschauungen angelehnte Bilder als Zeichen aufgefasst werden. Dies hebt die scharfe Grenze zwischen Text und Bild auf und Kultur zeigt sich als Zeichenuniversum von Verweisungen und Bezügen, das die Lebenswelt des Menschen ausmacht. Juri Michailowitsch Lotman spricht daher auch von der „Semiosphäre“ in Analogie zur Biosphäre.<ref>Yuri M. Lotman: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. Tauris, London/New York 2001, S. ??.</ref> Wenn in modernen Kulturtheorien von „Text“ oder „Diskurs“ die Rede ist, beschränken sich diese beiden Begriffe auch nicht mehr auf die schriftliche Aufzeichnung, sondern werden für Symbolismen jeder Art verwendet:<ref>Für einen Überblick zu dieser Ausweitung der Begriffe siehe Michael Krois: Kultur als Zeichensystem. In: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2004, S. 106–118.</ref> Körper, Dinge, Kleidung, Lebensstil, Gesten, all dies sind Teile des Zeichenuniversums Kultur.

Im Anschluss an Saussure hat Jacques Derrida mit seinem Begriff der Différance eine literaturwissenschaftliche Methode geprägt, die einen Text nicht durch eindeutige Aussagen geprägt auffasst, sondern als ein Geflecht, in dem sich erst durch Differenzen Bedeutungen ausbilden. Die Dekonstruktion versucht den Nebenbedeutungen nachzugehen und die an den „Rändern“ eines Textes abgeblendeten und so unthematisch bleibenden Bezüge wieder ins Bewusstsein zu rufen. Für Derrida stellt die Kultur somit einen Text dar, in dem es zu lesen gilt.<ref>„Das, was ich Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere.“ Derrida zitiert nach Peter Engelmann: Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Reclam, Stuttgart 2004, S. 20 f.</ref>

Nichtpropositionale Sprachlichkeit

Martin Heidegger hat darauf hingewiesen, dass sprachliche Äußerungen nicht schlichtweg als propositionale Aussagen im Sinne von „A ist B“ verstanden werden können. Die Struktur der Sprache ist stets so vielfältig verästelt, dass sich einzelne Begriffe niemals klar umgrenzen lassen, sondern erst durch ihre Nebenbedeutungen und Beiklänge ein Verstehen erst möglich machen. In einer Aussage der Form „A ist B“ wird beispielsweise A als B aufgefasst. Heidegger bezeichnet diese Verkettung von A und B durch das „Als“ mit dem Titel „apophantisches Als“. Es ist diese Form, nach der in der philosophischen Tradition die meisten sprachlichen Aussagen aufgefasst wurden. Dem entgegen weist Heidegger darauf hin, dass die Bedeutung von A und B nicht bloß an deren Rändern abreißt, sondern immer nur in einem größeren Gesamtzusammenhang zu verstehen ist. Auch eine Aussage des Schemas „A ist B“ kann nur vor einem größeren Verständnishorizont verstanden und eingeordnet werden.<ref>Vergleiche Martin Heidegger: Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen 1927, §§ 31–34.</ref> Eine Form der Sprachlichkeit, die sich nicht in Aussagen des Schemas „A ist B“ ergeht, sondern die den ganzen Reichtum einer kulturgeschichtlich gewachsenen Sprache hervortreten lässt, stellt für Heidegger die Dichtung dar. In der Dichtung treten einzelne Bedeutungsmomente besonders hervor, andere werden hingegen bewusst abgeschattet. Damit verengt die Dichtung sich nicht zu eindeutigen Feststellungen, sondern lässt Raum für das Ungesagt, Unbewusste und Unthematische unseres kulturell geprägten Welt- und Selbstbezugs, das so durch sie erst zur Sprache kommt.

