Otto von Bismarck


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Otto von Bismarck, 1886

Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, ab 1865 Graf, ab 1871 Fürst von Bismarck, ab 1890 Herzog zu Lauenburg<ref>Bismarck hat laut der Darstellung Volker Ullrichs (Otto von Bismarck. 4. Auflage, Rowohlt, Reinbek 1998) den Titel eines Herzogs zu Lauenburg konsequent abgelehnt und auch Post zurückgesandt, die so adressiert war.</ref> (* 1. April 1815 in Schönhausen (Elbe); † 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Hamburg) war ein deutscher Politiker und Staatsmann. Von 1862 bis 1890 – mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1873 – war er Ministerpräsident von Preußen, von 1867 bis 1871 zugleich Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes sowie von 1871 bis 1890 erster Reichskanzler des Deutschen Reiches, dessen Gründung er maßgeblich vorangetrieben hatte.

Als Politiker machte sich Bismarck im preußischen Staat zunächst als Vertreter der Interessen der Junker im Kreis der Konservativen einen Namen und war während der Reaktionsära Diplomat (1851–1862). 1862 wurde er zum preußischen Ministerpräsidenten berufen. Im preußischen Verfassungskonflikt kämpfte er gegen die Liberalen für den Primat der Monarchie. Als Außenminister setzte er im Deutsch-Dänischen Krieg und im Deutschen Krieg zwischen 1864 und 1866 die politische Vorherrschaft Preußens in Deutschland durch. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 war er die treibende Kraft bei der Lösung der deutschen Frage im kleindeutschen Sinne und der Gründung des Deutschen Reiches.

Die Politik des neu geschaffenen Reiches bestimmte er als Kanzler – allgemein im Volksmund und der Historiografie verbreitet wurde Bismarck daher auch der „Eiserne Kanzler“ genannt – und, bis auf eine kurze Unterbrechung, als preußischer Ministerpräsident bis zu seiner Entlassung 1890 entscheidend mit. Er setzte außenpolitisch auf einen Ausgleich der Mächte (europäisches Gleichgewicht, siehe Bündnispolitik Otto von Bismarcks).

Innenpolitisch ist seine Regierungszeit nach 1866 in zwei Phasen einteilbar. Zunächst kam es zu einem Bündnis mit den gemäßigten Liberalen. In dieser Zeit gab es zahlreiche innenpolitische Reformen wie die Einführung der Zivilehe, wobei Bismarck Widerstand von katholischer Seite mit drastischen Maßnahmen bekämpfte (Kulturkampf). Seit den späten 1870er-Jahren wandte Bismarck sich zunehmend von den Liberalen ab. In diese Phase fällt der Übergang zur Schutzzollpolitik und zu staatsinterventionistischen Maßnahmen. Dazu zählte insbesondere die Schaffung des Sozialversicherungssystems. Innenpolitisch geprägt waren die 1880er-Jahre nicht zuletzt vom repressiven Sozialistengesetz. 1890 führten Meinungsverschiedenheiten mit dem seit knapp zwei Jahren amtierenden Kaiser Wilhelm II. zu Bismarcks Entlassung.

In den folgenden Jahren spielte Bismarck als Kritiker seiner Nachfolger noch immer eine gewisse politische Rolle. Insbesondere durch seine viel gelesenen Memoiren Gedanken und Erinnerungen wirkte er selbst maßgeblich und nachhaltig an seinem Bild in der deutschen Öffentlichkeit mit.

In der deutschen Geschichtsschreibung dominierte bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine ausgesprochen positive Bewertung von Bismarcks Rolle, die teilweise Züge einer nationalistischen Idealisierung trug. Nach dem Zweiten Weltkrieg mehrten sich jedoch kritische Stimmen, die Bismarck für das Scheitern der Demokratie in Deutschland verantwortlich machten und das von ihm geprägte Kaiserreich als obrigkeitsstaatliche Fehlkonstruktion darstellten. Jüngere Darstellungen überwinden diesen scharfen Gegensatz zumeist, wobei die Leistungen und Mängel von Bismarcks Politik gleichermaßen betont werden, und zeigen ihn als eingebettet in zeitgenössische Strukturen und politische Prozesse.

Frühe Jahre

Herkunft, Jugend und Bildung

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Otto von Bismarck als Knabe, Kreidezeichnung von Franz Krüger, Berlin 1826<ref>Max Osborn: Franz Krüger. Velhagen und Klasing, Bielefeld/Leipzig 1910 (= H. Knackfuß (Hrsg.): Künstler-Monographien, Bd. 101), S. 44, 97.</ref>

Der am 1. April 1815 in Schönhausen nahe der Elbe bei Stendal in der Provinz Sachsen als zweiter Sohn des Rittmeisters Karl Wilhelm Ferdinand von Bismarck (1771–1845) und dessen Ehefrau Luise Wilhelmine, geb. Mencken (1790–1839), zur Welt gekommene Otto von Bismarck war väterlicherseits Spross eines alten Adelsgeschlechts: Die väterliche Familie war ein Junkergeschlecht der Altmark. Seine Mutter dagegen war als Tochter von Anastasius Ludwig Mencken bürgerlicher Herkunft. Die Familie Mencken hatte in der Vergangenheit Gelehrte und hohe Beamte hervorgebracht.

1816 übersiedelte die junge Familie, ohne Gut Schönhausen aufzugeben, nach Gut Kniephof im Landkreis Naugard in Hinterpommern, wo Otto von Bismarck die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte.

