Liberales Judentum


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Das liberale Judentum (auch Progressives Judentum oder, besonders in Nordamerika, Reformjudentum) ist eine Strömung innerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft. Seine Ursprünge liegen vor allem im Deutschland des 19. Jahrhunderts und gehen auf Ideen von Abraham Geiger, Samuel Holdheim, David Einhorn, Kaufmann Kohler usw. zurück. Das liberale Judentum ist eine von vier Hauptströmungen des gegenwärtigen Judentums (orthodox, konservativ, liberal, rekonstruktionistisch), dem in all seinen Ausprägungen etwa 1.750.000 der rund 14 Millionen Juden angehören. Die verschiedenen Reform-und-liberale Gruppen weltweit sind alle Mitglieder der Weltunion für progressives Judentum, zusammen mit den Rekonstruktionisten.

Charakteristika

Entscheidend für diese Richtung ist die Aufteilung der jüdischen Gebote in ethische und rituelle Gesetze sowie die Auffassung, dass die ethischen Gesetze zeitlos und unveränderlich seien, die rituellen Gesetze hingegen verändert werden könnten, um sie dem jeweiligen Lebensumfeld anzupassen. Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum geht das Reformjudentum von einer fortschreitenden Offenbarung Gottes in der Geschichte aus. Dabei wird die Offenbarung als ein von Gott ausgehender und durch Menschen vermittelter dynamischer und fortschreitender („progressiver“) Prozess begriffen und nicht als ein einmaliger Akt, bei dem Moses durch Gott wörtlich die Tora („schriftliche Lehre“) sowie alle Auslegungen („mündliche Lehre“, später im Talmud und der Rabbinischen Literatur niedergeschrieben) erhalten hat. Daraus wird die Verpflichtung zur Bewahrung der jüdischen Tradition, aber auch zu ihrer beständigen Erneuerung abgeleitet. Die Texte des Tanachs sind einer historisch-kritischen Erforschung nicht entzogen. Statt auf das Kommen eines persönlichen Messias zu warten, hofft man auf das Anbrechen einer messianischen Zeit.<ref>Hans-Christoph Goßmann: "...denn das Heil kommt von den Juden". Christliche Zugänge zum Judentum und zum christlich-jüdischen Dialog, Waxmann, 2005, S. 52</ref>

Das liberale Judentum bildete in Deutschland bis zur Schoah die Mehrheit innerhalb der „Einheitsgemeinden“. Heute ist das liberale Judentum (in den USA "Reform Judaism" genannt) die Richtung mit den meisten Mitgliedern. Organisiert sind die jüdischen reformorientierten, liberalen und progressiven Gemeinden in der World Union for Progressive Judaism, die 1926 unter maßgeblicher Mitwirkung von Rabbiner Dr. Leo Baeck, einer Führungspersönlichkeit des deutschen Judentums, gegründet wurde. Deren nationaler Zweig in Deutschland ist die Union progressiver Juden in Deutschland, der rund 20 liberale jüdische Gemeinden, einige Organisationen sowie das Rabbinerseminar Abraham-Geiger-Kolleg angehören. Deutschsprachige liberale Gemeinden gibt es auch in Österreich (Wien) und in der Schweiz (Zürich).

Markante Unterschiede des liberalen Judentums (gegenüber dem orthodoxen Judentum u.a.) sind:

  • besonderer Schwerpunkt auf den ethischen Aspekten des Judentums (auf Kosten der strengen Befolgung formaler Gebote)
  • Liturgie sowohl in Hebräisch als auch in der Landessprache.
  • Verwendung von Musikinstrumenten in der Liturgie.
  • Vermeidung von Gebeten, deren Inhalt der Betende heute eventuell nicht mehr teilt (zum Beispiel die Bitte um Wiedereinführung des Tieropfers, wie es im Tempel in Jerusalem bestand), und eine Kürzung des Gottesdienstes.
  • Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen religiösen Angelegenheiten einschließlich der Ordination von Frauen zu Rabbinern. Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ihrem Familienstand oder sexueller Orientierung.
  • Bekenntnis zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaft.
  • Vorrang des inhaltlichen Sinns der Gebote (Mitzwot) vor ihrer verbindlichen Festlegung als „Zeremonialgesetz“. Zum Beispiel sollte Schabbat als Ruhetag gefeiert werden, das Schreiben oder das Fahren mit dem Auto zur Synagoge (das nach orthodoxer Auffassung beides am Schabbat verboten ist) werden aber nicht als Entweihung des Feiertags betrachtet. Die Gebote sind also nicht aufgehoben, ihre Beachtung wird aber der Entscheidung des Einzelnen überlassen.
  • Eine offene Haltung gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft, aktive Teilnahme am interreligiösen und interkulturellen Dialog.
  • In Amerika, offiziell anerkannte jüdische Abstammung durch den Vater oder durch die Mutter, falls nur ein Elternteil jüdisch ist.

