Reisekrankheit


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Klassifikation nach ICD-10
T75.3 Kinetose
ICD-10 online (WHO-Version 2013)

Reise-, Bewegungskrankheit, fachspr. Kinetose (von gr. κινειν kinein, „bewegen“), nennt man die körperlichen Reaktionen wie Blässe, Schwindel, Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen, die durch ungewohnte Bewegungen etwa in einem Verkehrsmittel oder in einem Wolkenkratzer ohne ausreichende Schwingungstilgung ausgelöst werden können. Seekrankheit, Luftkrankheit, Raumkrankheit oder die Landkrankheit von Seeleuten auf Landgang sind bekannte Varianten. Passive Bewegung in Reisebussen, Autos, Zügen mit Neigetechnik, Flugzeugen, Achterbahnen kann ebenso gut die Symptome hervorrufen. Charakteristisch ist, dass die Fahrer des jeweiligen Fahrzeugs so gut wie nie von Reisekrankheit geplagt sind.

Auch in Fahr- und Flugsimulatoren und Erlebniskinos sowie beim Spielen von Ego-Shootern<ref>3-D-Kino – Nicht schlecht – nur wird mir schlecht! auf: Spiegel Online. 29. März 2010.</ref> kann es zum Auftreten derselben Symptome kommen. Erstere Form der Kinetose wird als Simulator Sickness (Simulatorkrankheit) bezeichnet; relativ neu sind Erkrankungsfälle unter Computerspielern (Gaming Sickness oder Spielübelkeit).

Die Symptome verschwinden jeweils in den allermeisten Fällen, sobald die Bewegung aufhört, spätestens nach zwei bis drei Tagen, auch ohne Behandlung.

Symptome

Im Vorstadium empfindet der Betroffene leichtes Unwohlsein, leichtes Frösteln, kalten Schweiß und ein leicht drückendes Gefühl in der Magengegend. Er wirkt müde bis schläfrig und desinteressiert, reagiert langsamer, spricht weniger, ist etwas blass im Gesicht. Im Blut steigen die Spiegel der Stresshormone. Bei zunehmender Reisekrankheit entstehen kalter Schweißausbruch, Gähnen, Müdigkeit, Schläfrigkeit, Abgeschlagenheit, geistige Leere, Arbeitsunlust, Desinteresse bis hin zur Lethargie, Kopfschmerzen, Schwindel, Zwangsschlucken, Brechreiz, Sodbrennen und Erbrechen. Sowohl Rötung als auch Blässe und kalter Schweiß im Gesicht (infolge des gesteigerten Tonus der parasympathischen Anteile des vegetativen Nervensystems) können folgen. Erbrechen bringt nur kurze Erleichterung. Die Magen-Darm-Funktionen sind reduziert. Blutuntersuchungen zeigen, dass Stresshormone und ADH ausgeschüttet werden. Die wellenförmig an- und abschwellenden Beschwerden können tagelang anhalten. Schwere Seekrankheit ist begleitet von extremem Unwohlsein, Erbrechen bis zur völligen Magenleere (und bei längerem Anhalten des Erbrechens Dehydrierung), schwerer Depression und dem Gefühl, am liebsten sterben zu wollen. In besonders schweren Fällen müssen Patienten sogar festgebunden werden, damit sie nicht über Bord springen. In seltenen Fällen kann Reisekrankheit bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Beschwerden zum Tod führen.