Die unterschiedliche soziale Herkunft der Eltern hatte erhebliche Folgen für Bismarcks Sozialisation. Vom Vater erbte er den Stolz auf seine Herkunft, die Mutter gab ihm nicht nur seinen scharfen Verstand, den Sinn für rationales Handeln und sprachliche Sensibilität mit, sondern auch den Wunsch, seinem Herkunftskreis zu entkommen. Bismarck hatte es seiner Mutter zu verdanken, dass er eine Bildung genoss, die für einen Landedelmann nicht typisch war. Ihre Söhne sollten nicht nur Junker sein, sondern in den Staatsdienst eintreten. Allerdings führte die streng auf das Rationale abzielende Erziehung der Mutter dazu, dass sich Bismarck, wie er später schrieb, in seinem Elternhaus nie wirklich heimisch fühlte. Während er der Mutter reserviert gegenüberstand, hat er den Vater geliebt.<ref>Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-421-05392-3, S. 592 f.; Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. 2. Auflage, Ullstein, Berlin 2002, ISBN 3-548-26515-4, S. 27–30; Volker Ullrich: Otto von Bismarck. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-50602-5, S. 14 f.</ref>

Schulbildung

Im Alter von sechs Jahren begann Bismarcks schulische Ausbildung 1821 auf Wunsch der Mutter in der preußischen Hauptstadt Berlin in der Plamannschen Erziehungsanstalt. Dieses Internat, in das hohe Beamte ihre Söhne zu schicken pflegten, war ursprünglich im Geist von Johann Heinrich Pestalozzi gegründet worden. Zur Zeit Bismarcks war diese Reformphase längst beendet und die Erziehung geprägt von Drill und Deutschtümelei. Der Übergang vom kindlichen Spiel auf dem heimischen Hof zum Internatsleben, das von Zwang und Disziplin geprägt war, fiel Bismarck außerordentlich schwer. In dieser Zeit prägte sich deutlich sein Unwillen aus, Autoritäten anzuerkennen.<ref>Ullrich: Bismarck, S. 17; Gall: Bismarck, S. 29.</ref>

1827 wechselte Bismarck auf das Berliner Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, ab 1830 besuchte er bis zum Abitur 1832 das humanistische Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster. Außer in Bezug aufs Altgriechische, das Bismarck bald als überflüssig ansah, zeigte er sich in der Schule als ausgesprochen sprachbegabt, wenn auch nicht immer als fleißig.<ref>Ullrich: Bismarck. S. 16–20.</ref>

Religion

Bismarck war Angehöriger der lutherischen Konfession. Den Religionsunterricht erhielt er von Friedrich Schleiermacher, der den Sechzehnjährigen in der Berliner Dreifaltigkeitskirche auch konfirmierte. Bismarck befasste sich in dieser Zeit mit Fragen der Religion hauptsächlich vom Verstand her und sah sich in ihr, von Hegel oder Spinoza beeinflusst, rückblickend eher als Deist und Pantheist<ref>Brautwerbebrief an Heinrich von Puttkamer. In: Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin. Herausgegeben vom Fürsten Herbert von Bismarck. Cotta, Stuttgart 1900.</ref> denn als gläubiger Christ. Ein Atheist war er allerdings nie, auch wenn seine Umgebung ihn zumeist für einen gottlosen Spötter hielt. In der Zeit seines Referendariats schrieb er 1836 an seinen Bruder Bernhard: „Ich bemerke nur, dass Du mir zu wenig Besonnenheit zumutest, wenn Du mich für einen Atheisten hältst.“<ref>Brief Bismarcks an seinen Bruder Bernhard vom 16. Oktober 1836. In: Otto Becker: Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung. Hrsg. und ergänzt von Alexander Scharff. Quelle & Meyer, Heidelberg 1958.</ref> Das Christentum griff entscheidend in sein Leben ein, als ihn unerwartet der Tod seiner Freundin Marie von Thadden-Trieglaff traf.<ref>Ludwig Reiners: Bismarcks Aufstieg 1815–64. C.H. Beck, München 1956.</ref>

Studium und Ausbildung

Datei:Christian Wilhelm Allers, Otto von Bismarck als Student, 1893.jpg
Als 19-jähriger Student in Göttingen (Idealisierung von Christian Wilhelm Allers, 1893)

Nach dem Abitur nahm Bismarck als Siebzehnjähriger am 10. Mai 1832 das Studium der Rechtswissenschaften auf (1832–1835), zunächst an der Universität Göttingen (1832–1833). Die politischen Nachwehen im Gefolge der Julirevolution lehnte er nachdrücklich ab. Es war daher auch kein Zufall, dass er sich nicht den damals oppositionellen Burschenschaften, sondern der schlagenden landsmannschaftlichen Studentenverbindung Corps Hannovera Göttingen anschloss. Er blieb zeitlebens ein überzeugter Corpsstudent. An den Burschenschaften missfielen ihm „ihre Weigerung, Satisfaktion zu geben, ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganzen ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntnis der vorhandenen, historisch gewordenen Lebensverhältnisse beruhte.“ Er fasste seine Beobachtungen später zu der Bemerkung zusammen, dass es sich um eine Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung gehandelt habe. Andererseits bezeichnete er sich selbst als keineswegs von preußisch-monarchischen Gedanken beeinflusst.<ref>Bismarck, Gedanken und Erinnerungen I, S. 1 ff.</ref> Geschichte und Literatur interessierten ihn, das Jurastudium weniger. Der einzige akademische Lehrer, der ihn beeindruckte und wohl auch beeinflusste, war der Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren, der in seinen Vorlesungen die Funktionsweise des internationalen Staatensystems skizzierte. Engere persönliche Beziehungen baute er zu seinem Corpsbruder Gustav Scharlach und dem späteren amerikanischen Diplomaten John Lothrop Motley auf, der zeit seines Lebens einer seiner wenigen persönlichen Freunde blieb.<ref>Ullrich: Bismarck, S. 23; Gall: Bismarck, S. 33–36.</ref>

Im November 1833 setzte Bismarck sein Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität fort. 1835 schloss er es mit dem Ersten Staatsexamen ab. Anschließend war er zunächst Auskultator beim Berliner Stadtgericht. Auf eigenen Wunsch wechselte er vom Justiz- in den Verwaltungsdienst. Nicht nur im Kreis um den Novellisten Carl Borromäus Cünzer suchte er Zerstreuung:<ref>Paul Kuetgens (Hrsg.): Carl Borromäus Cünzer Folie des Dames. Illustr. Bert Heller, Aachen 1932, S. 11.</ref> Vom Büroalltag eines Regierungsreferendars im mondänen Kurort Aachen bald gelangweilt, verliebte er sich im August 1836 in Laura Russell, eine Nichte des Herzogs von Cumberland. Nach der Affaire mit einer (älteren) Französin reiste er im Sommer 1837 mit einer (jüngeren) Engländerin, einer Freundin Lauras, durch Deutschland. Dadurch kam es zu einer mehrwöchigen Überschreitung eines vierzehntägigen Urlaubs, durch die er sein Referendariat verlor.