Auch wies Heidegger Sprachtheorien zurück, welche die Sprache lediglich als ein Mittel zur Kommunikation auffassen, so dass mit ihr Aussagen wie „A ist B“ mitgeteilt werden können. Diese funktionalistisch geprägte Auffassung sieht Sprache lediglich als Hilfsmittel zur gemeinsamen Bewältigung von praktischen Bedürfnissen. Für Heidegger gingen solche Sprachtheorien zurück auf die mit der Neuzeit einsetzende ökonomisch-technische Verwertbarmachung der Welt. Sprache wird dann als Werkzeug zur Kommunikation aufgefasst, dass sich durch logische Strukturierung verbessern ließe,<ref>Martin Heidegger: Holzwege. (GA 5), S. 311.</ref> wie dies Gottlob Frege, Bertrand Russell und Rudolf Carnap im Projekt der Einheitssprache anstrebten. Gegen einen so verengten Sprachbegriff machte Heidegger die Dichtung stark und weist darauf hin, dass im dichterischen Besingen der Welt keine praktische Haltung vorherrscht (siehe beispielsweise Hölderlins Hymne Der Ister). Zum anderen sah es Heidegger als verfehlt an, davon auszugehen, dass Sprache innerhalb einer Welt eine einzelne Aussage mitteilt. Vielmehr ist die Sprache die Welt, in welcher der Mensch lebt, da alles Wissen, Denken und Begreifen sich in sprachlichen Strukturen vollzieht. Heidegger prägte hierfür den Ausdruck, die Sprache sei „das Haus des Seins“.<ref>Martin Heidegger: Holzwege. (GA 5), S. 310.</ref>

Siehe auch: Sprachgebrauch

Handlung

Ausbildung von Institutionen

Kultur besteht nicht nur aus sprachlich festgeschriebenen Strukturen des Verstehens und der Objektivität, sondern auch aus geschichtlich handelnden und leidenden Menschen. Nicht alles Tun des Menschen ist aber schon kulturelle Praxis. Damit diese entsteht bedarf es einer Gruppe von Menschen, die gemeinsam und regelmäßig für sie bedeutsame Handlungen ausführt. Verfestigen sie das Tun auf diese Art zu Ereignissen, die regelmäßig wiederholt werden oder Orten an denen die Praxen gemeinsam durchgeführt werden, spricht man auch von Institutionen. Institutionen sind Orte des menschlichen Handelns beispielsweise in Form von Arbeit, Herrschaft, Recht, Technik, Religion, Wissenschaft und Kunst. In Institutionen vollzieht sich die Differenzierung dieser Praxen, zugleich entwickeln sie unabhängig von anderen Institutionen ihre eigenen Werte.

Kultur als Praxis und Kultur als Bedeutungszusammenhang

Wird Kultur unter dem Gesichtspunkt der praktischen Handlungen und des Kulturgeschehens betrachtet, so stellt dies auch ein gewisses Gegengewicht dar zu Auffassungen, welche Kultur in erster Linie (oder ausschließlich; Kulturalismus) als Sinnsystem von symbolischen Codes verstehen und in ihr einen lesbaren Text sehen.<ref>Vergleiche Karl H. Hörning: Kultur als Praxis. In: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2004, S. 137–151.</ref> So ist Kultur nicht nur ein Gewebe von Bedeutungen, sondern diese bedürfen einer Ausübung. um sich zu erhalten und fortzusetzen. Dabei können jedoch auch gerade durch die Ausübung neue Sinnzusammenhänge entstehen oder alte sich abschleifen, als unpassend oder unbedeutend empfunden werden. Im Zurückgreifen auf kulturelle Symbole, Sinn- und Handlungszusammenhänge, die in der Ausübung jedoch nie gänzlich verwirklicht werden können, ergibt sich ein Wechselspiel das die Kultur in lebendiger Bewegtheit hält: Auch aus dem Zufälligen und Ungewollten entsteht Neues.

Geltung

Dinge, die für das Denken und Handeln des Menschen in irgendeiner Form den Anspruch auf eine Bedeutung erheben, kommt eine gewisse Geltung zu. Im zwischenmenschlichen Umgang können solche Ansprüche und Herausforderungen an den Einzelnen oder an Gruppen angenommen oder abgelehnt werden. Ansichten, Gesetze, Bedeutungen können daher umstritten sein. Die Frage, welche sich diesem Sachverhalt widmet ist die der Geltung von

  • symbolischen,
  • praktischen,
  • kognitiven,
  • narrativen und
  • ästhetischen

Geltungsansprüchen.