Anfälligkeit

Jeder Mensch kann in jeder Phase seines Lebens von Reisekrankheit betroffen sein. Auch Seeleute, die ein Leben lang unbehelligt zur See gefahren sind, können plötzlich seekrank werden. Die alltägliche Erfahrung zeigt, dass Intensität, Frequenz und Dauer der passiven Bewegung für die Entwicklung der Reisekrankheit wesentlich sind. Studien zufolge variiert die Reaktion außerdem mit der Hauptbewegungsachse (vertikale Bewegungen werden schlechter vertragen als horizontale) und der Position der Versuchspersonen (sitzend, liegend etc.). Obwohl die individuelle Neigung zur Reisekrankheit sehr unterschiedlich ausfällt, lassen sich durch entsprechend harte Versuchsbedingungen bei jedem Menschen mit gesundem Gleichgewichtsorgan Symptome auslösen. Shepard<ref>N. T. Shepard, W. Lockette, T. Boismier: Genetic predisposition to motion sickness. Proc Bárány Soc Meeting, Uppsala 1994, S. 52.</ref> vermutet, dass unempfindliche Menschen eine geringere Ausprägung des α2-Adrenozeptors aufweisen. Die Anfälligkeit ist stark altersabhängig: Kinder unter zwei Jahren sind kaum empfindlich, im Alter von 12 wird ein Maximum erreicht, danach sinkt die Neigung zur Reisekrankheit wieder ab. Die Empfindlichkeit von Frauen und Männern unterscheidet sich Erfahrungen der NASA zufolge nicht. Psychologische Faktoren wie die Introversion und Stresstoleranz der Versuchspersonen wirkten sich relativ schwach aus.

Mindestens 50 % der Militärpiloten werden während der Ausbildung luftkrank, anderes fliegende Personal auch später im Berufsleben. Flugsimulatoren verursachen Symptome bei 10-60 % der Flugschüler, im militärischen Kontext bis zu 88 %. Nur ein geringer Prozentsatz (3–11 %) bricht die Ausbildung deshalb ab. Auf Schiffen schwankt die Inzidenz der Erkrankung je nach Situation zwischen 1 und 100 %. Härteste Bedingungen herrschen z. B. in fensterlosen Freifallrettungsbooten. Auf großen Wasserfahrzeugen sind Personen an Bug und Heck stärker betroffen. Virtuelle Realität konnte einer Studie<ref>E. C. Regan, K. R. Price: The frequency of occurrence and severity of side effects of immersion virtual reality. In: Aviat Space Environ Med. 1994; 65, S. 527–530, PMID 8074626</ref> zufolge in 61 % der Teilnehmer Reisekrankheit hervorrufen. Raumkrankheit wird übereinstimmend in russischen und amerikanischen Weltraumprogrammen bei 30–67 % der Astro- bzw. Kosmonauten beobachtet; seltener nur bei den jeweiligen Piloten. Passagiere in Pkw sollen zu ca. 20 % betroffen sein; die Datenlage ist hier jedoch schwach. Bezeichnend ist, dass auf einem Schiff, dessen gesamte Besatzung seekrank wird, der Steuermann nicht betroffen ist. Gleichermaßen können auf kurvenreicher Strecke sämtliche Insassen eines Autos reisekrank werden, mit Ausnahme des Fahrers.

Ursachen

Der herrschenden Meinung zufolge entsteht die Reisekrankheit, wenn die Sinnesorgane widersprüchliche Informationen zur räumlichen Lage und Bewegung des Körpers liefern. Andauernde Widersprüche zwischen der so erfahrenen Bewegung und Lage des eigenen Körpers sollen ein Fehlersignal im Hirnstamm auslösen. Offenbar kann das Gehirn sich adaptieren, denn nach zwei bis drei Tagen lassen die Symptome bei den meisten Menschen nach. Die afferenten Bahnen kommen dabei von den Augen, vom Innenohr, und von den Mechanorezeptoren in Muskeln und Gelenken. Widersprüche gibt es entweder zwischen dem Seheindruck und dem Lagesinn des Innenohrs (visuell-vestibularer Konflikt), oder innerhalb des Innenohrs zwischen den Bogengängen und den Beschleunigungssensoren (Kanal-Otolith-Konflikt). Die Seekrankheit auf einem Schiff würde in die erste Kategorie fallen; die zweite Art von Konflikten soll etwa in Achterbahnen oder Kampfflugzeugen zum Tragen kommen. Beispielsweise würde während einer kontinuierlichen passiven Rotation um eine Achse parallel zur Erdoberfläche die Endolymphe in den Bogengängen nach wenigen Sekunden mitrotieren und kein Signal mehr erzeugen, während die Statolithen unverändert beschleunigt werden.