Bismarck haderte mit Auslagen für Frauen und machte zusätzlich durch den Besuch von Spielkasinos Schulden. Seinen Dienstgeschäften blieb er monatelang fern. Er versuchte später, seine Referendarausbildung in Potsdam fortzusetzen, kehrte dem Verwaltungsdienst aber nach einigen Monaten den Rücken. Er erklärte diesen Schritt rückblickend damit, dass er kein bloßes Rädchen im Getriebe der Bürokratie sein wollte: „Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine.“<ref>Zit. nach Ullrich: Bismarck. S. 26.</ref>

1838 leistete Bismarck als Einjährig-Freiwilliger seinen Militärdienst ab, zunächst beim Garde-Jäger-Bataillon. Im Herbst wechselte er zum Jäger-Bataillon Nr. 2 nach Greifswald in Vorpommern, wo er sich an der Königlichen Staats- und landwirtschaftlichen Akademie Eldena auch auf die Führung der Familienbetriebe vorbereitete.

Bonvivant und erfolgreicher Gutsverwalter

Bismarck bezog nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1839 das hinterpommersche Gut Kniephof und wurde Landwirt. Gemeinsam mit dem um fünf Jahre älteren Bruder Bernhard bewirtschaftete er die väterlichen Güter Kniephof, Külz und Jarchlin im Kreis Naugard. Nachdem Bernhard von Bismarck 1841 zum Landrat gewählt worden war, kam es zu einer vorläufigen Teilung. Bernhard bewirtschaftete nun Jarchlin, Otto Külz und Kniephof. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1845 übernahm Otto die Bewirtschaftung des Familienbesitzes Schönhausen bei Stendal.

Bismarck erwarb schnell gute Kenntnisse in rationaler landwirtschaftlicher Betriebsführung. In den etwa zehn Jahren, in denen er als Verwalter des elterlichen Besitzes fungierte, gelang es ihm nicht nur, die Güter zu sanieren, sondern auch die eigenen Schulden zurückzuzahlen, die er in den zurückliegenden Jahren aufgehäuft hatte.

Einerseits gefiel es ihm, sein eigener Herr zu sein, andererseits füllten ihn die landwirtschaftliche Tätigkeit und das Leben als Landjunker nicht wirklich aus.<ref>Ullrich: Bismarck. S. 27.</ref> Er beschäftigte sich nebenher intensiv, aber unsystematisch mit Philosophie, Kunst, Religion und Literatur, ohne dass ihn dies nachhaltig geprägt hätte. 1842 unternahm er eine Studienreise nach Frankreich und England und in die Schweiz. Das Bestreben, in den Staatsdienst zurückzukehren, gab er 1844 auf – erneut aufgrund seiner Abneigung gegen alles Bürokratische. In diesen Jahren war er gerngesehener Gast bei zahlreichen gesellschaftlichen Ereignissen in der Region. Er nahm unter anderem an zahlreichen Jagdveranstaltungen teil, aber auch an ausschweifenden Zechgelagen. Eigenen Bekundungen zufolge hatte er sich in diesem Zusammenhang eine Art Trinkfestigkeit angeeignet; bei den Landjunkern habe er an Ansehen hinzugewonnen, weil er dazu fähig sei, seine „Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch zu trinken“.<ref>Ernst Engelberg: Bismarck – Urpreuße und Reichsgründer. Siedler, Berlin 1985, S. 181.</ref> Dies wie auch die ihm anhaftende Neigung, bei gesellschaftlichen Ereignissen fast stets im Mittelpunkt zu stehen, brachte ihm den Ruf des „tollen Bismarck“ ein.<ref>Ullrich: Bismarck, S. 27; Gall: Bismarck, S. 42–49.</ref>

Ehemann und Vater

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Johanna von Bismarck, geb. von Puttkamer, 1857

Durch Moritz von Blanckenburg, einen Schulfreund aus Berlin, kam Bismarck in Kontakt mit dem pietistischen Kreis um Adolf von Thadden-Trieglaff. Blanckenburg war mit dessen Tochter Marie von Thadden-Trieglaff verlobt. Marie von Thadden und Bismarck fühlten sich als verwandte Seelen, aber für die junge Frau kam eine Auflösung ihrer Verlobung nicht in Frage. Im Oktober 1844 heiratete sie Blanckenburg. Bei der Hochzeitsfeier wählte sie ihre zwanzigjährige Freundin Johanna von Puttkamer als Tischdame für Bismarck aus. Im Sommer 1846 reisten das Ehepaar Blanckenburg, Bismarck und Johanna von Puttkamer gemeinsam in den Harz. Nach dem unerwarteten Tod Maries am 10. November 1846 hielt Bismarck in einem berühmt gewordenen Brautbrief<ref>Bismarcks Brautbrief an Heinrich von Puttkamer (Volltext)</ref> an Heinrich von Puttkamer um die Hand von dessen Tochter an. Der Gutsbesitzer antwortete hinhaltend. Bismarck reiste daraufhin nach Reinfeld bei Rummelsburg in Hinterpommern und überzeugte die Eltern Johannas in einem persönlichen Gespräch. Die Heirat fand im Jahr 1847 in Reinfeld (Landkreis Rummelsburg i. Pom.) statt. Seit dieser Zeit spielte der Glaube an einen persönlichen Gott für Bismarck eine zentrale Rolle.<ref>Gall: Bismarck. S. 50–55.</ref>

Aus der Ehe mit Johanna von Bismarck gingen drei Kinder hervor:

Johanna ordnete ihre Bedürfnisse denen ihres Mannes unter und bot ihm zugleich – anders als seine Mutter – eine feste emotionale Bindung. Die Briefe, die die beiden austauschten, gehören zu den Höhepunkten der Briefliteratur des 19. Jahrhunderts.<ref>Ullrich: Bismarck. S. 32 f.</ref>

Politische Anfänge

Konservativer Agitator

Bismarck trat politisch zunächst auf kommunaler Ebene hervor. In seiner Zeit auf Gut Kniephof war er Deputierter des Kreises Naugard, wurde 1845 Mitglied des Provinziallandtags der Provinz Pommern<ref>Theodor Wengler: Der Provinzialverband Pommern. Verzeichnis der Mitglieder des Provinziallandtages. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V, Bd. 44, Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2008, ISBN 978-3-412-20109-8, S. 159.</ref><ref>Eberhard Kolb: Bismarck. C.H. Beck Wissen, München 2009, ISBN 978-3-406-56276-1, S. 13.</ref> und unterstützte in einigen Fällen seinen Bruder bei dessen Tätigkeit als Landrat. Über seinen pietistischen Freundeskreis kam er um 1843/1844 in Kontakt zu führenden konservativen Politikern, insbesondere zu den Brüdern Ernst Ludwig und Leopold Gerlach. Er verpachtete 1845 nicht zuletzt, um diese Verbindung auszubauen, den Kniephof und zog nach Schönhausen. Dieser Ort lag näher bei Magdeburg, dem damaligen Dienstsitz von Ludwig von Gerlach. Bismarck erhielt sein erstes öffentliches Amt 1846 durch die Ernennung zum Deichhauptmann in Jerichow.