Geschichte

Die Emanzipation der Juden in Deutschland und Europa eröffneten den jüdischen Bürgern neue Möglichkeiten und mit ihr begann die jüdische Aufklärung – die Haskala. Der Aufbruch in die Majoritätsgesellschaft hatte jedoch auch zur Folge, dass Juden nun zwischen jüdischer Tradition und angepasstem Leben in der Gesellschaft standen. Eine Verunsicherung setzte ein und in der Folge auch eine breite Bereitschaft zur Nichtbefolgung jüdischer Traditionen. Andererseits gab es auch Einzelpersonen, welche ihr jüdisches Erbe mit den neuen Lebensbedingungen vereinbaren wollten. Sie „reformierten“ das hergebrachte Judentum und passten es ihren Lebensumständen an. Aus diesen Einzelbemühungen erwuchs eine vollständige Bewegung. Die ersten „Reformen“ zielten zunächst auf die äußere Form des Ritus. Die Liturgie wurde gekürzt, eine Predigt in Landessprache eingeführt, zusätzliche Gebete in Landessprache gesprochen und ein gemischter Chor wurde von einer Orgel begleitet. Die Gebete sollten sowohl im Judentum verankert sein, als auch für die nichtjüdische Umgebung ein würdiges Gesicht erhalten.<ref>Blau, J.J., Reform Judaism: A Historical Perspective, 1973</ref>

Als Abraham Geiger 1839 Rabbiner in Breslau wurde, erhielt damit ein Vordenker der Reformbewegung einen Raum für weitere Entwicklungen. Es folgten mehrere Rabbinerkonferenzen mit reformorientierten Rabbinern aus Europa. Dort wurden Eckpunkte festgelegt und über das neue Selbstverständnis gestritten. 1844 Braunschweig, 1845 Frankfurt am Main und Breslau im Jahre 1846. Die Konferenz von 1845 verließ Rabbiner Zacharias Frankel unter Protest gegen den Umgang mit der hebräischen Sprache in den Gottesdiensten. Frankel wurde später einer der Mitbegründer der konservativen Strömung. Noch hatten zahlreiche Rabbiner Stellen in den „Einheitsgemeinden“ und konnten so nicht jede Änderung durchsetzen. Auf diesen Konferenzen wurden auch radikalere Ansätze geäußert. So sprach sich Abraham Geiger gegen die Beschneidung von jüdischen Jungen aus. In den Gemeinden wurden diese Ansätze jedoch nicht verfolgt, lediglich die Reformgruppen in Berlin und Frankfurt folgten radikaleren Ansätzen.

Nach den 1844-6 Rabbinerversammlungen wurde der Titel „Reform“ nur für die Radikalen benutzt, wie die „Reformfreunde“ in Frankfurt am Main und Breslau und Samuel Holdheims Berliner Reformgemeinde, die umfassendere Änderungen in der Liturgie durchgeführt hat. Ansonsten bezeichnen sich die jüdischen Gemeinden, die im deutschsprachigen Raum dieser Richtung des Judentums angehören, als "liberal", um ihren mäßigeren Charakter zu betonen.<ref>Michael Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit: Heft 3, C.H.Beck, 1997. S. 100-110.</ref>

Eine andere Entwicklung nahm die Reformbewegung in den USA. Durch Auswanderung gelangten die Kernideen in die USA, doch hier nahm sie eine andere Entwicklung, die durch die vollkommen andere Situation der Juden in den USA begünstigt wurde. In den USA gab es keine Einheitsgemeinde deren Existenz durch den Staat unterstützt oder gefordert wurde. Auch war der Assimilationsdruck weniger hoch, als es in Europa der Fall war. Für Forscher wie Prof. Karl Heinz Schneider nahmen sich amerikanische Juden das deutsche Reformjudentum als Vorbild.<ref>Karl Heinz Schneider: Judentum und Modernisierung. Ein deutsch-amerikanischer Vergleich, Campus, 2005, S. 111</ref> und gründeten die neuen Gemeinden mit dem Gedankengut, welches sie aus Mitteleuropa mitbrachten. Tatsächlich aber gründeten sich bereits 1824 erste Reformgemeinden in den USA<ref>Meyer, M.A.. Response to Modernity: A History of the Reform Movement in Judaism, 1988</ref>. Am 21. November 1824 gründeten ehemalige Gemeindemitglieder der Gemeinde „Beth Elohim“ in Charleston (South Carolina) eine eigene Gemeinde mit Reformen in ihrem Ritus, die „Reformed Society of Israelites“. Diese Gemeinde publizierte auch das erste Reformgebetbuch der USA „The Sabbath Service and Miscellaneous Prayers Adopted by the Reformed Society of Israelites“. 1833 verstarb einer der Wortführer der Gruppe und so schlossen sich die übrigen Gemeindemitglieder wieder der Gemeinde „Beth Elohim“ an und setzten hier viele der Änderungen durch. Tatsächlich migrierten in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts immer mehr deutschsprachige Einwanderer in die USA und trafen hier auf offene Bedingungen für die Entfaltung ihrer religiösen Ansichten. Es folgten weitere große Gemeindegründungen. 1842 der Tempel „'Har Sinai“ in Baltimore (heute im Vorort Owings Mills). 1845 folgte in New York City der Temple Emanu-El. 1858 entstand in Chicago als dritte amerikanische Reformgemeinde die „Sinai Congregation“.

Auch in den USA richteten Rabbiner der Reformbewegung regelmäßige Rabbinerkonferenzen ein. Auf der in Philadelphia von 1869, formulierten die Vordenker des amerikanischen Reformjudentums – David Einhorn, Samuel Hirsch und andere – erstmals ihre Prinzipien<ref>Reform Judaism: Declaration of Principles: 1869 Philadelphia Conference [1]</ref> Da diese Resolution bald als nicht ausreichend empfunden wurde, kam es 1885 auf einer Konferenz in Pittsburgh („Pittsburgh Platform“) zu einer weiteren, noch einflussreicheren Erklärung.<ref>Declaration of Principles: 1885 Pittsburgh Conference [2]</ref> Darüber hinaus wurde das amerikanische Reformjudentum auch von rationalistischen Einflüssen geprägt, darunter z. B. die von Felix Adler begründete „Ethical Culture“. Zu den Organisationen, die die Stärke der Reformbewegung begründeten, zählten die „Union of American Hebrew Congregations“ (seit 1873), das Reform Union College/Jewish Institute of Religion (seit 1875) und die „Central Conference of American Rabbis“ (seit 1889).<ref>The Union of American Hebrew Congregations [3]; Hebrew Union College [4];</ref> Ein öffentliches Forum fand die Reformbewegung in der 1854 von Isaac Mayer Wise in Cincinnati begründeten Wochenzeitschrift „The Israelite“, die bald unter dem neuen Titel „The American Israelite“ erschien.<ref>The American Israelite [5]</ref> Weiter entwickelt wurde das Reformjudentum später von Persönlichkeiten wie z. B. Judah Leon Magnes und Emil Hirsch.