Diese von Guedry<ref>F. E. Guedry: Conflicting sensory orientation cues as a factor in motion sickness. In: Fourth Symposium on the Role of the Vestibular Organs in Space Exploration. National Aeronautics and Space Administration, Washington DC 1970, S. 45–52. NASA Report SP-187.ntrs.nasa.gov</ref> und Reason<ref>J. T. Reason: Motion sickness: A special case of sensory rearrangement. In: Adv Sci. 1970, 26, S. 386–393, PMID 5310912</ref> 1970 entwickelte und seither vielfach geprüfte Hypothese erklärt auch ungewöhnliche Varianten wie etwa die Symptome, die schon durch bloßes Ansehen des Videos einer Achterbahnfahrt entstehen können, oder solche, die an die Schwerelosigkeit gewöhnte Astronauten nach der Rückkehr auf die Erde entwickeln. Unklar ist, ob die körperliche Reaktion auf den neural mismatch. (etwa: neuraler Versatz) einen biologischen Zweck erfüllt, oder ob das Erbrechen – eigentlich ein Schutzreflex gegen Vergiftung – irrtümlich ausgelöst wird.

Langsame Rotationen (< 0,4 Hz) verursachen wesentlich stärkere Beschwerden als solche > 1 Hz. Viele Studien haben versucht, einzelne Stimuli exakt auszuwerten. So soll auf Schiffen z. B. die Beschleunigung, deren Vorhersehbarkeit, die Periode der Bewegung, Wellenhöhe, Wellenlänge im Verhältnis zur Schiffslänge und das daraus erzeugte Rollen und Stampfen des Schiffes in einen Algorithmus zur Berechnung der Symptomhäufigkeit eingehen.<ref>Harald Melwisch: Seekrankheit mathematisch berechnet</ref>

Die Lage des hypothetischen „Fehlerzentrums“ im Gehirn, welches die Sinneseindrücke vergleicht und die vegetative Reizung verursacht, ist unklar. Theorien favorisieren die Vestibulariskerne im Mittelhirn und den Flocculus in Kleinhirn. Sicher ist jedoch nur, dass die gesamte Reaktion ohne Beteiligung des Großhirns abläuft. Auch die Chemorezeptoren in der Area postrema, die bei einer Vergiftungsreaktion das Brechzentrum reizen, sind Tierversuchen zufolge bei der Reisekrankheit nicht beteiligt.

Vorbeugung

Neuartige Schiffsrümpfe können durch geeignete Formgebung die kritischen 0,1-0,3 Hz Stampfbewegungen verringern. Große Schiffe sind zudem weniger anfällig als kleine. Schiffsstabilisatoren sind ebenfalls nützlich. In Schiffen und Flugzeugen sollte den Passagieren möglichst die Sicht auf den unbeweglichen Horizont ermöglicht werden. Bei ersten Anzeichen scheint es günstig zu sein, sich hinzulegen und die Augen zu schließen. Wenn möglich, sollte der Betroffene das Steuer übernehmen. Tätigkeiten mit konzentriertem Sehen, wie Lesen oder Fernsehen, sollten vermieden werden. Professionelle Pilotenausbildungen beinhalten manchmal systematische Desensitivierungsprogramme mit Stimuli in steigender Intensität.

Behandlung

Medikamente

Unter den verschreibungspflichtigen Medikamenten hat Scopolamin die schnellste Ansprechrate und die beste Wirksamkeit, erkauft durch Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Sehstörungen und Mundtrockenheit.<ref>Spinks, Wasiak: Scopolamine (hyoscine) for preventing and treating motion sickness. Cochrane Database of Systematic Reviews, 15. Juni 2011.</ref><ref>Eva Neumann: Was am besten gegen die Reisekrankheit hilft. In: Die Welt, 19. Mai 2010.</ref> Es sind Tabletten, Injektionen, und langzeitwirksame transdermale Pflaster im Handel. Kinder und alte Menschen vertragen Scopolamin schlecht; eine wichtige Kontraindikation ist das Engwinkelglaukom.<ref>Alexandra Kirsten: Kinetose: Was hilft gegen Übelkeit auf Reisen? In: Apotheken Umschau, 6. Februar 2015.</ref> Auch manche H1-Antihistaminika wie Dimenhydrinat oder Neuroleptika wie Promethazin haben im Gehirn anticholinerge Wirkungen und Nebenwirkungen, allerdings schwächer als Atropin und Scopolamin.<ref>Stiftung Warentest: Mittel gegen Reisekrankheit: Hilfe gegen Übelkeit. 24. Juni 2010.</ref> Auch diese Arzneimittel sind für akut Erkrankte in Form von Injektionen verfügbar. Die Droge Amphetamin wurde im Zweiten Weltkrieg an die Soldaten ausgegeben; heute kann Ephedrin in ausgewählten und schweren Fällen eingesetzt werden. Andere Substanzen, die sonst gegen Übelkeit verabreicht werden, wie Metoclopramid und Ondansetron sind gegen die Reisekrankheit nicht wirksam.

Rezeptfreie, allerdings apothekenpflichtige Medikamente enthalten meist Dimenhydrinat.<ref>Stiftung Warentest: Mittel gegen Reisekrankheit (rezeptfrei in der Apotheke). 2. Juli 2004.</ref> Neben Tabletten gibt es auch antihistaminhaltige Kaugummis.

Andere Therapien

Ingwer hat eine antiemetische Wirkung. Er wird in Form von kleinen Scheibchen von der rohen Wurzel gekaut, als Pulver oder in Tablettenform eingenommen.<ref>Reise- und Seekrankheit: Ingwer lindert Übelkeit br.de, 1 Juli 2015.</ref> Mit der Medikation kann schon am Vortag begonnen werden. Er gilt als nebenwirkungsarm, sollte jedoch von Menschen mit Magengeschwüren und Gallensteinleiden nicht verwendet werden. In einer kleinen doppeltblinden Studie, die an 80 Seekadetten durchgeführt wurde, reduzierte Ingwer im Vergleich zum Placebo signifikant das Auftreten von Erbrechen.<ref>A. Grøntved, T. Brask, J. Kambskard, E. Hentzer:Ginger root against seasickness. A controlled trial on the open sea. In: Acta Otolaryngol. 1988; 105, S. 45–49, PMID 3277342</ref>

Brillen, die einen künstlichen Horizont erzeugen, indem die Gläser zweiwandig sind und im Zwischenraum etwa zur Hälfte eine Flüssigkeit eingebracht ist, zeigen dem Träger die Richtung des Beschleunigungsvektors an.<ref>Lea Sibbel: Seekrankheit: Übel, übel, übel. Spiegel Online, 2. Februar 2015.</ref> Zu diesem Produkt gibt es jedoch keine nachprüfbare Wirkungsnachweise.

Literatur

  • A. Benson: Motion sickness. (PDF) In: K.B. Pandoff (Hrsg.): Medical Aspects of Harsh Environments. Band 2. United States Government Printing, 2002, ISBN 0-16-051184-4.
  • Viktor Dahms: Kotzfibel: Eine Handreichung für den Segler. Guhl, Rohrbach 1996, ISBN 3-930760-22-3.
  • Behrang Keshavarz, Heiko Hecht: Validating an Efficient Method to Quantify Motion Sickness. In: Human Factors. 53, 2011, S. 415–426.
  • Hans Scherer (Hrsg.) (2007). Gleichgewichtssinn: Neues aus Forschung und Klinik. Springer, Wien/ New York, ISBN 978-3-211-75431-3.
  • F. Schmäl, W. Stoll: Kinetosen. In: HNO. 48, 2000, S. 346–356.

Einzelnachweise

<references />