Sein Hauptanliegen in dieser Zeit war es, die Vormachtstellung des landbesitzenden Adels in Preußen zu bewahren. Die Konservativen lehnten den absolutistisch-bürokratischen Staat ab und träumten von einer Wiedereinführung der Mitregierung der Stände, insbesondere des Adels.<ref>Gall: Bismarck. S. 63.</ref> Zusammen mit den Brüdern Gerlach trat Bismarck beispielsweise für die Bewahrung der Patrimonialgerichtsbarkeit ein.

Als Nachrücker im sächsischen Provinziallandtag wurde Bismarck als Vertreter der Ritterschaft der Provinz Sachsen 1847 Mitglied des Vereinigten Landtags.<ref>Eberhard Kolb: Bismarck. C.H. Beck Wissen, München 2009, ISBN 978-3-406-56276-1, S. 19–20.</ref> In diesem Gremium, das von der gemäßigten liberalen Opposition dominiert war, fiel er bereits bei seiner ersten Plenarrede als strikt konservativer Politiker auf, als er bestritt, dass es bei den Befreiungskriegen auch um die Durchsetzung liberaler Reformen gegangen war. In der „Judenfrage“ sprach er sich klar gegen die politische Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung aus. Diese und ähnliche Positionen führten bei den Liberalen zu empörten Reaktionen. Bismarck fand in dieser Zeit in der Politik ein Betätigungsfeld, das seinen Neigungen entgegenkam: „Die Sache ergreift mich viel mehr als ich dachte.“<ref>Zit. nach Ullrich: Bismarck. S. 36.</ref>

Datei:Bimarck und Friedrich Wilhelm IV 1848.jpg
Bismarck (rechts) und König Friedrich Wilhelm IV. 1848 (Zeichnung von Hermann Lüders)

Die Leidenschaft des politischen Kampfes ließ ihn kaum essen und schlafen. Am Ende der Versammlung hatte sich Bismarck in den konservativen Kreisen einen Namen gemacht. Auch der König war auf ihn aufmerksam geworden.<ref>Ullrich: Bismarck. S. 34–36.</ref> Wenngleich er eindeutig konservative Positionen vertrat, war Bismarck bereits in dieser Zeit auch Pragmatiker und bereit, vom politischen Gegner zu lernen. Dies kam etwa in dem Plan zum Tragen, als Gegengewicht zur liberalen „Deutschen Zeitung“ eine konservative Zeitung zu gründen.<ref>Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen ‚deutschen Doppelrevolution‘. 1815–1845/49. Beck, München 1987, S. 451.</ref>

Bismarck lehnte die Märzrevolution entschieden ab. Als ihn die Nachricht vom Erfolg der Bewegung in Berlin erreichte, bewaffnete er in Schönhausen die Bauern und schlug vor, mit ihnen nach Berlin zu ziehen. Der in Potsdam kommandierende General Karl von Prittwitz lehnte dieses Angebot jedoch ab. Danach versuchte Bismarck, Prinzessin Augusta, die Gattin des späteren Königs Wilhelm I., von der Notwendigkeit einer Gegenrevolution zu überzeugen. Augusta wies das Ansinnen als intrigant und illoyal zurück. Bismarck zog sich durch sein Verhalten die dauerhafte Abneigung der späteren Königin zu.<ref>Gall: Bismarck. S. 70; Ullrich: Bismarck, S. 38.</ref> Nach der Anerkennung der Revolution durch Friedrich Wilhelm IV. waren Bismarcks gegenrevolutionäre Pläne vorerst gescheitert.

In die preußische Nationalversammlung wurde Bismarck nicht gewählt. Dafür beteiligte er sich an der außerparlamentarischen Sammlung des konservativen Lagers. Im Sommer 1848 war er an der Gründung und inhaltlichen Ausgestaltung der „Neuen Preußischen Zeitung“ (wegen des Kreuzes auf dem Titelblatt auch „Kreuzzeitung“ genannt) beteiligt. Für das Blatt schrieb er zahlreiche Beiträge. Im August 1848 war er einer der maßgeblichen Initiatoren des sogenannten Junkerparlaments. In diesem versammelten sich mehrere hundert adlige Gutsbesitzer, um gegen den Eingriff in ihr Eigentum zu protestieren.<ref>Ullrich: Bismarck. S. 38 f.</ref>

Diese Aktivitäten führten dazu, dass die konservative Kamarilla um den König Bismarck immer mehr zu schätzen begann. Seine Hoffnung, nach der Gegenrevolution im November 1848 mit einem Ministerposten belohnt zu werden, erfüllte sich jedoch nicht, da er selbst in konservativen Kreisen als zu extrem galt. Der König schrieb auf eine entsprechende Vorschlagsliste als Randbemerkung: „Nur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet“.<ref>Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Zweites Kapitel, IV: Das Jahr 1848, S. 15 ff., hier S. 30; s. auch Spiegel Online Kultur, Projekt Gutenberg-DE und Zeno.org (dort in der Schreibweise Bayonett).</ref>

Hinwendung zur Realpolitik

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Sitzung des Volkshauses des Erfurter Unionsparlaments im Schiff der Augustinerkirche, 1850

Im Januar und im Juli 1849 wurde Bismarck in die zweite Kammer des preußischen Landtages gewählt. Er beschloss in dieser Zeit, sich ganz der Politik zu widmen, und zog mit seiner Familie nach Berlin. Damit war er einer der ersten Berufspolitiker in Preußen.<ref>Gall: Bismarck. S. 83.</ref> Im Landtag trat er als Sprachrohr der Ultrakonservativen auf. So verteidigte er die Ablehnung von Kaiserwürde und Reichsverfassung durch Friedrich Wilhelm IV., weil aus seiner Sicht zu befürchten stand, dass Preußen in Deutschland aufginge. Die nationale Frage war für ihn gegenüber der Sicherung der preußischen Macht zweitrangig.