65 jüdische Hausväter hatten im Dezember 1817 in Hamburg den Neuen Israelitischen Tempelverein gegründet und 1818 eine erste provisorische Synagoge in der südlichen Neustadt gebaut. Mit dem Gebetbuch des Israelitischen Tempelvereins beschritt eine solche Vereinigung Neuland. Texte aus der traditionellen Liturgie wurden geändert, gekürzt oder vollkommen ausgelassen. Diese Änderungen bezogen sich insbesondere auf die Gebete um eine Rückkehr nach Israel, auf die Wiedereinführung des Tempeldienstes oder den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem. Die Zahl der Tempelbesucher wuchs und so wurde 1844 der Neue Israelitische Tempel in der Poolstraße eingeweiht. Bis in die 1860er Jahre hinein wurden am Freitagabend zwei Gottesdienste abgehalten. Der erste war das übliche „Kabbalat Schabbat“ bei Einbruch der Dunkelheit, der zweite war dagegen als Konzession an die Geschäftsleute auf eine späte Abendstunde gelegt worden. <ref> Ruben Maleachi, Die Synagogen in Hamburg. </ref> In Leipzig sammelten sich zur Zeit der Messen Juden aus Deutschland und Österreich und dort wurde von Mitgliedern des Hamburger Tempels 1820 ein Tempelgottesdienst nach Hamburger Vorbild gestaltet. Von dort aus nahmen zahlreiche Besucher dieser Gottesdienste die Idee mit in ihre Heimatgemeinden. So wurde 1821 in Wien ein Tempel nach Hamburger Vorbild eingerichtet. Dort sollte auch das Hamburger Gebet- und Gesangbuch eingeführt werden. Isaak Noa Mannheimer nahm die Rabbinerstelle für diese, sich gründende Gruppe, an. Geboren in Kopenhagen 1793, führte er dort die Konfirmation ein, kannte jedoch auch die private Reformgruppe in Berlin, den Hamburger Tempel und die Synagoge von Leipzig. Er war der Überzeugung, dass nur über die Gewinnung der etablierten Gemeinde, weitreichende Reformen durchgeführt werden konnten. 1826 wurde dann der Tempel in Wien eröffnet. Hier war die Liturgie weniger radikal verändert worden, sah jedoch eine Dauer von höchstens zwei Stunden an Sabbaten und Festtagen vor, eine deutsche Predigt und die Konfirmation wurden eingeführt. Das Tragen des Sterbekleides am Neujahrs- und Versöhnungstag nur auf diejenigen beschränkt, die Funktionen innerhalb des Gottesdienstes übernahmen.

1854 veröffentlichte Abraham Geiger ein neues Gebetbuch, welches um einiges traditioneller war als dessen Hamburger Gegenstück.

Sozial gesehen bestand eine wesentliche Leistung des Reformjudentums in der weit reichenden Angleichung des jüdischen Alltagslebens und sogar der Liturgie an nichtjüdische – vor allem protestantische – Gepflogenheiten. Die Chancen amerikanischer Juden auf gesellschaftliche Integration stiegen damit drastisch.<ref>Nathan Glazer, American Judaism, Chicago: The University of Chicago Press, 1957, S. 46</ref> Während das Reformjudentum im 19. Jahrhundert und besonders in den USA auch im 20. Jahrhundert viele Traditionen des Judentums abschaffte, radikal veränderte oder in die Entscheidung der Individuen legte, werden heute viele dieser Traditionen wieder durchgeführt. Zusätzlich bildete sich in Deutschland und später in den USA mit dem konservativen Judentum eine Strömung die eine Mittelposition zwischen Orthodoxie und Reformjudentum einnimmt.

Israel

In Israel werden ab 2012 auch nicht-orthodoxe Vorsteher von jüdischen Gemeinden als Rabbiner anerkannt. 15 „Rabbiner einer nichtorthodoxen Gemeinschaft“ erhalten ihren Lohn vom Kulturministerium. Eheschließungen, Abdankungen und Lehrentscheide über die Thora bleiben den rund 4000 orthodoxen Rabbinern vorbehalten. In Israel gibt es keine Standesämter.<ref>http://www.livenet.ch/magazin/international/216656-erfolg_fuer_reformjuden.html (abgerufen am: 1. Juni 2012).</ref>

Siehe auch

Einzelnachweise

<references />

Literatur

  • Michael A. Meyer: Response to Modernity. A history of the Reform Movement in Judaism. Oxford University Press, New York NY u. a. 1988, ISBN 0-19-505167-X (Studies in Jewish history), (deutsch: Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum. Böhlau, Wien u. a. 2000, ISBN 3-205-98363-7).

Weblinks