Eurozentrismus


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Ungewohntes Bild der Welt, da nicht eurozentrisch

Unter Eurozentrismus versteht man die ideologische Beurteilung inner- und außereuropäischer Gesellschaften nach europäischen Vorstellungen; demnach auf der Grundlage der von Europäern entwickelten Werte und Normen. Diese Wertvorstellungen, Kategorienbildungen und Überzeugungen nehmen im Eurozentrismus als Maßstab das alleinige Zentrum des Denkens und Handelns ein.<ref>IIKD Glossar: Eurozentrismus</ref> In diesem Sinne umfasst der Begriff Eurozentrismus nicht nur das geografische Europa, sondern alle „neoeuropäischen“ Staaten in Nordamerika, Südafrika und Australien.<ref>vgl. Shohat/Stam 1994: 1</ref> Eurozentrisches Denken ist seit der Kolonialzeit vielfach die treibende Kraft für den sozialen und kulturellen Wandel in den meisten menschlichen Gesellschaften der Welt.

Manifestationen des Eurozentrismus heute

  • Nach Edward Goldsmith sind die Begriffe Wohlstand, Lebensstandard, Armut, Fortschritt, Wirtschaft, Wachstum oder Kultur heute im Zusammenhang mit der Globalisierung der westlichen Lebensweise im Wesentlichen eurozentrisch geprägt.<ref>Edward Goldsmith: Der Weg. Ein ökologisches Manifest. 1. Auflage, Bettendorf, München 1996, S. 201ff</ref>
  • Wenn man von Ländern der so genannten Dritten Welt spricht oder wenn Begriffe wie „Unterentwicklung“, „Entwicklungsprozesse“ und „Entwicklungshilfe“ fallen, wird unbewusst suggeriert, dass sich diese Länder so entwickeln und so werden müssen wie Europa.<ref>vgl. Kohl 1993: 152</ref>
  • Lexika, Schulbüchern, den Medien, wissenschaftlichen Theorien etc. liegt oft eine eurozentrische Sichtweise zu Grunde.<ref name="amin_vii_f">vgl. Amin 1989: vii f</ref>
  • Eurozentrisches Denken erkennt zwar die kulturellen und materiellen Erzeugnisse von Nicht-Europäern an, nicht aber ihre Leistung und ihren Eigenverdienst. Stattdessen wird der Einfluss Europas auf die Erfolge anderer Regionen betont.<ref name="SS94_3" />
  • Geographische Bezeichnungen wie „Naher“, „Mittlerer“ und „Ferner Osten“ sind von Mitteleuropa aus gesehen gewählt.<ref name="SS94_2" />
  • Die übliche Darstellung der Weltkarte ist in der Mercator-Projektion, einer konformen, normalachsigen Zylinderprojektion, bei der sich die Meridiane und Breitenkreise rechtwinklig schneiden und als Geraden dargestellt werden.<ref>vgl. Meyers Grosses Taschenlexikon in 25 Bänden 2001, Bd. 14: 256</ref> Dadurch erscheinen Regionen wie Europa, Nordamerika und Nordasien, die weiter vom Äquator entfernt sind, überproportional groß. Als Gegenentwurf entwickelte Arno Peters die Peters-Projektion.
  • Europa wird in aller Regel zentral in der Mitte der Weltkarte dargestellt. Es wurden jedoch auch alternativ ausgerichtete Karten entwickelt.
  • In der Berechnung der Zeitzonen bildet London den Referenzpunkt.<ref name="SS94_2" />

Historische Belege

Frühe eurozentrische (oder eurozentristische) Ausprägungen finden sich unter anderem bereits in alten Enzyklopädien. So schreibt beispielsweise Zedler 1741 zum Lemma Europa:

„Obwohl Europa das kleinste unter allen 4 Theilen der Welt ist, so ist es doch um verschiedener Ursachen willen allen übrigen vorzuziehen. […] Es hat an allen Lebensmitteln einen Ueberfluß. Die Einwohner sind von sehr guten Sitten, höflich und sinnreich in Wissenschafften und Handwercken.“<ref>Europa. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Band 8, Leipzig 1734, Spalte 2192–2196. – Zitat Spalte 2195 unten</ref>

In der Brockhaus Enzyklopädie von 1854 heißt es zum Stichwort Europa, Europa sei seiner