Der König und sein Berater Joseph von Radowitz wollten die deutsche Einheit vor allem durch Absprache mit den Mittelstaaten erreichen. Außerdem sollte die angestrebte Erfurter Union konservativer und föderalistischer sein als das Frankfurter Vorbild.<ref>Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850. 3. Auflage, W. Kohlhammer, Stuttgart 1869; Ludwig Hahn: Fürst von Bismarck. Sein politisches Leben und Wirken. 5 Bd. Hertz, Berlin 1878–1891; Hermann Jahnke: Fürst Bismarck, sein Leben und Wirken. Kittel, Berlin 1890; Hans Blum: Bismarck und seine Zeit. Eine Biographie für das deutsche Volk. 6 Bd. mit Reg-Bd. Beck, München 1894–1899.</ref> Der Soziologe Max Weber wertete 1895 in seiner Freiburger Antrittsrede Bismarcks Rolle im deutschen Einigungsprozess kritisch: „Denn dieses Lebenswerk hätte doch nicht nur zur äußeren, sondern auch zur inneren Einigung der Nation führen sollen und jeder von uns weiß: das ist nicht erreicht. Es konnte mit seinen Mitteln nicht erreicht werden.“<ref>Max Weber: s:Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik</ref> Theodor Fontane war, wie Hans-Jürgen Perrey schreibt, „voller Bewunderung für die historischen Leistungen und die historische Größe Otto von Bismarcks, um im selben Atemzuge ebenso schwerwiegende Vorbehalte zu äußern, wenn er auf den Menschen und dessen Charakter schaute.“<ref>Hans-Jürgen Perrey: "Nirgends ist ihm ganz zu trauen." Bismarck im Urteil Theodor Fontanes., 2002</ref> „Er ist die denkbar interessanteste Figur, ich kenne keine interessantere, aber dieser beständige Hang, die Menschen zu betrügen, dies vollendete Schlaubergertum ist mir eigentlich widerwärtig, und wenn ich aufrichten, erheben will, so muß ich doch auf andere Helden blicken“, schrieb Fontane am 5. August 1893 seinem Freund August von Heyden<ref>Zit. nach Perrey a.a.O. Siehe auch die Briefe Fontanes an seine Tochter Mete vom 29. Januar 1894, books.google PA459, und vom 1. April 1895, books.google PA465.</ref>

Diese negativen Beurteilungen konnten sich auf Dauer nicht durchsetzen, nicht zuletzt wegen Bismarcks Memoiren, die den Bismarckverehrern neben einem fast unerschöpflichen Vorrat von Zitaten die Grundlagen für das Bild lieferten, das sich viele national gesinnte Deutsche von Bismarck machten; dies erschwerte einen kritischen Blick auf den Reichsgründer.<ref>Ullrich: Bismarck. S. 8.</ref> Zu Lebzeiten nahm Bismarck außerdem persönlich Einfluss auf seine Darstellung in der Geschichtsschreibung, indem er den Zugriff von Historikern auf Dokumente regulierte und zum Teil Manuskripte Korrektur las. Nach seinem Tod übernahm der Sohn Herbert von Bismarck für einige Jahre diese Kontrolle über das Bismarck-Bild der Nachwelt.<ref name="Urbach 1146">Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1145–1146.</ref>

Die professionelle Geschichtswissenschaft konnte sich vor dem Hintergrund der Reichseinigung der Faszination Bismarcks nicht entziehen und trug zur Idealisierung seiner Person bei. Heinrich von Treitschke wandelte sich von einem politischen Kritiker Bismarcks zu einem glühenden Bewunderer. Bismarcks Reichsgründung galt ihm als heroische Glanztat der deutschen Geschichte. Treitschke und andere Historiker der kleindeutsch-borussischen Schule der Geschichtsschreibung waren fasziniert von der strukturbrechenden Kraft Bismarcks.<ref>Ewald Frie: Das Deutsche Kaiserreich. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-14725-1 (= Kontroversen um die Geschichte), S. 3.</ref> Der Bismarck-Biograf Erich Marcks schrieb 1909: „Und zu dem Glauben bekenne ich mich gern: dieses Dasein war so groß, in sich so gewaltig, für sein Volk so umfassend bedeutungsreich, daß an ihm alles, soweit es nur Leben hat, historisch wertvoll ist.“<ref>Erich Marcks: Bismarck. Eine Biographie. Erster Band Bismarcks Jugend 1815–1848. Cotta 1915. S. IX.</ref> Jedoch betonte Marcks, im Einvernehmen mit anderen Historikern der Wilhelminischen Ära wie Heinrich von Sybel, noch die Zweitrangigkeit der Rolle Bismarcks gegenüber den Leistungen der Hohenzollern. Nicht Bismarck, sondern Wilhelm I. wurde bis 1914 in Schulbüchern als Gründer des Deutschen Kaiserreichs dargestellt.<ref name="Urbach 1146" />

Der entscheidende Schritt zu einer extremen Überhöhung von Bismarcks Bild in der Historiografie wurde während des Ersten Weltkriegs vollzogen. Anlässlich des 100. Geburtstags von Bismarck 1915 entstanden Weiheschriften, die ihren rein propagandistischen Zweck kaum verhüllten.<ref>Adolf Matthias: Bismarck. Sein Leben und sein Werk. Beck, München 1915.</ref> In patriotischem Überschwang betonten Historiker die Pflicht der deutschen Soldaten, die von Bismarck herbeigeführte Einheit und Größe Deutschlands gegen die anderen europäischen Mächte zu verteidigen, unterschlugen dabei aber Bismarcks beständige Warnungen gegen einen solchen Krieg in Mitteleuropa. Bismarck-Forscher wie Erich Marcks,<ref>Erich Marcks: Vom Erbe Bismarcks. Eine Kriegsrede. Quelle & Meyer, Leipzig 1916.</ref> Max Lenz<ref>Max Lenz: Der Weltkrieg im Spiegel Bismarckscher Gedanken. In: Max Lenz, Erich Marcks (Hrsg.): Das Bismarckjahr. Eine Würdigung Bismarcks und seiner Politik in Einzelschilderungen. Broschek, Hamburg 1915.</ref> und Horst Kohl<ref>Mit Bismarck daheim und im Felde. Kernworte aus seinen Briefen und Reden. Zsgest. von Horst Kohl. Runge, Berlin-Lichterfelde 1915.</ref> zeichneten Bismarck vielmehr als geistige Leitfigur der deutschen Kriegsanstrengungen.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1146–1148.</ref>