Identität

Hauptartikel: Kulturelle Identität

Menschen begegnen sich meist als Individuen anhand ihrer Geschlechtlichkeit, Leiblichkeit, psychischen Triebstrukturen und biographischer Einzigartigkeit. Diese Merkmale können für den Einzelnen oder für die Gruppe identitätsbildend wirken und werfen im Falle von Gruppen die Fragen von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft auf. Damit geben soziale Gruppen im kulturellen Leben dem Menschen eine Antwort auf die Frage, wer er im Vergleich zu den übrigen ist, sie bestimmen seine Identität. Durch Gruppenbildung und der Form des Handelns in ihr bilden sich Gemeinschaften oder Gesellschaften, die sich gegen andere Gruppen abschließen, Mitglieder aufnehmen oder ausschließen. Diese Vorgänge bestimmen unabhängig von den konkreten Inhalten die Identität der Gruppe und des Einzelnen.

Zeit

Menschliche Kultur erhält sich dadurch, dass sie weitergegeben wird. Dieser Moment der Tradition steht in engem Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung von Kulturen. Geschichte kann einerseits rückblickend anhand verschiedener Kriterien in Epochen unterteilt werden, andererseits ist jeder Kultur ein historisch gewachsener Zeitgeist innewohnend.

Raum

Raumwahrnehmung
Datei:Grand Central Station Main Concourse Rectilinear projection Jan 2006.jpg
Raumwahrnehmung ist nicht neutral-mathematisch: Große Hallen wirken beeindruckend, Kellergewölbe gemütlich oder auch drückend. Welche Empfindung Räume hervorrufen, ist dabei auch kulturell geprägt, d. h. nicht evolutionär festgelegt.

Räume werden nicht einfach wie der mathematische euklidische Raum als dreidimensionale Strukturen wahrgenommen und erst anschließend und unter Umständen mit Bedeutung versehen oder Interpretationen unterworfen: Es macht stets einen Unterschied, ob man fünf Meter gerade aus schaut, oder fünf Meter unter sich. Der Blick fünf Meter nach unten mag wiederum dem norddeutschen Küstenbewohner unbehaglicher sein, als dem Alpenbewohner. Die Raumwahrnehmung ist also niemals eine neutral-mathematische, sondern unterliegt kulturellen Prägungen.

Orientierung

So werden in erster Linie Verhältnisse im Raum entdeckt welche eine physische Orientierung in ihm ermöglichen: Wege, Hindernisse, Sitzmöglichkeiten und Gefahren. Die Orientierung im städtischen Raum erfordert es das Geflecht von Straßen, Kreuzungen und Ampeln zu verstehen und anhand von Häusern bekannter Größe die Entfernungen richtig einschätzen zu können, während indigene Völker sich im Urwald ganz ohne Straßen und Wege zurechtfinden sondern Bäume, Flussläufe und ähnliches nutzen. Beides mal strukturieren kulturell erlernte Fähigkeiten und Sehgewohnheiten die Raumwahrnehmung. Auch das Haus ist ein Raum, der durch eine sinnhafte Struktur bestimmt ist, wie Heidegger es beschreibt: Gebrauchsgegenstände haben ihren „Platz“, sie gehören in eine „Gegend“ anderer zu ähnlich nützlichen Gegenstände. Die Dinge sind nicht im dreidimensionalen Raum einfach „oben“ oder „unten“, sondern „an der Decke“ oder „auf dem Boden“. Gesehen werden nicht zuerst unbedeutende Objekte im physikalischen Raum, sondern etwas liegt „am falschen Platz“ oder „steht im Weg“, dort „wo es nicht hingehört“.<ref>Als einer der ersten beschreibt dies Martin Heidegger: Sein und Zeit (GA 2) §§ 14–24, Niemeyer, Tübingen 1927.</ref> Diese Bestimmungen sind aber keine absoluten, sondern hängen von der Kultur und dem Umfeld ab, in welchem der Mensch herangewachsen ist.