„[…] terrestrischen Gliederung wie seiner kulturhistorischen und politischen Bedeutung nach unbedingt der wichtigste unter den fünf Erdtheilen, über die er in materieller, noch mehr aber in geistiger Beziehung eine höchst einflussreiche Oberherrschaft erlangt hat.“

Definitionsversuche und Meinungen verschiedener Autoren

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Samir Amin, seit den 1980er Jahren Gewährsmann der Eurozentrismus-Kritik

Ella Shohat und Robert Stam charakterisieren den eurozentrischen Diskurs als komplex, widersprüchlich und historisch unbeständig.<ref name="SS94_2">vgl. Shohat/Stam 1994: 2</ref> Dementsprechend sind die Quellen – vor allem zur Entstehung des Paradigmas – teilweise uneinig.

Dieter Haller definiert Eurozentrismus wie folgt:

„Von Eurozentrismus spricht man, wenn die europäische Kultur den Bewertungsmaßstab darstellt.“<ref name="haller_2005_17">Haller 2005: 17</ref>

Europa (bzw. der Westen) selbst wird nach Georg Hansen als zivilisiert angesehen, die anderen Weltgegenden dagegen als „barbarisch“. Als zentrale Merkmale der Zivilisation werden unter anderem die Entstehung städtischer Zentren, Staatenbildung und Universitäten (als Wissenschaftszentren) gesehen. Von Eurozentrismus wird gesprochen, wenn sich eine Europäerin oder ein Europäer anderen gegenüber überlegen fühlt, weil diese Dinge in deren Herkunftsländern – und sei es auch nur vermeintlich – nicht ausgebildet sind.<ref>vgl. Hansen 1993: 14</ref>

Laut Karl-Heinz Kohl muss Eurozentrismus nicht in allen Fällen zur Bevorzugung der eigenen kulturellen Gewohnheiten führen, sondern auch zum kritischen Infragestellen derselben und unter Umständen zur Idealisierung des Fremden.<ref name="kohl_2000_32">vgl. Kohl 2000: 32</ref>

Samir Amin sieht im Eurozentrismus nicht die Summe der Vorurteile und Fehler der Europäer im Bezug auf andere Völker. Diese Vorurteile sind nach seiner Auffassung nicht stärker als diejenigen, die andere Völker gegenüber den Europäern haben. Amin beschreibt Eurozentrismus als ein kulturelles Phänomen, das von der Existenz unumstößlicher kultureller Konstanten ausgeht, welche die geschichtliche Entwicklung verschiedener Völker beeinflussen. Somit sei Eurozentrismus anti-universalistisch, da er nicht nach möglichen allgemeinen Gesetzen der menschlichen Evolution suche. Aber er gebe sich als universalistisch aus, da er behaupte, die einzige Lösung der heutigen Probleme sei es, dass alle Völker dem westlichen Modell nacheiferten.<ref name="amin_vii">vgl. Amin 1989: vii</ref> Eurozentrismus sei keine Gesellschaftstheorie, sondern eine Verzerrung der Sicht auf die Welt, die der Mehrheit der vorherrschenden Gesellschaftstheorien und Ideologien zugrunde liegt. Es handele sich somit um ein sehr einflussreiches Paradigma, das aus sich selbst heraus funktioniere und sich oft in Grauzonen scheinbar augenscheinlicher Fakten und Allgemeinwissens bewege.<ref>vgl. Amin 1989: viiff.</ref>

Kolja Lindner differenziert am Beispiel von Marx vier Dimensionen des Eurozentrismus: einen Ethnozentrismus, der die Überlegenheit westlicher Gesellschaften behauptet (s.u.), einen ‘orientalistischen’ Blick auf nicht-westliche Weltgegenden (anschließend an Edward Said), ein Entwicklungsdenken, das europäische Geschichte als Vorbild für weltweite Entwicklungen universalisiert, und eine Unterschlagung nicht-westlicher Geschichte bzw. ihres Einflusses auf die Entwicklung Europas (anschließend an Ansätze aus der Globalgeschichte).<ref>vgl. Lindner 2011: 95f</ref>

Annahmen des Eurozentrismus

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Die Demokratie wird vorwiegend auf die europäischen Kulturen zurückgeführt. Das „Great Law of Peace“ des Irokesenbundes – einer sehr alten demokratischen Verfassung – wird höchstens als Randnotiz erwähnt.

Demokratie

Aus eurozentrischer Sicht wird Europa als Verbreiter der Demokratie dargestellt und definiert sich selbst über seine besten Errungenschaften und Leistungen in Wissenschaft, Entwicklung und Humanismus.<ref name="SS94_3">vgl. Shohat/Stam 1994: 3</ref> Dabei werden durch einen selektiven Blick auf die Geschichte Gegenbeispiele wie Hitler, Mussolini und Torquemada genauso ignoriert, wie nicht-europäische Beispiele für Demokratie.<ref name="SS94_2" />

Kapitalismus und Moderne

Eurozentristische Forscher gehen davon aus, dass das Aufkommen der kapitalistischen Moderne allein der Wegbereitung durch die Europäer – ohne jegliche Hilfe der Nicht-Europäer – anzurechnen ist.<ref>vgl. Hobson 2007: 109</ref>

Geschichtliche Entwicklung

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Die gefühlte Allmacht der Kolonialmächte war ein entscheidender Nährboden für die weltweite Verbreitung eurozentrischen Denkens

Nach Shohat und Stam ist der eurozentristische Diskurs durch einen linearen historischen Verlauf gekennzeichnet, der vom als „rein“, „westlich“ und „demokratisch“ konstruierten klassischen Griechenland über das Römische Kaiserreich zu den Metropolen Europas und der USA führt. Immer wird Europa als Motor fortschrittlicher Entwicklungen gesehen (z.B. Demokratie, Klassengesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, industrielle Revolution).<ref name="SS94_2" />

Kochanek sieht den Eurozentrismus als Resultat eines langen Prozesses. In seiner Habilitationsschrift untersucht er historisch das Bild des Nordens und die Konzeption des Eurozentrismus und beginnt dabei zeitlich in der Antike. Während der Norden im Alten Testaments nach der Konzeption des Nordens gleichzeitig als heilig und als dämonisch dargestellt wird, aber als Zentrum das „Gelobte Land“ angesehen wird und in der griechischen und römischen Antike vor allem das Bild von unbesiegbaren Barbaren vorherrscht, wird dieses Bild in der Zeit der Völkerwanderungen von einem theologisch-anthropologischen Christozentrismus ersetzt, in dem der Norden nicht mehr so stark abgegrenzt und weniger negativ gesehen wird. Im Mittelalter entstand das Bild des christlichen Europas mit nur einzelnen nicht-christlichen Regionen. Der christliche Gedanke des Missionsauftrags entstand, in welchem ein europäisches, eurozentristisches Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. Somit ist der Eurozentrismus stark vom Christozentrismus beeinflusst.<ref>vgl. Kochanek 2004.</ref>

Blaut bezeichnet Eurozentrismus als das Weltbild der Kolonisatoren („the colonizer’s model of the world“).<ref>Blaut 1993: 10</ref> Auch nach Shohat und Stam entstand Eurozentrismus zunächst als diskursive Grundlage des Kolonialismus, durch den die europäischen Mächte die Hegemonie in weiten Teilen der Welt erlangten.<ref name="SS94_2" />

Amin bezeichnet den Eurozentrismus als ein spezifisches Phänomen der Moderne, dessen Wurzeln zwar bis in die Renaissance reichen, dessen Blütezeit aber im 19. Jahrhundert war. Somit kann es als eine Dimension der Kultur und Ideologie der modernen kapitalistischen Welt betrachtet werden.<ref name="amin_vii" />

Die Unterdrückung durch den Westen in der Geschichte – wie Kolonialismus, Sklaverei und Imperialismus – wird aus eurozentrischer Sicht bisweilen als „Ausnahme und Versehen“ dargestellt und somit wird ihre Rolle bei der Machtgewinnung des Westens heruntergespielt.

Eurozentrismus in den Sozialwissenschaften

Die europäische intellektuelle Tradition der Sozialwissenschaften ist heute die dominierende, wenn nicht gar einzige, die an den Universitäten gelehrt wird. Sie wird somit als Standard gesetzt und andere Traditionen werden dabei vernachlässigt.<ref>Vgl. Chakrabarty 2000: 5</ref>

Obwohl in der Soziologie davon ausgegangen wird, dass man sein eigenes Selbst und somit auch die eigene Gesellschaft nur durch die Betrachtung von außen gänzlich verstehen kann, wird dies in der Wissenschaftspraxis kaum reflektiert.<ref name="hauck_2003_7">Hauck 2003: 7</ref>

„Man glaubt, die Charakteristika der eigenen Gesellschaft erkennen zu können, ohne jemals ernsthaft über den eigenen Tellerrand hinaus geschaut zu haben.“<ref name="hauck_2003_7" />

Auch wenn Sozialwissenschaftler eine gesamtgesellschaftliche Analyse in ihre Forschung einbeziehen, sieht Hauck die Gefahr einer eurozentristischen Sichtweise. Denn oft wird dann bei der Beschreibung des ‚Westens‘ oder der ‚Moderne‘ eine Abgrenzung zu etwas oder jemand ‚anderem‘ vorgenommen.

„Wir sind X, die anderen Nicht-X (Y oder Z).“<ref name="hauck_2003_7" />

Häufig wird über diesen ‚Anderen‘ aber nicht tiefgründig geforscht, stattdessen wird die eigene Gesellschaft dargestellt und das Gegenteil wird auf ‚die Anderen‘ projiziert. In einigen Theorien und Veröffentlichungen wird zwischen den verschiedenen ‚Anderen‘ gar nicht weiter differenziert, wie beispielsweise in der Modernisierungstheorie, wo die ‚Moderne‘ mit den ‚traditionellen Gesellschaften‘ in Kontrast gesetzt wird, welche nicht weiter voneinander unterschieden werden. Und auch wenn weiter differenziert wird, bedeutet das nicht unbedingt eine tiefgehende historische Prüfung der Darstellungen der ‚Anderen‘.<ref>Hauck 2003: 7 f.</ref>

Weiterhin sieht Hauck es als problematisch an, dass die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse naturalisiert werden, was vor allem ökonomischen Theorien oft zu Grunde liegt.<ref>vgl. Hauck 2003: 8</ref>

Eurozentrismus findet sich auch in einigen Evolutionstheorien. Dabei handelt es sich um Theorien, die davon ausgehen, dass der gegenwärtige Zustand der eigenen Gesellschaft Maß und Ziel der anderen Gesellschaften ist (z.B. Comte, Spencer, Stalin, Rostow). Es wird von einer kumulativen Entwicklung ausgegangen, wobei die eigene Gesellschaft stets die von allen Gesellschaften am höchsten entwickelte ist.<ref>vgl. Hauck 2003: 9</ref>

Die größten Nährboden für Eurozentrismus sieht Hauck im Naturalismus, also dann, wenn die soziale Realität als selbstverständliche (natürliche) Gegebenheit angesehen wird:

„Methodisch erscheint als wichtigstes Einfallstor für den Eurozentrismus in den Sozialwissenschaften die Wissenschaftsauffassung, die Alfred Schütz als „Naturalismus“ charakterisiert und kritisiert hat.“<ref>Hauck 2003: 11</ref>

Dadurch werden Intersubjektivität, Interaktion, Interkommunikation und Sprache als gegeben angesehen und nicht hinterfragt. In den Sozialwissenschaften kann das zur Konsequenz haben, dass man eine Handlung beurteilt, ohne die Bedeutung, den Sinn für die handelnde Person zu hinterfragen. Handlungen werden also mit dem eigenen kulturellen Hintergrund interpretiert, was das Risiko birgt, dass die Bedeutungen, die andere Kulturen Handlungen zuschreiben nicht ausreichend verstanden und fehlinterpretiert werden.<ref>Hauck 2003: 11f</ref>

Hauck kommt nach näherem Betrachten der Theorien von Comte, Mill, Pareto und Durkheim zu dem Schluss, dass aller soziologischer Positivismus Naturalismus und somit sehr anfällig für eine unreflektierte eurozentristische Sichtweise ist.<ref>Hauck 2003: 20ff.</ref>

Kritik am Eurozentrismus

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Die Menschenrechte: Historisch eurozentrisch, aktuell jedoch universell gültig

„Mit dem Anspruch, das Fremde in Begriffen des Eigenen zu übersetzen (Alterität), riskiert man aber, sowohl das Rätsel des Fremden als auch die Möglichkeit, dass aus der Warte einer fremden Lebensform etwas zu sehen ist, das aus der eigenen Warte überhaupt nicht zu entschlüsseln ist (Alienität), zu verlieren.“<ref name="haller_2005_17" />

Eurozentristisches Denken wird vielfach kritisiert. Moderne Anhänger des Konzepts relativieren es gern als eine Variante des Ethnozentrismus, der (in diversen Schattierungen) bei allen menschlichen Gesellschaften zu beobachten sei, beispielsweise im Selbstbild des chinesischen Kaiserreichs als „Reich der Mitte“, das sich als überlegener Mittelpunkt der Welt betrachtet und auf die umgebenden „barbarischen Völker“ herabgesehen habe (Sinozentrismus). Dabei entfallen allerdings einige konstitutive Merkmale des Eurozentrismus (europäische Expansion, koloniale Penetration, imperialistische Herrschaft, weltweite Dominanz).

Dagegen hat beispielsweise James M. Blaut die geistig-produktive Sphäre der globalen Führungsgesellschaften mit ethnografischen Mitteln untersucht und so die europäische Weltsicht als qualitativ mehr als „just another ethnocentrism“ kenntlich gemacht, nämlich als das aus Expansion und Herrschaftsanspruch erwachsene „colonizer’s model of the world“. Charakteristisch ist allerdings auch bei Blaut die Veräußerung von Irrationalität, Passivität oder Stagnation ans nichteuropäische „Outside“.

Der ägyptische Ökonom Samir Amin hat sich einer umfassenden und grundlegenden Kritik des Eurozentrismus gewidmet. Er betrachtet Eurozentrismus als einen modernen Mythos, der im Wesentlichen anti-universal und herrschaftssichernd motiviert ist. Dabei wird die Rekonstruktion der Geschichte Europas und der Welt im Kontext der ideologischer Konstruktionen des Kapitalismus legitimiert und als vermeintlicher Universalismus dargestellt.

Shohat und Stam setzen sich für einen anti-eurozentristischen Multikulturismus ein. In Unthinking Eurocentrism untersuchen sie, welche Rolle die Medien bei der Reproduktion des Eurozentrismus spielen, aber auch, wie diese genutzt werden können, um dem Eurozentrismus entgegenzuwirken.<ref>Vgl. Shohat/Stam 1994.</ref>

Vor allem von afrikanischen, asiatischen und islamischen Autoren wird der Vorwurf des Eurozentrismus der Menschenrechte erhoben, die nicht den Traditionen aller Kulturen entsprächen. Tatsächlich sind die Menschenrechte zuerst in Europa und Nordamerika als Mittel zur Macht- und Herrschaftsbegrenzung entwickelt worden und demnach eurozentrisch. Laut dem Sozialwissenschaftler Dieter Senghaas wurden die Menschenrechte jedoch offensichtlich nicht in die ursprünglichen „Kulturgene“ Europas eingepflanzt, denn der überwiegende Teil europäischer Geschichte zeige keinerlei Sympathien für das, wofür die Menschenrechte stehen würden.<ref>Yayrator Glover Ist die Universalität der Menschenrechte eine Utopie?. Philosophisches Seminar der Universität Zürich, Willisau (CH) 2002. S. 55.</ref> Die Kritik am Eurozentrismus, vor allem was die Universalität der Menschenrechte betrifft, ist ebenfalls Einwänden ausgesetzt, deren Vertreter sie als Kulturrelativismus ablehnen.

Verwandte Begriffe und Abgrenzungen

Ethnozentrismus

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Der Hamburger: Nahrungsmittel einer eurozentrischen Weltkultur?

Eurozentrismus ist eine spezielle Form des Ethnozentrismus. Von Ethnozentrismus spricht man, wenn das Verhalten anderer aus den Traditionen und Werten der eigenen kulturellen Realität heraus interpretiert wird. Dabei wird – unbewusst – die eigene Gruppe durch Zuschreibung positiver und negativer Eigenschaften von „den Anderen“ abgegrenzt. Die eigene Kultur wird meist wie selbstverständlich als besser empfunden.<ref>vgl. Haller 2005: 17</ref>

Eurozentrismus ist in diesem Sinne kein gewöhnlicher Ethnozentrismus: Die als eigen empfundene Gruppe umfasst in diesem Fall nicht eine bestimmte (historisch gewachsene) Kultur, sondern viele verschiedene Kulturen unterschiedlichster Herkunft, die sich (freiwillig oder unfreiwillig) mit der europäischen Kultur identifizieren. Diese ist durch die christliche Religion geprägt – deren Missionsgedanke vielen anderen Kulturen fremd ist – sowie durch den Kapitalismus. Die Kolonialisierung der Welt und das große Interesse, andere Kulturen von der (angeblichen) Richtigkeit der eigenen Ideologien zu überzeugen, sind vor allem europäische Phänomene.<ref name="kohl_2000_32" />

Gerhard Hauck betont, dass beim Eurozentrismus – in Abgrenzung von anderen Formen des Ethnozentrismus – neben dem Glauben an die Überlegenheit der eigenen Lebensform diese Überlegenheit zudem als wissenschaftlich begründet angesehen wird und sich zudem der „Wille“ und die „Machtmittel“ entwickelt haben, „die ganze Welt nicht nur zu unterwerfen, sondern nach seinem Bilde zu formen.“ Aus ethnologischer Sicht ist Eurozentrismus als integraler Bestandteil der westlichen Kultur anzusehen.<ref>Hauck 2003: 14</ref><ref>Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur: für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. transcript Verlag, 2011. S. 160-162.</ref>

Nationalismus

Eurozentrismus ist auch mit Nationalismus vergleichbar, der die eigene Nation ins Zentrum stellt, im Falle Deutschlands spricht man von Teutozentrismus (auch Germanozentrismus oder Deutschtümelei).<ref>vgl. Hansen 1993.</ref>

Rassismus

Eurozentrismus ist nicht zu verwechseln mit Rassismus. Es ist durchaus möglich, antirassistisch eingestellt zu sein und dennoch eine eurozentrische Sichtweise innezuhaben.<ref>vgl. Shohat/Stam 1994: 4</ref>

Literatur

  • Samir Amin: L’eurocentrisme, critique d’une idéologie. Paris 1988, engl. Eurocentrism, Monthly Review Press 1989, ISBN 0-85345-786-7.
  • Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe - Postcolonial thought and historical difference Princetpn University Press, Princeton, Oxford 2000.
  • Sebastian Conrad, Shalini Randeria (2002): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. ISBN 3-593-37036-0.
  • J.M. Blaut: The Colonizer's Model of the World: Geographical Diffusionism and Eurocentric History . Guilford Press 1993, ISBN 0-89862-348-0.
  • J.M. Blaut: Eight Eurocentric Historians. Guilford Press, 2000, ISBN 1-57230-591-6.
  • Stefan Gandler: Alltag in der kapitalistischen Moderne aus peripherer Sicht. Nicht-eurozentrische Theoriebeiträge aus Mexiko. In: Review. A Journal of the Fernand Braudel Center. Binghamton, N.Y., Jg. XXVI, Nr. 3, Herbst 2003, S. 407-422. ISSN 0147-9032.
  • Dieter Haller: dtv-Atlas Ethnologie, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005, ISBN 3-423-03259-6.
  • Georg Hansen: Ethnozentrismus, Eurozentrismus, Teutozentrismus, VernUniversität 1993.
  • Gerhard Hauck: Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes: wider den Eurozentrismus der Sozialwissenschaften, Münster 2003, ISBN 3-89691-551-7.
  • John Hobson: Revealing the Cosmopolitan Side of Oriental Europe. The Eastern Origins of European Civilisation. In: Gerard Delanty (Hrsg.): Europe and Asia beyond East and West Routledge, London 2007, ISBN 978-0-415-37947-2.
  • Hans-Adolf Jacobsen: Karl Haushofer - Leben und Werk, Harald Boldt Verlag, Boppard 1979.
  • Piotr Kochanek: Die Vorstellung vom Norden und der Eurozentrismus: eine Auswertung der patristischen und mittelalterlichen Literatur Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2004, ISBN 3-8053-3456-7.
  • Karl-Heinz Kohl: Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Beck, München 1993. (3. Aufl. München 2012, ISBN 978-3-406-46835-3)
  • Vassilis Lambropoulos: The rise of eurocentrism: anatomy of interpretation. Princeton Univ. Press, Princeton NJ 1993.
  • Kolja Lindner (2011): "Eurozentrismus bei Marx. Marx-Debatte und Postcolonial Studies im Dialog", in: Bonefeld, Werner; Heinrich, Michael (Hg.): Kapital & Kritik. Nach der "neuen" Marx-Lektüre, Hamburg, VSA-Verlag, S. 93-129.
  • Rajiv Malhotra Being Different: An indian challenge to western universalism. Harpercollins India., Noida 2013.
  • Ella Shohat, Robert Stam: Unthinking Eurocentrism: multiculturalism and the media, Routledge 1994, ISBN 0-415-06325-6.
  • Ngugi wa Thiong'o: Die Befreiung der Kulturen vom Eurozentrismus. In: Moving the Centre. Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen. Unrast, Münster 1995, ISBN 3-928300-27-X.

Weblinks

Einzelnachweise

<references />