Weimarer Republik und NS-Zeit

Die deutsche Niederlage im Krieg und der Wechsel zur Republik von Weimar brachten keinen grundsätzlichen Umschwung in diesem nationalistischen Bismarck-Bild, weil die Elite der Historikerzunft weiter der Monarchie verpflichtet blieb. In einer als demütigend und chaotisch empfundenen Lage Deutschlands wurde Bismarck als Orientierung gebende Vaterfigur porträtiert, an deren Genius angeknüpft werden müsse, um die „Schmach von Versailles“ zu überwinden. Sofern Kritik an seiner historischen Rolle geäußert wurde, bezog sie sich auf die „kleindeutsche“ Lösung der deutschen Frage, nicht auf die kriegerisch und „von oben“ herbeigeführte Einigung per se. Der Traditionalismus verhinderte, dass in dieser Zeit innovative Bismarck-Biografien erschienen. Immerhin ermöglichte die Freigabe weiterer Dokumente in den 1920er-Jahren neue Detailstudien, die Bismarcks diplomatisches Geschick hervorhoben.<ref name="Urbach 1149">Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1148–1149.</ref> In einer zukunftsweisenden Monografie analysierte Otto Jöhlinger zudem 1921 erstmals Bismarcks Antisemitismus.<ref>Otto Jöhlinger: Bismarck und die Juden. Unter Benutzung unveröffentlichter Quellen. D. Reimer, Berlin 1921.</ref> Der Historiker betonte dabei, dass der Reichskanzler entsprechende Äußerungen hauptsächlich in reaktionären politischen Kreisen getätigt hatte, sein eigenes Verhalten gegenüber Juden aber von Pragmatismus geprägt war.<ref name="Urbach 1149" /> Die populärste Bismarck-Biografie der Zeit legte 1926 der Schriftsteller Emil Ludwig mit einer kritischen psychologischen Studie vor, in der Bismarck als faustischer Held im Drama der Geschichte des 19. Jahrhunderts porträtiert wurde.<ref>Emil Ludwig: Bismarck. Ungekürzte Neuausgabe, Herbig, München 1975 (zuerst 1926), ISBN 3-7766-0733-5; Urbach: Between Saviour and Villain, S. 1149.</ref>

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde häufiger eine historische Kontinuitätslinie zwischen Bismarck und Adolf Hitler behauptet, um so den nationalsozialistischen Staat als Vollendung der deutschen Einheitsbewegung (jedoch bei Korrektur der „kleindeutschen Lösung“) zu porträtieren. Erich Marcks, Nestor der Bismarck-Forschung, unterstützte diese ideologisierte Geschichtsdeutung. Auch in Großbritannien wurde Bismarck während des Zweiten Weltkriegs vermehrt als Vorgänger Hitlers gesehen, der Beginn der historiografischen Definition eines Deutschen Sonderwegs. Während des Zweiten Weltkriegs ließ die Berufung der Nationalsozialisten auf Bismarck jedoch nach; vor allem seine bekannten Warnungen vor einem Krieg Deutschlands gegen Russland waren ab 1941 nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen erblickten nun konservative Mitglieder des Widerstands in Bismarck eine Leitfigur.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1149–1153.</ref>

Im Jahr 1944 erschien Arnold Oskar Meyers Bismarck der Mann und der Staatsmann,<ref>Arnold Oskar Meyer: Bismarck. Der Mensch und der Staatsmann. Koehler & Amelang, Leipzig 1944.</ref> in dem Bismarck nationaldeutsch und völkisch gedeutet wurde. Mit diesem Werk erlangte die Bismarck-Verherrlichung in der Tradition des Kaiserreichs einen letzten Höhepunkt. Angesichts der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der Aufteilung Deutschland konnte Meyers überzogene politische Interpretation jedoch keinen größeren Einfluss auf die Bewertung der Rolle Bismarcks durch die Geschichtsschreibung mehr ausüben.<ref>Loth: Kaiserreich, S. 203; Urbach: Between Saviour and Villain, S. 1152.</ref>

Eine wichtige kritische Stimme erhob der Jurist Erich Eyck mit seiner 1941–1944 im Schweizer Exil veröffentlichten dreibändigen Bismarck-Biografie. Er warf Bismarck machiavellistische Methoden und mangelnden Respekt vor dem Recht vor, verurteilte seinen Zynismus gegenüber demokratischen, liberalen und humanitären Werten und machte ihn für das Scheitern der Demokratie in Deutschland verantwortlich. Bismarcks Bündnissystem sei zwar mit Geschick erbaut worden, aber künstlich und von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.<ref>Loth: Kaiserreich, S. 205; Urbach: Between Saviour and Villain, S. 1152–1153.</ref> Jedoch konnte auch Eyck sich der Faszination Bismarcks nicht entziehen: „Aber niemand, wo immer er steht, kann verkennen, daß er die zentrale und beherrschende Figur seiner Zeit ist und mit ungeheurer Kraft und tyrannischer Energie ihr die Wege gewiesen hat. Und niemand kann sich der faszinierenden Anziehungskraft dieses Menschen entziehen, der im guten wie im bösen immer eigenartig und immer bedeutend ist.“<ref>Erich Eyck Bismarck. Leben und Werk. Dritter Band, 1944, S. 638.</ref>

Nachkriegszeit bis 1990

Nach dem Zweiten Weltkrieg hielten einflussreiche deutsche Historiker wie Hans Rothfels und Theodor Schieder, wenn auch differenziert, an einem insgesamt positiven Bismarckbild fest.<ref>Loth: Kaiserreich, S. 204.</ref> Viele deutsche Fachrezensionen der Eyck-Biografie, die erst in den 1950er-Jahren erschienen, waren entsprechend äußerst kritisch. Gerhard Ritter warf Eyck in einem Brief vor, lediglich antideutsche Klischees bestätigt zu haben. Demgegenüber argumentierte Friedrich Meinecke, selbst zuvor ein Bismarck-Bewunderer, 1946 in Die deutsche Katastrophe, das traumatische Scheitern des deutschen Nationalstaates verhindere, Bismarck auf absehbare Zeit zu feiern.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1153.</ref>