Atmosphäre

Bereits bei Johann Wolfgang von Goethe findet sich die Unterscheidung zwischen neutralen Raum und bedeutungsgeladenem Ort:

„Immer war mir das Feld und der Wald und der Fels und die Gärten
Nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort.“

Goethe: Vier Jahreszeiten

Auch solche atmosphärische Qualitäten bestimmen die Wahrnehmung des Raumes. Gernot Böhme untersucht, wie repräsentative Zimmer oder Säle mit Gegenständen ausgestattet werden, die eigentlich keinen Gebrauchswert haben, bzw. deren Wert genau darin liegt, Atmosphäre zu erzeugen.<ref>Vergleiche die Studie von Gernot Böhme: Atmosphäre. Suhrkamp, Frankfurt 1995.</ref> Luc Ciompi konnte zeigen, inwieweit das, was als atmosphärisch angenehm empfunden ist, kulturabhängig ist. Während sich etwa Italiener in hohen, kühlen und dunklen Zimmern wohlfühlen, bevorzugen Nordländern niedrige, helle und warme Räume, was sich auf die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen zurückführen lässt und die von Kindheit her vertraute Wohnatmosphäre.<ref>Luc Ciompi: Außenwelt – Innenwelt. Zur Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Sammlung Vandenhoeck, Göttingen 1988, S. 235 f.</ref>

Der gemeinsame Raum
Datei:Holocaust-Mahnmal Berlin 2006.jpg
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin: Ort des Gedenkens für die ermordeten Juden Europas unter der Herrschaft Hitlers und der Nationalsozialisten

Kulturelles Leben findet in Räumen statt. Diese Räume sind nicht einfach der dreidimensionale Raum der Physik, der die Kulturgüter wie ein Behälter umschließt. Vielmehr ist Kultur selbst raumbildend, d. h. sie schafft sich symbolische und figurative Räume. Diese Räume sind in erster Linie nicht durch ihre Eigenschaft als Behältnis bestimmt, sondern durch einen sinnhaften Zusammenhang, so bildet beispielsweise der Herd des Hauses einen Ort der Versammlung, an den die Mitglieder bäuerlicher Hausgemeinschaften nach getanem Tageswerk zusammen kommen. Der Tempel oder die Kirche sind Orte, an welchen das Heilige dem Leben des Menschen ein Maß gibt und andere Gesetze und Verhaltensweisen gelten, als in der profanen Sphäre der Küche. Auch politisch werden Grenzziehungen propagiert, die sich nicht an geographischen, sondern kulturellen Räumen orientieren, bzw. diese vorschreiben, wenn etwa George W. Bush Amerika und Europa zur „Westlichen Welt“ zusammenfasst und ihnen die „Achse des Bösen“ entgegenstellt.<ref>Vergleiche die Axis-of-Evil-Speech. Pressemitteilung des Weißen Hauses, USA 2002.</ref>

Kulturelle Räume können feste Anordnungen an einem ausgezeichneten Platz sein, wie etwa bei einem Kloster oder aber als bewegte Anordnungen auftreten, wenn beispielsweise Mobilfunkteilnehmer raum-zeitliche Abstände überbrücken.

Frühes Entstehen kulturellen Raums: Heilige Orte

Eine der frühsten Einteilungen der Welt scheidet profane und heilige Orte. Heilige Orte sind jene, an denen das Göttliche durch besondere Ereignisse zur Erscheinung kommt. Für den mythisch denkenden Menschen bleiben Götter oder Geister an diesen Ort gebunden, es ist jener Stein oder jene Eiche, in der sich das Heilige manifestiert. Damit ergibt sich eine Einteilung des Lebensraums, die nicht mehr allein wie beim Tier an physiologischen Bedürfnissen orientiert ist (Wasser, Nahrung), sondern sich an einem symbolischen Gehalt festmacht.

Sozialer Raum
Hauptartikel: Sozialer Raum

Verschiedene Orte können ethnisch-, klassen- oder geschlechterspezifisch zu neuen Orten zusammengefügt werden. Hierdurch kann es zu Abgrenzungen zwischen Ein- und Ausgeschlossenen kommen, auch können bestimmte räumliche Anordnungen soziale Ungleichheiten widerspiegeln oder festschreiben. Während VIP-Räume bewusst „wichtige“ von den „weniger wichtigen“ Menschen trennen, vollziehen sich räumlich-soziale Abgrenzungen meist über längere Zeit. So werden Häuser, Wohnungen und Stadtteile nach dem entsprechenden Einkommen gewählt und hierdurch Klassenverhältnisse reproduziert, die sich dann auch physisch in den Raum einschreiben. Dieses Einschreiben in den Raum fasst Pierre Bourdieu in die Worte, dass der Habitus das Habitat ausmacht.<ref>Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Martin Wentz (Hrsg.): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen. Campus, Frankfurt/New York 1991, S. 32.</ref> Damit spiegelt der städtische Raum die sozialen und geschlechterspezifischen Verhältnisse: Arbeiterjugendliche halten sich häufiger auf öffentlichen Plätzen und Straßenecken auf,<ref>Helmuth Becker, Michael May: Die lungern eh’ nur da „rum“. Raumbezogene Interessenorientierung von Unterschichtsjugendlichen und ihre Realisierung in öffentlichen Räumen. In: Walter Specht (Hrsg.): Die gefährliche Straße. Jugendkonflikte und Stadtteilarbeit. KT, Bielefeld 1987, S. 41.</ref> Jungen mehr als Mädchen.<ref>Vergleiche Deutsches Jugendinstitut: Was tun Kinder am Nachmittag? Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur mittleren Kindheit. Juventa, München 1992.</ref>

Während ein entsprechendes Vermögen die Aneignung und bauliche Umgestaltung von öffentlichem Raum nach den eigenen Bedürfnissen ermöglicht, ist dies den unteren sozialen Schichten einer Gesellschaft nicht ohne weiteres möglich. Auch Kinder und Jugendliche können sich nicht materiell eigene Räume schaffen und sind daher darauf angewiesen diese durch ihre leibhaftige Anwesenheit zu besetzen: Die geduldete Raucherecke hinter der Turnhalle bildet gegenüber dem autoritären Raum des Schulgeländes einen Rückzugsort für die Schüler. Dieser Ort schreibt sich aber nicht physisch ein, sondern entsteht allein durch das häufige Aufsuchen und die Anwesenheit der Schüler. Hier wird besonders deutlich, dass kultureller Raum nicht einfach gegeben ist, sondern dadurch hergestellt wird, dass im Handeln individuell und kollektiv darauf Bezug genommen wird.<ref>Vergleiche das ähnliche Beispiel von Martina Löw: Raum. Die topologischen Dimensionen der Kultur. In: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2004, S. 49–53.</ref>

Auch die globale kapitalistische Wirtschaftsweise schafft einen neuen sozialen Raum, der sich nun erstmals über den ganzen Erdball ausdehnt. Dieser Raum, dessen Verbindungslinien durch Flugzeuge, Schnellstraßen und Zugstrecken zusammengehalten wird, kann jedoch nicht von allen genutzt werden. So haben etwa nur fünf Prozent der Weltbevölkerung je in einem Flugzeug gesessen, zudem verbindet der Flugverkehr nur die „Reichtumsinseln“ des Planeten.<ref>Vergleiche Germanwatch in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung: Zur Lage der Welt 2004. Abschnitt 1 (PDF-Datei; 70 kB).</ref> Peter Sloterdijk hat sich diesem „Innenraum“ des Planeten gewidmet, zu dem nur der Zugang erhält, der genügend zahlen kann.<ref>Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung. Suhrkamp, Frankfurt 2005, S. ??.</ref>

Geschlechterspezifische Räume

Geschlechterspezifisch abgetrennte Räume sind in modernen westlichen Gesellschaften seltener geworden und beschränken sich auf Umkleidekabinen, Saunen und Toiletten. Die Herbertstraße im Hamburger Rotlichtviertel markiert aber weiterhin einen geschlechterspezifischen Raum, zu dem Frauen und Jugendlichen der Zutritt verwehrt wird.

Kulturkritik

Hauptartikel: Kulturkritik

In der Kulturkritik werden die einzelnen Kulturleistungen des Menschen kritisch befragt auf ihre ungewollten, zerstörerischen, unmoralischen und unsinnigen Folgen. Dies kann sich zu einer Gesamtschau der Menschheitsgeschichte ausweiten, die dann insgesamt als Verfallsgeschichte erscheint. Die Kernaussage vieler kulturkritischer Ansätze besteht dabei darin, dass sie in Bezug auf das menschliche (Zusammen)leben einen natürlich gegebenen Zustand annehmen, einen Naturzustand, welcher der Wesensverfassung des Menschen entspricht. Dieser Urzustand wird dann mit fortschreitender kultureller Entwicklung durch Künstlichkeiten verstellt und verzerrt. Er wird überlagert von künstlichen sozialen Beziehungen und Herrschaftsformen (Jean-Jacques Rousseau) oder führt durch die Erfindung neuer Produktionsverhältnisse zur Entfremdung des Menschen von sich selbst, wie Karl Marx meint. Friedrich Nietzsche sieht in der vorsokratischen Antike noch ein Zeitalter, in welchem der Wille zur Macht ungehemmt gelebt wurde, während mit dem „wissenschaftlich“ denkenden Sokrates und der Moral des Christentums ein Zerfall einsetzt, der im Zeitalter der laschen Dekadenz seinen Höhepunkt erreicht. Martin Heidegger sieht ebenfalls bei den Vorsokratikern noch ein offenes und reflexives Verhältnis des Menschen zu philosophischen Anschauungen und Überlegungen, während in der Philosophie von Platon und Aristoteles erstmals diese Erkenntnisse absolut gesetzt werden und so das Denken der Menschen auf Jahrhunderte in Kategorien zwängen, aus denen es sich selbst nicht ohne weiteres befreien kann. Der moralkritische Ansatz Sigmund Freuds nimmt in Bezug auf die seelischen Verfassung des Menschen feststehende natürliche Bedürfnisse an, welche ihm durch künstliche moralische Vorschriften verwehrt werden und so den Menschen zu zwanghaften Ausgleichshandlungen drängen.

Viele kulturkritische Werke spielten eine bedeutende Rolle dabei, zu verstehen, was Kultur überhaupt erst ausmacht. Erst durch das kritische Abstandnehmen und eventuelle Verurteilen der bestehenden Verhältnisse zeigt sich heute die Kultur nicht als unveränderlich Vorhandenes, sondern als ein Geschehen, das auch hätte anders verlaufen können. Sie lassen Kultur erkennen als die Kontingenz des Gewordenen.

Siehe auch

Portal Portal: Kunst und Kultur – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Kunst und Kultur

Literatur

Kulturphilosophie:

Sammelbände zu Kulturtheorien:

  • Hubertus Busche: Was ist Kultur? Die vier historischen Grundbedeutungen. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2000/1, S. 69–90.
  • Martin Ludwig Hofmann, Tobias F. Korta, Sibylle Niekisch (Hrsg.): Culture Club: Klassiker der Kulturtheorie. Suhrkamp, Frankfurt 2004, ISBN 3-518-29268-4.
  • Martin Ludwig Hofmann, Tobias F. Korta, Sibylle Niekisch (Hrsg.): Culture Club II: Klassiker der Kulturtheorie. Suhrkamp, Frankfurt 2006, ISBN 3-518-29398-2.
  • Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. VS-Verlag, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14519-3.
  • Stephan Moebius (Hrsg.): Kultur, von den Cultural Studies bis zu den Visual studies, eine Einführung. Transcript, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-8376-2194-5 (= Edition Kulturwissenschaft, Band 21).
  • Gerhart Schröder, Helga Breuninger (Hrsg.): Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen. Campus, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36866-8.

Wichtige Studien:

Weblinks

Commons Commons: Kultur – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Dateikategorie Dateien: Kultur – lokale Sammlung von Bildern und Mediendateien
Wiktionary Wiktionary: Kultur – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wikinews Wikinews: Kultur – in den Nachrichten

Einzelnachweise

<references />

diq:Portal:Zagon