Der Brite Alan J.P. Taylor veröffentlichte 1955 eine psychologisch gefärbte und nicht zuletzt deswegen umstrittene Bismarck-Biografie, in der er die komplexe Persönlichkeit seines Studienobjekts mit dem inneren Kampf zwischen väterlichem und mütterlichem Erbe zu erklären suchte.<ref>Alan J.P. Taylor: Bismarck. The Man and the Statesman. H. Hamilton, London 1955. Dt. Ausgabe: Bismarck. Mensch und Staatsmann. Aus dem Engl. von Hansjürgen Wille und Barbara Klau. Piper, München 1962.</ref> Taylor kontrastierte Bismarcks politischen Instinkt beim Ringen um eine Friedensordnung in Europa positiv mit der aggressiven deutschen Außenpolitik seit der Wilhelminischen Ära.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1154–1155.</ref> Die erste deutsche Nachkriegsbiografie Bismarcks von Wilhelm Mommsen<ref>Wilhelm Mommsen: Bismarck. Ein politisches Lebensbild. Bruckmann, München 1959.</ref> unterschied sich von Vorgängern vor allem durch den nüchternen, um eine objektive Perspektive bemühten Stil. Mommsen hob Bismarcks politische Flexibilität hervor und vertrat die Ansicht, dessen innenpolitische Fehler sollten nicht die Errungenschaften eines bedeutenden Staatsmannes überdecken.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1154.</ref>

In den 1960er- und 1970er-Jahren verlor der auf Biografien „großer Figuren“ zentrierte Ansatz in der westdeutschen Historikerzunft stark an Boden. Demgemäß waren nun nicht mehr Person und Handeln Bismarcks bevorzugtes Studienobjekt sondern die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen, in die er eingebunden war, die er aber selbst auch beeinflusste. In der sozialgeschichtlichen Schule um den bismarckkritischen Hans-Ulrich Wehler wurde unter anderem Bismarcks Praxis der Kampagnen gegen vermeintliche Staatsfeinde (Sozialdemokraten, Jesuiten etc.) problematisiert. In Form einer „negativen Integration“ habe das Schüren von Ängsten dem Reichskanzler dazu gedient, soziale Milieus an das neue Kaiserreich zu binden. Bismarck sei es zudem gelungen, ab 1878 mit einer „Sammlungspolitik“ die Interessen zweier einflussreicher Gruppen, nämlich der führenden Landbesitzer (Junker) und der Großindustriellen, in einer „Allianz gegen den Fortschritt“ zu verbinden.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1155–1156.</ref> Wehler charakterisierte Bismarcks Herrschaftssystem 1973 als bonapartistische Diktatur. Dazu hätten charismatische, plebiszitäre und traditionelle Elemente gehört.<ref>Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich. 6., bibliogr. erneuerte Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988 (zuerst 1973), ISBN 3-525-33542-3, S. 64 ff.</ref> Später versuchte Wehler, Bismarcks Stellung mit Hilfe von Max Webers Konzept der „charismatischen Herrschaft“ zu deuten.<ref>Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der 'Deutschen Doppelrevolution' bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914. Beck, München 1995, ISBN 3-406-32263-8, S. 849 ff.</ref>

Ende der 1970er-Jahre setzte eine Gegenbewegung zum Verzicht der Sozialhistoriker auf biografische Studien ein. Seitdem sind in regelmäßigem Abstand neue Bismarck-Biografien erschienen, die zumeist ein differenziertes Bild des ersten Reichskanzlers jenseits einer überspitzten Überhöhung oder Dämonisierung zeichnen. Den meisten neueren Biografien ist gemeinsam, dass sie im Versuch einer Synthese zwar die Wirkungsmacht Bismarcks betonen, dessen Person jedoch eingebettet in die zeitgenössischen Strukturen und politischen Prozesse zeigen.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1156–1160.</ref>

Einen ungewöhnlichen Weg ging dabei Fritz Stern, der 1978 eine Doppelbiografie Bismarcks und seines Bankiers Gerson Bleichröder vorlegte.<ref>Fritz Stern: Gold and Iron. Bismarck, Bleichröder, and the building of the German Empire. Knopf, New York 1977. Dt. Ausgabe: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Ullstein, Frankfurt am Main [u. a.] 1978, ISBN 3-550-07358-5.</ref> Lothar Gall zeichnete 1980, einen von Ludwig Bamberger und Henry Kissinger verwendeten Begriff aufnehmend, das Bild eines „weißen Revolutionärs“.<ref>Lothar Gall: Bismarck.</ref> Bismarck war danach ein Erzroyalist, der die konservativen Strukturen bewahren wollte, stürzte zu diesem Zweck aber auch bestehende Ordnungen um und hat modernisierend gewirkt. Am Ende habe er aber die Kräfte, die er gerufen hatte, nicht mehr beherrschen können und bemühte sich um das Zurückdrängen moderner Tendenzen.<ref>Ullrich: Bismarck, S. 10. Ausführlich zu Gall und Stern: Jürgen Kocka: Bismarck-Biographien. In: Geschichte und Gesellschaft. Bd. 7, Nr. 3/4, 1981, ISSN 0340-613X, S. 571–582.</ref>

Der US-amerikanische Historiker Otto Pflanze legte zwischen 1963 und 1990 eine mehrbändige Biografie Bismarcks vor,<ref>Otto Pflanze: Bismarck and the Development of Germany. 3. Vol. Princeton University Press, Princeton 1963–1990. Dt. Ausgabe in zwei Bänden: Bismarck. Bd. 1: Der Reichsgründer. Bd. 2: Der Reichskanzler. Aus dem Engl. von Peter Hahlbrock. Beck, München 1997–1998, ISBN 3-406-42725-1 und, ISBN 3-406-42726-X.</ref> die im Unterschied zu anderen Werken weniger Bismarcks Handeln als vielmehr seine Persönlichkeit in den Vordergrund stellte und diese teils mit psychoanalytischen Methoden untersuchte. Pflanze kritisierte Bismarck dafür, die Reichsverfassung und den Umgang mit den Parteien ganz seinen unmittelbaren politischen Zwecken angepasst und dadurch ein wirkungsmächtiges negatives Exempel gesetzt zu haben. Nach Pflanze geht die Darstellung als Einiger der deutschen Nation auf Bismarcks späte Selbststilisierung zurück, derweil er ursprünglich nur den Einfluss Preußens im Konzert der europäischen Mächte habe stärken wollen.<ref>Ullrich: Bismarck, S. 10 f.; Urbach: Between Saviour and Villain, S. 1156–1157.</ref>

Der DDR-Historiker Ernst Engelberg brachte 1985 eine Bismarck-Biografie<ref>Ernst Engelberg: Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer. Siedler, Berlin 1985, ISBN 3-88680-121-7.</ref> heraus, die in Westdeutschland auf Verwunderung stieß, weil sie eher liebevoll und, abgesehen von der Sozialistenverfolgung, wenig kritisch mit dem Kanzler umging. Engelberg sah, durchaus in Einvernehmen mit anderen marxistisch-leninistischen Historikern der Zeit, die Reichsgründung als Phase des Fortschritts an, die der Arbeiterklasse einen nationalen Zusammenschluss ermöglicht habe. Engelberg betrachtete Bismarck selbst nicht als Abenteurer, sondern als überlegt handelnden Politiker, dessen Charakterfehler ihm nicht persönlich anzulasten, vielmehr aus seinen sozialen Wurzeln im Junkertum heraus erklärbar seien. Der Erste Weltkrieg sei nicht Bismarcks Erbe, sondern die Schuld seiner Nachfolger gewesen.<ref>Urbach: Between Saviour and Villain. S. 1158–1159.</ref>

Literatur, Quellen und Darstellungen

Schriften und Reden Bismarcks

  • Gesammelte Werke – Neue Friedrichsruher Ausgabe. Schöningh, Paderborn [u. a.] 2004 ff.
  • Gedanken und Erinnerungen. Herbig, München 2007 (1898–1919), ISBN 978-3-7766-5012-9.
  • Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe besorgt von Horst Kohl. 14 Bände. Cotta, Stuttgart 1892–1905.
  • Bismarckbriefe 1836–1872. 6., stark verm. Auflage. Hrsg. von Horst Kohl. Velhagen & Klasing, Bielefeld und Leipzig 1897.
  • Gesammelte Werke. Briefe, Reden und Aktenstücke. Ges. und hrsg. von Bruno Walden. 4 Bd. Fried, Berlin 1890.
  • Die politischen Berichte des Fürsten Bismarck aus Petersburg und Paris (1859–1862). Hrsg. von Ludwig Raschdau. Bd. 1: 1859–1860. Bd. 2: 1861–1862. Hobbing, Berlin 1920.
  • Bismarcks Briefwechsel mit dem Minister Freiherrn von Schleinitz. 1858–1861. Cotta, Stuttgart und Berlin 1905.
  • Bismarck und der Staat. Ausgewählte Dokumente. 2. Auflage. Eingeleitet von Hans Rothfels. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1953 (1925).
  • Die Ansprachen des Fürsten Bismarck 1848–1894. Hrsg. von Heinrich von Poschinger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart [u. a.] 1895.
  • Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin. Hrsg. von Fürst Herbert von Bismarck. Cotta, Stuttgart 1900.
  • Bismarcks Briefe an seine Gattin aus dem Kriege 1870/71. Cotta, Stuttgart und Berlin 1903.
  • Briefe Ottos von Bismarck an Schwester und Schwager Malwine von Arnim geb. v. Bismarck u. Oskar von Arnim-Kröchlendorff 1843–1897. Hrsg. von Horst Kohl. Dieterich, Leipzig 1915.
  • Bismarck. Briefe, Berichte, Denkschriften, Erlasse, Gespräche, Reden, Verträge. Hrsg. von Karl Mielcke. Limbach, Braunschweig 1954.
  • Bismarcks spanische „Diversion“ 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg. Quellen zur Vor- und Nachgeschichte der Hohenzollern-Kandidatur für den Thron in Madrid 1866–1932. 3 Bd. Hrsg. von Josef Becker unter Mitarbeit von Michael Schmid. Schöningh, Paderborn [u. a.] 2003–2007.
  • Otto von Bismarck – Werke in Auswahl. Hrsg. von Alfred Milatz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1981.

Darstellungen zu Bismarcks Leben und zum Bismarck-Mythos

Literatur zur Epoche

Filme

  • Bismarck. Spielfilm, Deutschland 1913. Regie: William Wauer, Gustav Trautschold, Richard Schott. Mit Franz Ludwig in der Rolle Bismarcks.
  • Bismarck 1862–1898. Spielfilm, Deutschland 1927. Regie: Curt Blachnitzky.
  • Bismarck. Spielfilm, Deutschland 1940. Regie: Wolfgang Liebeneiner.
  • Die Entlassung. Spielfilm, Deutschland 1942. Regie: Wolfgang Liebeneiner.
  • Made in Germany – Ein Leben für Zeiss. Spielfilm, BRD 1956. Regie: Wolfgang Schleif. Mit Heinz Klevenow als Bismarck.
  • „Preußen über alles …“. Fernsehspielfilm (ZDF) über B. und die deutsche Reichsgründung, BR Deutschland 1971. Regie: Rudolf Jugert. (Eintrag auf IMDB)
  • Bebel und Bismarck. TV-Fernsehspielfilm, DDR 1987. Regie: Wolf-Dieter Panse. Mit Wolfgang Dehler in der Rolle Bismarcks.
  • Bismarck. Fernsehspiel in drei Teilen. Teil 1: Ich bin ein Preuße. Teil 2: Eisen und Blut. Teil 3: Virtuose der Macht. BR Deutschland 1989/1990. Regie: Tom Toelle.
  • Bismarck – Kanzler und Dämon. Fernseh-Doku-Drama in zwei Teilen. Teil 1: Vom Landjunker zum Reichsgründer. Teil 2: Regierungsgewalt und Machtverlust. Deutschland 2007. Buch und Regie: Christoph Weinert.
  • Die Deutschen – Bismarck und das Deutsche Reich, Folge 9 der Fernseh-Doku-Reihe (ZDF), Deutschland 2008.

Weblinks

Commons Commons: Otto von Bismarck – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource Wikisource: Otto von Bismarck – Quellen und Volltexte

Anmerkungen

<references />

24px Dieser Artikel wurde am 27. Juli 2008 in dieser Version in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen.