Herodot


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Büste von Herodot

Herodot von Halikarnass(os) (griechisch Ἡρόδοτος [Ἁλικαρνασσεύς] transkribiert: Hēródotos [Halikarnasseús],<ref>Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. München/Wien 1965.</ref> * 490/480 v. Chr.; † um 424 v. Chr.) war ein antiker griechischer Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler. Er wurde von Cicero (De leg. 1,5) zugleich als „Vater der Geschichtsschreibung“ (lat. pater historiae) und als Erzähler „zahlloser Geschichten“ (lat. innumerabiles fabulae) bezeichnet. Sein einziges erhaltenes Werk sind die neun Bücher umfassenden Historien, die in Form einer Universalgeschichte den Aufstieg des Perserreichs im späten 6. Jahrhundert v. Chr. und die Perserkriege im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. schildern.

Leben

Herodot wurde in Halikarnassos in Kleinasien, dem heutigen Bodrum, geboren. Er betätigte sich dort politisch und versuchte, den örtlichen Tyrannen Lygdamis zu stürzen. Als dies fehlschlug, ging Herodot nach Samos ins Exil. Aufgrund einer Übereinkunft konnte er einige Zeit später heimkehren, worauf er sich erneut um Lygdamis’ Sturz bemühte – diesmal erfolgreich. Dennoch verließ Herodot kurze Zeit später Halikarnassos für immer und wanderte nach Süditalien in die griechische Kolonie Thurioi aus, an deren Gründung er angeblich sogar beteiligt war. Um 447 v. Chr. kam er für einige Jahre nach Athen, wo er mutmaßlich engen Kontakt zu großen Persönlichkeiten jener Zeit pflegte, darunter Sophokles und Perikles. In Athen hielt er auch Vorlesungen aus seinem Werk, für die er von der Stadt bezahlt wurde. Später kehrte er nach Thurioi zurück.

Herodot unternahm nach eigener Aussage ausgedehnte Reisen mit unsicherer Chronologie: Nach Ägypten, ins Schwarzmeergebiet, nach Thrakien und Makedonien bis ins Skythenland, in den Vorderen Orient bis nach Babylon, aber wohl nicht ins eigentliche Persien. Einige Forscher (die so genannte Liar school) bezweifeln diese Angaben allerdings und betrachten Herodot als „Stubengelehrten“, der die griechische Welt in Wahrheit nie verlassen habe.

Seine oben genannten Lebensdaten sind weitgehend aus seinem Werk und einigen verstreuten Notizen bei späteren Autoren rekonstruiert. Herodot starb wohl kurz nach der Veröffentlichung seines Werks und soll in Thurioi begraben worden sein. Schon in der Antike aber waren Erzählungen verbreitet, wonach sein Grab sich angeblich woanders befunden haben soll.

Der Mondkrater Herodotus ist nach ihm benannt.

Herodots Historien

Einleitender Überblick

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Karte zu Herodots „Welt“.

Als ein Werk von „erstaunlicher Größe und ungeheurer Wirkung“ werden die Historien in der neueren Forschung gewürdigt. Kein anderer Autor des Altertums habe sich so wie Herodot darum bemüht, seinem Publikum eine Vorstellung von der Vielfalt der ganzen Welt, wie er sie sah, zu vermitteln: von den verschiedenen Völkern in ihren Lebensräumen, von ihren jeweiligen Sitten und kulturellen Leistungen.<ref>Vgl. Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 11.</ref> Ursprünglich trug Herodot dem Publikum vielleicht einzelne, inhaltlich in sich geschlossene Abschnitte (so genannte lógoi) vor. Wann die Historien publiziert wurden, ist in der Forschung umstritten und kann kaum eindeutig beantwortet werden. Es gibt sichere inhaltliche Bezüge auf Ereignisse des Jahres 430 v. Chr., wohl auch indirekte Anspielungen auf Ereignisse im Jahr 427 v. Chr. Ungeklärt ist, ob andere Aussagen auf Geschehnisse im Jahr 424 v. Chr. Bezug nehmen.<ref>Vgl. dazu Reinhold Bichler: Herodots Welt. 2. Auflage, Berlin 2001, S. 377, Anmerkung 204.</ref>

Den Dreh- und Angelpunkt der Historien bildet die abschließende Beschreibung der Perserkriege, wie Herodot bereits eingangs darlegt:

„Dies ist die Darlegung der Forschung (griech. Historie) des Herodot aus Halikarnassos, damit die Taten der Menschen nicht durch die Zeitläufe vergehen, damit die großen und bewundernswerten Taten nicht ruhmlos vorübergehen, die auf der einen Seite von den Griechen und auf der anderen Seite von den Barbaren an den Tag gelegt wurden. Das alles hat er dargelegt, sowie aus welcher Ursache sie einander bekriegt haben.“

Proömium von Herodots Historien
Datei:Herodotus, Histories, with marginalia by Lorenzo Valla, Vat. gr. 122, fol. 41r und 122r.jpg
Herodots Historien in einer Handschrift mit eigenhändigen Korrekturen des Humanisten Lorenzo Valla am Rand. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Gr. 122, fol. 41r und 122r (frühes 15. Jahrhundert)

Politiktheoretisch bedeutsam ist auch aus moderner Sicht die in den Historien enthaltene Verfassungsdebatte, in der die antiken Staatsformen gegeneinander abgewogen werden.<ref>Herodot 3, 80–84, griechischer Text mit Übersetzung</ref> Sie bietet unter anderem der Demokratieforschung frühe Ansatzpunkte.

Für sein Werk sammelte Herodot über viele Jahre Berichte von Chronisten, Händlern, Soldaten und Abenteurern und rekonstruierte auf dieser Basis so komplexe strategische Vorgänge wie den Kriegszug des Xerxes gegen Griechenland oder die berühmte Schlacht bei Salamis. Ähnlich wie Hekataios von Milet bereiste Herodot nach eigenen Angaben viele der fernen Länder, über die er berichtete, selbst. Sein Wirken setzte Maßstäbe im Übergang zur Schriftkultur in der griechischen Antike und war zugleich noch stark geprägt durch Ausdrucksformen der mündlichen Überlieferung.

Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis bietet der
Hauptartikel: Historien des Herodot

Glaubwürdigkeit und Quellenwert

Über die Frage der Glaubwürdigkeit des Herodot herrscht bereits seit antiken Zeiten Uneinigkeit. Die einen sehen in ihm einen methodisch für seine Zeit erstaunlich gut arbeitenden Berichterstatter; andere meinen, er habe vieles erfunden und täusche Augenzeugenschaft nur vor. Bis heute hat sich dazu in der Forschung keine einheitliche Meinung herausgebildet.

Der Quellenwert der Historien ist folglich anhaltend umstritten. Für viele Ereignisse stellt Herodot die einzige Quelle dar, was der seit langem geführten Diskussion über die Zuverlässigkeit seiner Angaben besonderes Gewicht verleiht.<ref>Zusammenfassung der Forschung etwa bei Antonios Rengakos: Herodot. In: Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. München 2011, hier S. 345–349.</ref> Welche Quellen Herodot heranzog, ist nicht immer sicher zu sagen.<ref>Vgl. als Überblick die Beiträge in Boris Dunsch, Kai Ruffing (Hrsg.): Herodots Quellen – Die Quellen Herodots. Wiesbaden 2013 sowie Simon Hornblower: Herodotus and his Sources of Information. In: Egbert J. Bakker, Irene J. F. de Jong, Hans van Wees (Hrsg.): Brill’s Companion to Herodotus. Leiden 2002, S. 373–386.</ref> Nach seinen eigenen Aussagen ist davon auszugehen, dass er sich vor allem auf die eigenen Reiseerfahrungen stützte, wobei allerdings diese Reisen in der Forschung teils in Frage gestellt werden,<ref>Belege bei Antonios Rengakos: Herodot. In: Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. München 2011, hier S. 346.</ref> sowie auf Berichte von örtlichen Gewährsmännern. Detlev Fehling betrachtete die Quellen Herodots sogar weitgehend als fiktiv und dessen Nachforschungen vor allem als literarisches Konstrukt.<ref>Detlev Fehling: Die Quellenangaben bei Herodot. Studien zur Erzählkunst Herodots. Berlin 1971.</ref> Herodot hat auch verfügbare schriftliche Quellen herangezogen, darunter vielleicht Dionysios von Milet, sicher aber Hekataios von Milet.<ref>Antonios Rengakos: Herodot. In: Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. München 2011, hier S. 346f. Vgl. auch Robert Fowler: Herodotos and His Contemporaries. In: The Journal of Hellenic Studies 116 (1996), S. 62–87.</ref>

Herodot widmete sich unter anderem dem Ziel, die orientalischen Hochkulturen, insbesondere Ägypten, genauer zu betrachten. Bekannt sind seine Erklärungen zum Pyramidenbau und zur Mumifizierung. Seine Quellen waren, wenn man seinen Reisebericht für glaubwürdig hält, wohl vor allem die ägyptischen Priester, doch sprach Herodot selbst kein Ägyptisch. In der Forschung generell umstritten ist, wie sorgfältig Herodot im Einzelfall verfuhr, zumal gerade die mündliche Überlieferung sowie ein Bezug auf Inschriften (deren Texte Herodot nur in Übersetzung lesen konnte) problematisch ist.<ref>Zusammenfassend zur Glaubwürdigkeit und Quellen den gestrafften Forschungsüberblick bei Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 130f. und 133ff.</ref> Die Historien sind jedenfalls nicht frei von Fehlern und Irrtümern (falsche Strecken- oder Zahlenangaben, Ortsbestimmungen und Ortsnamen); dabei gelingen Herodot oft sehr eindringliche Schilderungen großer Zusammenhänge, aber auch kleinerer Randbegebenheiten. Fehlerhafte Angaben finden sich etwa in Bezug auf die ältere vorderorientalische und persische Geschichte. Herodots Darstellung der ihm zeitlich nächstgelegenen Perserkriege wird in der Forschung zum Teil ebenfalls kritisch betrachtet, zumal Ungenauigkeiten bzw. falsche Angaben nachweisbar sind, so z. B. bezüglich der Truppenstärken oder bestimmter chronologischer Einzelheiten.

Herodot würzte sein Werk mit Anekdoten und gab auch mehr oder weniger fiktionale bzw. novellenhafte Erzählungen wieder – nicht zuletzt, um sein Publikum zu unterhalten. Dazu zählt unter anderem sein bekannter Bericht über beinahe hundsgroße, nach Gold schürfende Ameisen in Indien;<ref>Herodot 3, 102. Vgl. dazu auch Reinhold Bichler: Herodots Welt. 2. Auflage, Berlin 2001, S. 25f.</ref> der Erzählung kam zugute, dass Indien den Griechen ohnehin als ein (halbmythisches) „Wunderland“ erschien. Auf das Ganze gesehen behandelte Herodot eine Vielzahl von Themen unterschiedlichster Art (beispielsweise Geographie, Völker, Kulte und bedeutende Herrscher), wobei sein „geographischer Horizont“ besondere Beachtung gefunden hat, wenngleich er durchaus auf Vorlagen zurückgreifen konnte (etwa Hekataios von Milet).<ref>Zum Aufbau des Werks und allgemeinen Charakteristika siehe Felix Jacoby: Herodotos. In: RE Supplementband 2 (1914), hier Sp. 281ff.; Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 13ff.; Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Stuttgart 1990, S. 25ff.</ref>

Rezeption in der Antike

Herodots Schriften wurden schon bald nach ihrer Veröffentlichung als eine neue Form der Literatur anerkannt. Sein Prosawerk ist zudem auf einem hohen literarischen Niveau verfasst, so dass sein Stil noch nachhaltigen Einfluss auf die antike (besonders die griechische) Geschichtsschreibung bis in die Spätantike ausüben sollte (unter anderem Prokopios).<ref>Grundlegend zu Herodots Werk ist Felix Jacobys RE Artikel Herodotos. Zur Nachwirkung vgl. die Bemerkungen bei Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, hier S. 114ff.</ref>

Einige Zeit nach Herodot verfasste Ktesias von Knidos eine Persische Geschichte (Persika), von der jedoch nur Fragmente erhalten sind.<ref>Zu seinem Werk vgl. Josef Wiesehöfer, Robert Rollinger, Giovanni Battista Lanfranchi (Hrsg.): Ktesias’ Welt. Ctesias’ World. Wiesbaden 2011.</ref> Ktesias jedenfalls kritisierte explizit Herodot und wollte ihn „korrigieren“. Das Ergebnis war jedoch eine deutlich unzuverlässigere Darstellung der Geschichte Persiens, die stark romanhafte Züge trug. Thukydides hingegen verfasste mit seiner bedeutenden Geschichte des Peloponnesischen Kriegs ein zeitgeschichtliches Werk, in dem er in bewusster Abgrenzung zu Herodot auf eine möglichst genaue Prüfung der Ereignisse Wert legte und diesbezüglich recht kritisch verfuhr (vgl. Thukydides 1,20f.).<ref>Zusammenfassender Überblick zu Person und Werk bei Antonios Rengakos: Thukydides. In: Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. München 2011, S. 381–417.</ref> Thukydides wurde zum Begründer einer (mehr oder minder) pragmatisch-analytischen Geschichtsschreibung, die in gewisser Weise einen Gegenentwurf zu Herodots Methodik darstellt: Ein wesentlicher Unterschied bestand darin, dass sich Thukydides in der Regel für jene Variante entschied, die er für plausibel hielt, und nicht wie Herodot verschiedene Versionen derselben Vorgänge bot. Sowohl Herodot als auch Thukydides begründeten jedoch die Form der griechisch-römischen Historiographie, die erst um 600 n. Chr., am Ende der Antike, ausklang und sich insgesamt betrachtet auf einem hohen intellektuellen und künstlerischen Niveau bewegte.<ref>Zum Ende der Geschichtsschreibung in der Spätantike siehe etwa Gabriele Marasco (Hrsg.): Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A.D. Leiden u. a. 2003.</ref>

„Pater historiae“ – Merkmale von Herodots Geschichtsschreibung

Das Interesse an Herodot – nicht vorrangig als Erzähler vieler kurioser Geschichten, sondern als in der Überlieferung erster großer Historiker mit phänomenalem Forschungshorizont – hat in jüngster Zeit stark zugenommen. Dazu mag beigetragen haben, dass es für Literatur- und Geschichtswissenschaft mit der Kulturwissenschaft neuerdings ein gemeinsames Dach gibt und Herodot in diesem Zusammenhang als erster großer Kulturtheoretiker betrachtet werden kann. Zudem werden seine Berichte durch Quellenforschungen und archäologische Funde im Vorderen Orient teilweise der sachlichen Überprüfung zugänglich. Als Analytiker zwischenstaatlicher Beziehungen im Altertum lässt er sich schließlich auch „als erster Theoretiker und Kritiker imperialistischer Politik neu lesen.“<ref>Einführung. In: Klaus Geus, Elisabeth Irwin, Thomas Poiss (Hrsg.): Herodots Wege des Erzählens. Logos und Topos in den „Historien“. Frankfurt am Main 2013, S. 11–14.</ref>

Sein Methodenrepertoire umfasst eine Spannbreite, die vom persönlichen Nachforschen und kritischer Reflexion bis zu auf Wahrscheinlichkeiten gegründeten spekulativen Vermutungen reicht.<ref>D. Müller, zitiert nach Bichler / Rollinger 2000, S. 160.</ref> Reinhold Bichler sieht in Herodots Werk das Bestreben, „einen Maßstab für die Vorstellung von der eigenen Geschichte zu gewinnen und dies alles in einer Zusammenschau zu erfassen und darzustellen, deren erzählerische Anmut ihrem geschichtsphilosophischen Gehalt ebenbürtig ist.“ <ref> Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 11.</ref>

Universalhistorisches Ausgreifen in Zeit und Raum

Die für den Aufbau der Historien maßgebliche umfassende Perspektive trägt zur Bedeutung des Werkes wesentlich bei. Dabei folgen Herodots Angaben sowohl zu Chronologie und Datierung als auch zu Ortsbestimmungen und räumlichen Entfernungen einem nachvollziehbaren Ansatz zu abgestufter Genauigkeit bzw. Vagheit je nach der Nähe zur Haupterzählung. Deren Erstreckungszeitraum umfasst die 80 Jahre von den Anfängen des persischen Herrschers Kyros bis zum Scheitern der Expansionspolitik des Xerxes in den Schlachten von Plataiai und Mykale. „Herodot stuft seine chronologischen Angaben sorgfältig ab und macht nicht nur die Abnahme gesicherten Wissens mit wachsender zeitlicher Entfernung kenntlich, sondern lässt auch erkennen, wie sehr die Exaktheit der chronologischen Angaben mit der räumlichen Entfernung zum Geschehen der Haupterzählung abnimmt.“ Gründlich widmet er sich der durch die Meerengen von Hellespont und Bosporus markierten Grenzlinie zwischen Asien und Europa, die durch den Xerxes-Zug gegen die Griechen aus seiner Sicht schicksalhafte Bedeutung erlangte, und verweist auf eigene Berechnungen von Länge und Breite der Meerengen. Andere detaillierte Angaben betreffen zum Beispiel die Wegstrecken und Tagesetappen etwa von Ephesos bis ins persische Herrschaftszentrum von Susa, für die er 14.040 Stadien (zu je 177 m) kalkuliert. Von ähnlicher Dichte und Genauigkeit sind sonst nur die Entfernungsberechnungen für den Verlauf des Nils von der Mittelmeerküste bis Elephantine (insgesamt 6.920 Stadien).<ref>Reinhold Bichler: Die analogen Strukturen in der Abstufung des Wissens über die Dimension von Raum und Zeit in Herodots Historien. In Geus / Irwin / Poiss (Hrsg.) 2013, S. 25 f.</ref>

Ebenfalls auf die Räume der persisch-ägyptischen Herrschaftsdynastien beziehen sich Herodots Bemühungen um eine sowohl differenzierte als auch umfassende Chronologie: „Mit seiner Erkundung der ägyptischen Geschichtstradition, für die ihm das Wissen der Priester bürgt, kann Herodot in eine Tiefe der Zeiten vorstoßen, der gegenüber der Trojanische Krieg und die mit den Heroen Herakles und Perseus oder dem Phönizier Kadmos verbundenen Gründungstaten als Ereignisse einer nahen Vergangenheit erscheinen müssen.“ So rechnet er (aus heutiger Sicht fragwürdig) für 341 ägyptische Herrscher mit einer Gesamtregierungszeit von 11.340 Jahren allein für die ältere Königszeit. <ref>Reinhold Bichler: Die analogen Strukturen in der Abstufung des Wissens über die Dimension von Raum und Zeit in Herodots Historien. In Geus / Irwin / Poiss (Hrsg.) 2013, S. 34.</ref>

Die teilweise äußerst detaillierten (jedoch nicht immer fehlerfreien) chronologischen und geographischen Angaben Herodots im Hinblick auf seine Haupterzählung fallen nicht nur für westliche und nordwestliche Regionen seines damaligen Europa-Horizonts sehr viel vager aus, sondern auch hinsichtlich Griechenlands. Für die Zeit vor dem Ionischen Aufstand gibt es zur griechischen Geschichte bei Herodot keine auf ein bestimmtes Jahr datierbaren Ereignisse; und so schwimmen in seinem chronologischen Gefüge etwa auch die 36 Jahre, die Herodot für die Peisistratiden-Tyrannis angesetzt hat.<ref>Reinhold Bichler: Die analogen Strukturen in der Abstufung des Wissens über die Dimension von Raum und Zeit in Herodots Historien. In Geus / Irwin / Poiss (Hrsg.) 2013, S. 25</ref>

Ähnliches gilt für die Pentekontaetie, die er zumindest teilweise als Zeitzeuge miterlebte. Mit Gegenwartshinweisen hält Herodot sich geradezu auffällig zurück. Sich selbst und seine gesellschaftliche Existenz scheint er eher verbergen zu wollen, auch wo er sich mit Anspielungen als Zeitgenosse mindestens der Anfänge des Peloponnesischen Krieges erkennen lässt. „Die von ihm erzählte Geschichte der Ereignisse, die vor dem Vergessen bewahrt werden soll, bekommt aber gerade dadurch eine überzeitliche Dimension.“<ref>Reinhold Bichler: Die analogen Strukturen in der Abstufung des Wissens über die Dimensionen von Raum und Zeit in Herodots Historien. In: Klaus Geus, Elisabeth Irwin, Thomas Poiss (Hrsg.): Herodots Wege des Erzählens. Logos und Topos in den „Historien“. Frankfurt am Main 2013, S. 17–42, hier: S. 39 f.</ref>

Impulsgeber am Übergang von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung

Nur bei oberflächlicher Betrachtungsweise, so Michael Stahl, wirkten die einzelnen Logoi geographischen, ethnographischen und historischen Inhalts lediglich locker verbunden. Es lasse sich zeigen, dass jedes Einzelgeschehen auch der Exkurse für Herodot historisch bedeutsam war und deshalb von ihm aufgegriffen wurde.<ref>Michael Stahl: Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen. Untersuchungen zur Überlieferung, zur Sozialstruktur und zur Entstehung des Staates. Wiesbaden 1987, S. 36.</ref>

Bis in das 4. Jahrhundert v. Chr. war individuelles Lesen als literarische Rezeptionsform laut Stahl noch eine Ausnahmeerscheinung, wenngleich nach neuerer Forschung bereits zu Lebzeiten Herodots andere Autoren geschichtliche Prosawerke verfassten.<ref>Vgl. Robert Fowler: Herodotos and His Contemporaries. In: The Journal of Hellenic Studies 116 (1996), S. 62–87. Demnach könnte Herodot sich auch bereits vorhandener literarischer Techniken bedient haben.</ref> Herodot habe noch in erster Linie für den mündlichen Vortrag geschrieben. Der aber konnte naturgemäß immer nur einige Partien des Gesamtwerks zu Gehör bringen. Aus diesen Voraussetzungen leitet Stahl ab, dass die Historien teils noch der mündlichen Kultur angehörten und dass somit auch in formaler Hinsicht keine Schwierigkeiten für die Aufnahme mündlicher Zeugnisse in das Werk bestanden.<ref>Michael Stahl: Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen. Untersuchungen zur Überlieferung, zur Sozialstruktur und zur Entstehung des Staates. Wiesbaden 1987, S. 34.</ref>

Die Überlieferung insbesondere von Elementen der archaischen Geschichte Griechenlands sei von den zeitgeschichtlichen Interessen der Informanten Herodots mitgeformt und ausgewählt worden. Herodot habe, was ihm zu Ohren kam, seinerseits noch einmal im Hinblick auf das zu den eigenen Ansichten Passende ausgewertet. Die mit der mündlichen Präsentation einhergehende soziale Kontrolle dürfte aber dafür gesorgt haben, dass er die Mitteilungen seiner Gewährsleute nicht durch eigene Fiktionen hätte ersetzen können. „Deshalb wird man trotz allem sagen können, dass die mündliche Überlieferung in Herodot ihr ‚Sprachrohr’ gefunden hat.“ Andererseits stellte jedoch die schriftliche Fassung großer Teile der mündlichen Überlieferung in den Worten Stahls einen fortan „unumgänglichen Bezugsrahmen dar, der möglichen weiteren Formungen der Tradition ganz enge Grenzen zog.“<ref>Michael Stahl: Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen. Untersuchungen zur Überlieferung, zur Sozialstruktur und zur Entstehung des Staates. Wiesbaden 1987, S. 42 f.</ref>

Einbegriffene mythologische Elemente

Herodots Eingebundenheit in eine überkommene Erzählstruktur wird in der Forschung häufig thematisiert, oft verbunden mit dem Hinweis auf seine kritische Distanz zur mythisch-religiösen Tradition, der gegenüber er rationale Einwände geltend machte. Andererseits gilt es für Katharina Wesselmann festzuhalten, dass mythische Elemente die Historien eben auch prägen und durchdringen.<ref>Katharina Wesselmann: Mythische Erzählstrukturen in Herodots „Historien“. Berlin 2011, S. 1 f.</ref> Die traditionellen Denkschemata seiner Zeitgenossen fänden sich bei Herodot wieder; denn „die Freveltaten der historischen Figuren sind dieselben wie die ihrer mythischen Vorgänger.“ Doch auch für die Werkkomposition sei die Einbeziehung von Elementen der mythischen Erzähltradition wichtig. Sie ermögliche es Herodot, die Fülle der eingebrachten Fakten, Episoden und Exkurse in dem Publikum bekannte Strukturen einzubetten. „Erst durch den so hergestellten Zusammenhang, durch den Wiedererkennungseffekt im Spiegel der Tradition, erhalten die Daten Farbe: die Orientierung an bekannten Denkmustern hilft dem Rezipienten bei der Strukturierung und geistigen Verarbeitung; dem Untergehen von Einzelelementen, die für die Gesamterzählung von Bedeutung sind, wird vorgebeugt, indem die Fakten der Tradition und die Tradition den Fakten angepaßt wird“.<ref>Katharina Wesselmann: Mythische Erzählstrukturen in Herodots „Historien“. Berlin 2011, S. 300–302.</ref>

Die Spannung zwischen Faktizität und Funktionalität in den Historien erscheint Wesselmann vor allem durch die an Herodot gestellten Ansprüche erzeugt, nachdem sich die Geschichtsschreibung als eigenes Genre etabliert hatte. „Seitdem hat man versucht, Herodot ‚zweizuteilen’, in den Ethnographen Herodot und den Historiker Herodot, oder eben in den ‚Plauderer’ und den Historiker.“ Ein Fiktionalitätsbewusstsein im modernen Sinne könne zumindest vor Aristoteles für die griechische Antike aber gar nicht vorausgesetzt werden.<ref>Katharina Wesselmann: Mythische Erzählstrukturen in Herodots „Historien“. Berlin 2011, S. 317–319.</ref> Auch bei Thukydides, der seinen Vorläufern abschätzig attestierte, sie zielten mit dem Dargebotenen eher auf die Hörlust des Publikums als auf die Wahrheit,<ref>Thuk. 1.21</ref> ist laut Wesselmann ein konsequenter Verzicht auf mythische Elemente nicht festzustellen, da er beispielsweise König Minos in sein Geschichtswerk aufnahm, obwohl dessen Epoche sich einer Dokumentation entzieht. Noch bei Plutarch sei „eine traditionalisierende Formung des Stoffes“ erkennbar, weshalb Herodots Verortung auf dem Wendepunkt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit eher irreführend sei: „bei der Institutionalisierung des Mediums Schrift und dem Bedeutungsverlust mündlicher Erzählmodi handelt es sich keineswegs um ein punktuelles Ereignis, sondern um einen jahrhundertelangen Prozeß; nicht einmal der Punkt seines Abschlusses scheint eindeutig feststellbar.“<ref>Katharina Wesselmann: Mythische Erzählstrukturen in Herodots „Historien“. Berlin 2011, S. 326–330.</ref>

Kontinente und Randzonen in Herodots Welt

Datei:Butler Orbis Herodoti.jpg
Moderne Darstellung der „Welt“ Herodots.

„Erdkunde als einen Faktor im Verständnis dessen zu würdigen, was wir Geschichte nennen, gehört zum Vermächtnis Herodots“, heißt es bei Bichler. Herodot habe zwar an bereits bestehende Vorstellungen angeknüpft, daraus aber Neues geformt.<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 11.</ref> Für ihn gab es mit Europa und Asien nur zwei Kontinente, da er Libyen nicht als eigenen Kontinent, sondern als zu Asien gehörig betrachtete. Beide Kontinente stellte er sich durch eine hauptsächlich von Gewässern markierte, in west-östlicher Richtung verlaufende Grenzlinie geschieden vor. Asien war im Süden seiner Vorstellung nach vom Südmeer umschlossen, Europa nach Norden hin aber zu ausgedehnt und unerforscht, um es gleichfalls als umgeben von einer durchgängigen Meeresverbindung auszuweisen. Die Grenzlinie zwischen den beiden Kontinenten verläuft von den Säulen des Herakles (an der Straße von Gibraltar) durch das Mittelmeer, die Dardanellen, den Bosporus, das Schwarze Meer und das Kaspische Meer, das bei Herodot erstmals als von Ufern umgebener Binnensee erscheint.<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 17–21.</ref>

Die geheimnisvollen Randzonen jener damaligen Welt boten von alters her reichlich Stoff für Phantasiebilder. Herodot war sich dessen bewusst und demonstrierte in seinen Auskünften über diese entlegenen Regionen eigene Distanz, indem er nicht auf unmittelbare Augen- und Ohrenzeugen, sondern auf indirekte Gewährsleute verwies und gehäuft eigene Zweifel anmeldete. Allerdings, so Bichler, „seine Kritik hat ihre Grenzen dort, wo sie der eigenen Erzählfreude in die Quere käme.“<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 24.</ref>

Mit den nach gängigem Muster in den Randzonen der Welt vorgestellten Schätzen und Fabelwesen befasst sich Herodot teilweise ausgiebig. Er berichtet mehr oder minder erkennbarer skeptisch über Schätze von Zinn, Elektron (gemeint ist wohl Bernstein) und Gold im äußersten Nordwesten Europas, über Greifen, die das Gold bewachen, und über Einäugige, die es den Greifen abjagen. Ebenfalls um Gold geht es in der oben erwähnten Geschichte von nahezu hundsgroßen Riesenameisen in Indiens goldreicher Wüste, die beim Stollenbau Goldstaub nach oben werfen, den die Einheimischen listig an sich bringen. Eine dritte Art der Goldgewinnung führt an Libyens ferne Küste, wo von Mädchen aus einem See Gold geschöpft wird, und zwar mit Vogelfedern, die zuvor mit Pech bestrichen worden sind.<ref>Herodot 3, 115 f.; 3, 102–105; 4, 195; Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 25 f.</ref>

Nicht zweifelsfrei geklärt, doch immerhin wahrscheinlich ist, dass Herodot für die Historien auf eine Schrift über Lüfte, Gewässer und Örtlichkeiten (zitiert als Umweltschrift) Bezug nehmen konnte, die ehedem fälschlich Hippokrates zugeschrieben wurde. In ihr sieht Bichler „ein frühes Beispiel medizinisch-naturwissenschaftlicher Spekulation und zugleich ein bedeutendes Stück ethnographischer und politischer Theorie“, wonach Klima und geographisches Milieu sowohl die physische Beschaffenheit als auch Charakter und Sitten der jeweiligen Landesbewohner prägten. Herodots Gedankenführung sei im Vergleich zur Umweltschrift jedoch wesentlich komplexer, etwa indem er der geographischen Anschauung eine historische Dimension gebe und mit der Formung der Landesnatur sowohl durch langzeitige natürliche, aber auch durch kulturelle Wirkkräfte wie Deiche und Kanäle rechne.<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 18.</ref>

Völkerkundler und Kulturtheoretiker

Auf die gleiche Weise, in der Herodot seine geographische Weltbeschreibung<ref>Herodot 4, 36–45.</ref> in die weit ausgreifende Erzählung der Vorgeschichte der Perserkriege einflicht, sind auch seine vielfältigen völkerkundlichen Betrachtungen und Auskünfte als Exkurse in die militärischen Unternehmungen der persischen Großkönige eingebettet. In der großen Heerschau, die Xerxes nach Überquerung des Hellespont bei Doriskos abhielt, wird von Herodot ein auf äußere Merkmale wie Tracht, Waffenrüstung, Haar- und Hautfarbe konzentrierter Überblick über die zahlreichen Völkerschaften im Einzugsbereich der persischen Vorherrschaft gegeben.<ref>Herodot 7, 59–100.</ref> Wiederum an anderen geeignet erscheinenden Stellen seiner Werkkomposition geht Herodot auf soziale Verhaltensweisen, Sitten und Bräuche einer Vielzahl von Völkern in den Kern- und Randregionen der für ihn erschließbaren Welt ein. Anders als in neuzeitlichen Rassenlehren geht mit Herodots ethnographischen Klassifikationstypen keine Auf- oder Abwertung einher. Sein kulturtheoretisches Augenmerk scheint eher darauf gerichtet, die Brüchigkeit der eigenen Zivilisation im Spiegel des Gebarens weit entfernter Völkerschaften aufzuzeigen: „Herodots Völkerkunde vermittelt den Eindruck, daß sich mit wachsender Distanz zur eigenen Welt alle jene Züge auflösen, die unserem Leben in einer geordneten Gesellschaft feste Konturen geben: personale Identität, geregelte Kommunikation und soziales Bewußtsein, Regelungen der Sexualität und Kultivierung der Ernährung, das Leben in familiären Verbänden und in einer eigenen Behausung, die Sorge für Kranke und Tote und der Respekt vor übergeordneten Normen, der sich in religiösen Anschauungen und Praktiken ausdrückt.“<ref>Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 44.</ref>

Was Herodot den Zeitgenossen von bekannten und unbekannten Regionen der damaligen Welt und ihren Bewohnern zu berichten wusste, ergibt ein facettenreiches Mosaik, das teils Staunen und Schaudern erregen konnte und mit dem Faszinierend-Exotischen nicht geizte. Auffällig oft stellten die geschilderten Verhaltensweisen im Hinblick auf die tradierte griechische Kultur markante Tabubrüche dar, so u. a. Rohfleischverzehr, Kannibalismus und Menschenopfer. Vielleicht war Herodot aber auch von der zeitgenössischen Kulturtheorie der Sophistik beeinflusst, die für das naturnahe frühmenschliche Dasein eine anfängliche Rohheit annahm und in allerlei Schreckensbilder umsetzte.<ref>Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 45.</ref>

Geschlechterstellung und sexuelle Gewohnheiten

Angesichts der Vielfalt anderer Lebensart entsteht das Bewusstsein für die Besonderheiten der eigenen Kultur und Sitten, die damit aber auch in Frage gestellt werden.<ref>Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 50.</ref> Herodot schuf diesbezüglich ein enorm reichhaltiges Orientierungsangebot. So gibt er etwa Beispiele für eine ungewohnte Rollenverteilung der Geschlechter. Von den Ägyptern berichtet er, dass der Markthandel von Frauen bestimmt und abgewickelt wurde, während die Männer daheim Webarbeiten verrichteten.<ref>Herodot 2, 35.</ref> Bei den libyschen Gindanen soll es üblich gewesen sein, dass die Frauen ihren sozialen Status anzeigten, indem sie für jeden der ihnen beischlafenden Männer ein Lederband um ihren Fußknöchel legten.<ref>Herodot 4, 176.</ref> Die Lykier hatten laut Herodot die Eigenart, die Nachkommenschaft nicht nach den Vätern, sondern nach den Müttern zu benennen, und die Frauen rechtlich noch in anderer Hinsicht zu begünstigen.<ref>Herodot 1, 173.</ref>

Andernorts wurden Frauen als gesellschaftliches Gemeineigentum behandelt, bei den Massageten zum Beispiel, indem die Männer am Wagen der gerade ausgewählten Kopulationspartnerin jeweils ihren Bogen als vorübergehendes Signal anhängten.<ref>Herodot 1, 216.</ref> Ähnlich verfuhren die Nasamonen mit ihren Frauen, indem sie den Beischlaf mittels eines vor der Tür aufgestellten Stabes kommunizierten. Im Zuge der ersten Hochzeit eines Nasamonen erhielten die männlichen Hochzeitsgäste in Verbindung mit der Geschenkübergabe Gelegenheit zum Beischlaf mit der Braut.<ref>Herodot 4, 172.</ref> Bei den Auseern gab es hingegen gar keine Ehen. Der Begattungsvorgang wurde Herodot zufolge nach Tierart vollzogen, die Vaterschaft im Nachgang durch Prüfung und Feststellung der Ähnlichkeit des Kindes mit einem der Männer bestimmt.<ref>Herodot 4, 180.</ref>

Für diesen wie auch für die anderen Bereiche der herodoteischen Völkerkunde gilt es laut Bichler festzuhalten, dass Herodot seine ethnographischen Zuordnungen nicht in ein festes Kulturschema presste: „Ein Volk, das sich im Lichte seiner Sexualsitten als roh gekennzeichnet erweist, kann nach anderen Standards bemessen zivilisierter wirken und umgekehrt.“<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 84.</ref>

Umgang mit Verstorbenen

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Skythischer Bogenschütze (rotfiguriner Deckel, ca. 520-500 v. Chr.)

Ein weiterer von Herodot häufig einbezogener Gesichtspunkt bei der Herausstellung kultureller Merkmale der einzelnen Völker ist die Einstellung zum Tod und der Umgang mit den Toten. Auch dazu ergibt sich aus seinen Hinweisen ein sehr vielfältiges und teils gegensätzliches Spektrum. Auf der einen Seite gab es seinen Erkundungen zufolge indische Völker am östlichen Rand der Welt, deren Alte und Kranke sich zum Sterben in die Natureinsamkeit zurückzogen und dort sich selbst überlassen blieben, ohne dass ihr Tod noch jemanden kümmerte.<ref>Herodot 3, 100.</ref> Bei den ebenfalls weit östlich ansässigen Padaiern hingegen wurden die Kranken angeblich von ihren nächsten Angehörigen getötet, um sie sodann zu verspeisen: Ein erkrankter Mann wurde von männlichen Familienmitgliedern erwürgt, eine kranke Frau von weiblichen. Man mochte nicht warten, bis die Krankheit das Fleisch verdorben hatte.<ref>Herodot 3, 99.</ref> Bei den Issodonen im Norden war allein der Verzehr von Familienvätern nach deren Tod üblich, gemischt mit Viehfleisch. Die präparierten und mit Goldblech überzogenen Köpfe der Väter dienten den Söhnen beim jährlichen Opferfest als Kultgegenstand.<ref>Herodot 4, 26; Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 48f.</ref> Während die Könige der Skythen mitsamt den erwürgten Bediensteten, mit Pferden und goldenem Tafelgerät in Hügelgräbern bestattet wurden,<ref>Herodot 4, 71.</ref> sollen die am Südmeer beheimateten Äthiopen ihre Toten als Mumien in säulenartigen, durchsichtigen Särgen aufgestellt und noch für ein Jahr in ihrem Haus behalten und ihnen geopfert haben, bevor sie sie irgendwo außerhalb der Stadt aufstellten.<ref>Herodot 3, 24.</ref>

Mögen also die Bräuche des Umgangs mit Verstorbenen weit auseinander gelegen haben und mochten sie bei den Griechen, die ihre Toten verbrannten, teils auch Schrecken erregen: Vor Spott oder Hohn in diesen Dingen suchte Herodot durch eine Anekdote vom persischen Königshof eindringlich zu warnen. Ihr zufolge hatte Dareios einst die Griechen bei Hofe gefragt, was sie dafür verlangten, wenn sie ihre Eltern verspeisen sollten; das wiesen diese aber unter allen Umständen weit von sich. Sodann ließ er die ihre toten Eltern verspeisenden Kallatier aus Indien kommen und erkundigte sich nach dem Preis für ihre Bereitschaft, die Leichen der eigenen Eltern zu verbrennen. Schreiende Proteste und den Anwurf der Gottlosigkeit habe er von ihnen zur Antwort erhalten. Damit sieht Herodot den Beweis erbracht, dass jedes Volk die eigenen Bräuche und Gesetze über die aller anderen stellt, und bestätigt den Dichter Pindar darin, die Sittengesetzlichkeit als höchste Herrschaftsautorität zu betrachten.<ref>Herodot 3, 38; Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 48.</ref>

Religiöse Horizonte

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Dionysos im Gespräch mit Hermes, in der Hand einen Kantharos (Weinbecher), links ein Satyr

Götterverehrung, Heiligtümer und religiöse Riten sind für Herodot bei den Randvölkern seiner damaligen Welt nur vereinzelt anzutreffen und nicht sehr komplex. Von den unter der sengenden Sonne Libyens lebenden Atamaranten heißt es nicht nur, dass sie als einzige ohne individuelle Namen auskamen, sondern dass sie sich gelegentlich kollektiv fluchend und schimpfend gegen die sie plagende Sonne wendeten.<ref>Herodot 4, 184.</ref> Die den Skythen im Norden des Schwarzen Meeres benachbarten Tauren opferten laut Herodot alle aufgegriffenen Schiffbrüchigen der Iphigenie, spießten deren Köpfe auf lange Pfähle und ließen sie hoch über ihren Häusern als Wächter fungieren.<ref>Herodot 4, 103.</ref> Von den thrakischen Geten berichtet Herodot einen Glauben an die Unsterblichkeit, indem zum Gott Zalmoxis auffuhr, wer von ihnen umkam. Ihren Gott hielten sie für den einzigen überhaupt, den sie aber bei Gewitter durch Pfeilschüsse in Richtung Himmel ihrerseits bedrohten.<ref>Herodot 4, 94.</ref>

Die Herkunft der den Griechen vertrauten anthropomorph-vielgestaltigen Göttergemeinschaft führt Herodot im Wesentlichen auf die Ägypter mit ihrer weit älteren Geschichte zurück. Nur das ägyptische Pantheon konnte es an exemplarischer Vielfalt mit der hellenischen Götterwelt aufnehmen. Die Ägypter waren es nach Herodot, die den Göttern zuerst die Namen gaben und ihnen Altäre, Tempel und Kultbilder errichteten.<ref>Herodot 2, 4; Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 160 u. 171.</ref> Von ihnen stammten Opferbräuche und Prozessionen, Orakelwesen, Vorzeichendeutung und astrologische Schlussfolgerungen. Ägyptischer Herkunft seien auch die bei den Pythagoreern verbreitete Seelenwanderungslehre und die mit dem Dionysos-Kult verbundenen Unterweltslehren gewesen. Überhaupt deutete Herodot eine ganze Reihe heimischer Kulte, ekstatischer Feste und Riten vorzugsweise als auswärtige Übernahmen diverser Herkünfte.<ref>Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 56.</ref>

Aus Bichlers Sicht hat Herodot den Prozess der Theogonie konsequent historisiert, „ wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der sophistischen Lehre von der Kulturentstehung, die sich auch die Genese der Erkenntnis der Götter als einen Prozess stufenweisen Wandels in der Geschichte der Menschen dachte.“ In dem Ansatz, Gotteserkenntnis als ein Phänomen des kulturhistorischen Prozesses zu behandeln, sei Herodot ungeachtet seiner Vorbehalte gegen intellektuellen Hochmut „ein Sohn der ‚Aufklärung’ seiner Zeit.“<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 161 u. 172.</ref>

Politischer Analytiker

Als beachtenswerter Interpret politischer Konstellationen rückt Herodot rezeptionsgeschichtlich erst neuerdings verstärkt in den Blickpunkt. Dass er diesbezüglich bislang wenig Beachtung gefunden hat, zumal im Vergleich mit Thukydides, führt Christian Wendt auf Zweifel an Herodots methodischer Konsequenz und an seiner Glaubwürdigkeit zurück, vor allem aber auf seinen breiten Darstellungshorizont und auf die Fülle des insgesamt von ihm bearbeiteten Materials: „Herodot deckt in seiner Betrachtung ein wesentlich breiteres Feld ab als Thukydides, die ‚politische Geschichte’ ist nur Facette, nicht Kern der Untersuchung.“<ref>Christian Wendt: Herodot als Vater des politischen Realismus? In: Klaus Geus, Elisabeth Irwin, Thomas Poiss (Hrsg.): Herodots Wege des Erzählens. Logos und Topos in den „Historien“. Frankfurt am Main 2013, S. 345–357, hier: S. 346 f.</ref>

Die politischen Beobachtungen und Deutungen Herodots sind wie die geographischen, völkerkundlichen und religionsbezogenen Exkurse im Gesamtwerk verstreut und der Entstehungs- und Verlaufsgeschichte des kriegerischen Großkonflikts zwischen Persern und Griechen bei- und untergeordnet. Wie er selbst über Krieg und Bürgerkrieg dachte, gab Herodot in Äußerungen zu erkennen, die er einerseits dem besiegten Krösus als Einsicht in den Mund legte: „...niemand ist so unverständig, daß er aus freien Stücken den Krieg wählt statt des Friedens. Denn hier begraben die Söhne ihre Väter, dort aber die Väter ihre Söhne.“ Das Bürgerkriegsverhängnis andererseits ließ er die Athener angesichts der persischen Bedrohung beschwören: „Denn ein Kampf innerhalb eines Volkes ist um so viel schlimmer als ein einmütig geführter Krieg, wie Krieg schlimmer ist als Frieden.“<ref>Herodot 1, 87 und 8, 3; jeweils zitiert nach Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 84.</ref>

Politisches Leitmotiv in Herodots Historien ist laut Bichler die Verlockung der Macht, die zu ungerechten Eroberungsfeldzügen und ins Verderben führt – Griechen wie Nichtgriechen gleichermaßen.<ref>Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 98.</ref> Als wesentlicher Antrieb des Handelns zeigt sich oftmals reiner Expansionsdrang. Prägendes Element zwischenstaatlicher Politik ist demnach die Abwägung der Eigeninteressen, denen Moral, Recht und Verträge je nach Bedarf geopfert werden. Die Berechnung von Machtkonstellationen steht nahezu überall im Zentrum bei den politischen Akteuren, der Primat des eigenen Vorteils ist konstant wirksam.<ref>Christian Wendt: Herodot als Vater des politischen Realismus? In Geus / Irwin / Poiss (Hrsg.) 2013, S. 349, 354–56.</ref> Darin unterscheiden sich auch unterschiedliche Herrschaftssysteme in der Sicht Herodots nicht grundlegend. Denn sobald die persische Gefahr abgewendet war, ließen auch die längst von der Tyrannis befreiten Athener „jene Neigung zur imperialistischen Großmannssucht“ erkennen.<ref>Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 83; Herodot 8, 3 und 9, 106.</ref>

Expansionsdrang der Mächtigen

Der Lyder-König Krösus war der erste in der Reihe asiatischer Herrscher, die in der Entstehungsgeschichte der Perserkriege von Herodot eingehend behandelt wurden. Er hatte von den griechischen Poleis in Kleinasien erstmals Tribute erhoben und hinterließ so den persischen Großkönigen Kyros, Kambyses, Dareios und Xerxes einen randlichen Spannungsherd in ihrem Herrschaftsbereich. Jeder dieser Herrscher hat sich auf militärische Eroberungszüge verlegt und ist zuletzt damit gescheitert.

Krösus zog in der Absicht gegen Kyros zu Felde, dessen Großreich zu erobern, wurde geschlagen, gefangen genommen und auf den Scheiterhaufen geführt, ehe Kyros ihn begnadigte und fortan zu seinem Berater machte.<ref>Herodot 1, 76–89.</ref> Kyros ging seinerseits und zunächst erfolgreich daran, die Völker Asiens seiner Herrschaft zu unterwerfen und auch Babylon erstmals zu erobern.<ref>Herodot 1, 177–191.</ref> Als er aber, von Krösus angetrieben und von der eigenen Unbesiegbarkeit überzeugt, auch die Massageten jenseits des Kaspischen Meeres zu unterjochen suchte, wurde sein Heer schließlich von den Streitkräften der Massageten-Königin Tomyris besiegt, Kyros selbst getötet und sein Leichnam von Tomyris geschändet, die damit Rache für ihren Sohn nahm.<ref>Herodot 1, 205–213.</ref>

Kyros’ Sohn und Nachfolger Kambyses trat als Eroberer in die Fußstapfen seines Vaters, indem er in einem umfassenden Unternehmen zu Wasser und zu Lande Ägypten kriegerisch unterwarf und nun auch aus Libyen Tributleistungen bezog. Damit herrschte er über das bis dahin größte geschichtlich bekannte Imperium – und mochte sich damit doch nicht begnügen. Mit dem Hauptteil seines Heeres ging er auf Expansionskurs weit nach Süden zu den Äthiopen, praktisch an das Ende der damaligen Welt. Schon jenseits von Theben aber wurden die Lebensmittel für die Versorgung des Heeres knapp. Bald verzehrte man auch die Zugtiere; schließlich war die Hungersnot so groß, dass unter Anwendung des Losverfahrens jeder zehnte Mitstreiter getötet und von den Kameraden verzehrt wurde. Da erst brach Kambyses das Unternehmen ab und kehrte um.<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 270 f.; Herodot 3, 25.</ref>

Xerxes wiederum ließ sich auch durch das doppelte Scheitern seines Vaters Dareios – zunächst im Feldzug gegen die Skythen und dann beim ersten Großangriff auf das griechische Festland – nicht davon abhalten, erneut und noch verstärkt für einen Straf- und Eroberungszug zu mobilisieren. Herodot bescheinigt Xerxes ein anscheinend grenzenloses Machtexpansionsstreben, indem er ihn in wörtlicher Rede im Kriegsrat ausführen lässt, dass er als Folge der bevorstehenden Eroberungen mit seinen Persern sozusagen die Weltherrschaft ausüben werde:

„Denn dann wird auf kein Land die Sonne herunterblicken, das da grenzte an das unsere, sondern sie alle werde ich zusammen mit euch zu einem einzigen Land zusammentun, wenn ich durch ganz Europa gezogen bin. Denn wie ich höre steht es so: Keine Stadt mehr auf der Welt und kein Volk unter den Menschen ist dann noch übrig, das imstande wäre, uns gegenüberzutreten im Kampf, wenn die, von denen ich sprach, aus dem Wege geräumt sind. So werden sie das Knechtsjoch tragen, Schuldige wie Unschuldige.“<ref>Herodot 7, 8; zitiert nach Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 319 f.</ref>

Machtblindheit und Hybris

Nahezu schicksalhaft-unausweichlich gekoppelt erscheinen Machtstellung und Eroberungssucht in Herodots Darstellung der besagten Hauptakteure des historisch-politischen Geschehens. Rechtzeitiger Mäßigung sind sie anscheinend nicht fähig; gutem Rat sind sie letztlich unzugänglich; Warnungen werden selbstgefällig in den Wind geschlagen, Träume, Vorzeichen und Orakelsprüche häufig missdeutet. Die mit der Macht wachsende Überheblichkeit führt zu willkürlichen Verstößen gegen die natürliche Ordnung sowie gegen sittliche und religiöse Normen.

Herodots Krösus zeigt bereits bei der legendären Begegnung mit dem weisen Athener Solon, wie wenig er bei all seinem demonstrativ zur Schau gestellten Reichtum von den wahren Bedingungen glücklichen Lebens versteht.<ref>Herodot 1, 30–33.</ref> Vor seinem Angriff auf das Perserreich unter Kyros sucht er sich zwar durch akribische Befragung und Prüfung aller wichtigen Orakelstätten abzusichern, zieht dann aber unter anderem bei der Auswertung des für ihn maßgeblichen delphischen Orakelspruchs – er würde, wenn er gegen die Perser ziehe, ein großes Reich zerstören – leichtfertig den Schluss, damit sei ihm der Sieg geweissagt. Erst nach der Niederlage gelangt er zu der Erkenntnis, dass er letztendlich sein eigenes Reich zerstört hat.<ref>Herodot 1, 46–55 und 1, 90; Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 86 f.</ref> Ähnlich ergeht es dem viele Jahre unangefochten herrschenden und um sein Dasein beneideten Tyrannen Polykrates von Samos an seinem Lebensende, als er, angelockt von Aussichten auf zusätzlichen Reichtum durch militärische Expansion, in eine Falle gerät und ein schreckliches Ende findet. Denn weder Seher und Freunde mit ihren Warnungen noch seine von Alpträumen geplagte Tochter vermochten es, ihn vor dem Schritt ins Verderben zurückzuhalten.<ref>Herodot 3, 122–125; Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 97.</ref>

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Monumentale Keilschrift-Tafel mit einer Selbstdarstellung des Xerxes als „König der Könige“

Einen Prozess längeren Schwankens und mehrfachen Umschwenkens durchläuft bei Herodot der Entschluss des Xerxes zum Rache- und Eroberungsfeldzug gegen die Griechen. Die Einwirkung gegensätzlicher Ratschläge und bedrängender Träume hätten ihn massiv verunsichert und zögern lassen. Ausschlaggebend sei schließlich wiederum ein Traum gewesen, und zwar der seines als Ratgeber ursprünglich mutig gegen die Expansionseuphorie argumentierenden Onkels Artabanos. So nahm die unersättliche Herrschsucht auch in diesem Fall zuletzt ihren gleichsam schicksalhaften Lauf.<ref>Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 320–322; Herodot 7, 9–19.</ref>

Fortschreitende Herrschsucht geht bei Herodot zumeist mit Hybris einher, mit einer Selbstüberhöhung und –überhebung, die sich über menschliches Maß und Sittengesetz und sogar über die Ordnung der Natur meint hinwegsetzen zu können. So heißt es von Kyros, dem beim Feldzug gegen Babylon eines der heiligen Rösser in der Strömung des Flusses Gyndes ertrank, er habe daraufhin den Fluss selbst bestrafen und erniedrigen wollen, indem er Kanalisierungsmaßnahmen anordnete, die dazu führen sollten, dass selbst Frauen ihn danach durchqueren könnten, ohne auch nur mit den Knien das Wasser zu berühren.<ref>Herodot 1, 189; Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 267.</ref> Von Xerxes wiederum wird berichtet, dass er das ihm unbotmäßige Meer unter Beschimpfungen auspeitschen ließ, als ein Sturm die Brücke aus Hanf und Byblosbast über den Hellespont zerstörte, über die das Heer von Asien nach Europa gelangen sollte. Dem Willen des Herrschers hatte sich, seiner Meinung nach, eben auch die Natur unterzuordnen. Zusätzlich wurde aber den Bauleitern dieser Brücke der Kopf abgeschlagen.<ref>Herodot 7, 34; Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 323.</ref>

Von Hybris befallen waren auch griechische Tyrannen, wie Herodot zuerst am Beispiel der Peisistratiden-Tyrannis in Athen zeigt, deren Begründer Peisistratos die Insel Naxos unterworfen haben soll, um dort die Söhne seiner möglichen Athener Machtkonkurrenten als Geiseln festzusetzen.<ref>Herodot 1, 64; Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 81.</ref> Noch schlimmer soll es der Tyrann Periander in Korinth getrieben haben. Er hatte seinen in Milet herrschenden Tyrannen-Kollegen Thrasyboulos durch einen Boten nach einem Rezept für die optimale Ausgestaltung seiner Herrschaft fragen lassen. Thrasyboulos habe den Boten auf ein Kornfeld geführt und dort sämtliche überdurchschnittlich herausragenden Ähren abgeschlagen. Zwar habe der Bote selbst die Botschaft nicht verstanden, wohl aber der Empfänger Periander, der daraufhin eine bis dahin ungekannte Grausamkeit an den Tag legte, indem er dafür sorgte, dass jeder bedeutendere Kopf unter den Korinthern umgebracht oder vertrieben wurde.<ref>Herodot 5, 92; Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. Hildesheim u. a. 2000, S. 77.</ref>

Verfassungsfragen

Wie alle politisch-analytischen Einlassungen Herodots ist auch die Verfassungsdebatte zielgerichtet in den Darstellungszusammenhang eingebunden und ihm untergeordnet. Der hierbei zu beachtende Kontext ist Dareios’ I. listige Herrschaftsanbahnung. Dabei gilt es für ihn in dem von Herodot berichteten bzw. arrangierten Geschehensablauf zunächst darum, die monarchische Herrschaftsform gegenüber einer Volksherrschaft und einer aristokratischen Herrschaft von Wenigen als die beste zu erweisen.

Den Otanes als Befürworter einer persischen Volksherrschaft lässt Herodot die bereits bekannten und unter Kambyses drastisch erlebten Übel der Alleinherrschaft (aus der bevorzugten Stellung erwachsende Überheblichkeit; Verbrechen aus Hochmut, Übersättigung, Misstrauen oder Missgunst anderen gegenüber; despotische Gewalt- und Willkürherrschaft im Endergebnis) als Plädoyer für sein Gegenmodell vortragen: Gleichheit aller vor dem Gesetz, Ämterlosung, Rechenschaftspflicht der Amtsinhaber, Volksversammlung als Beschlussorgan.

Der für eine oligarchische Machtausübung sich einsetzende Megabyzos stimmt Otanes in seiner Argumentation gegen die Alleinherrschaft zu, sieht aber andererseits vor allem die ungezügelte Masse als von Unverstand und Übermut besessen an und schlussfolgert, dass einer Auswahl der besten Männer – denen man sich selbst gewiss zuzurechnen habe – die Macht zu übertragen sei. Denn nur von ihnen seien die besten Beschlüsse zu erwarten.

Dareios stimmt in seinem Plädoyer für die Monarchie dem Megabyzos nur hinsichtlich der Zurückweisung einer Volksherrschaft zu und preist die Einzelherrschaft des besten Mannes, der frei sei von Rivalitäten und Zwistigkeiten, die zu Mord und Totschlag unter verfeindeten Oligarchen führten, bis dem schließlich ein Einzelner ein Ende mache. Volksherrschaft hingegen begünstige die Kumpanei der besonders schlechten Bürger und deren gemeinwesenschädigendes Treiben so lange, bis wiederum einer hervortrete, Ordnung schaffe und sich so als Alleinherrscher empfehle.

Herodot enthält sich bei der Darstellung der drei Plädoyers einer eigenen ausdrücklichen Stellungnahme. Dass Dareios’ Position sich durchsetzt und dass lediglich offen bleibt, wer als „Bester“ für die Alleinherrschaft taugt, ist dem Gang der Geschichte selbst geschuldet. Diesen verbindet Herodot allerdings mit einer ironischen Pointe: Unter den sieben verbliebenen Thronanwärtern wurde angeblich ein gemeinsamer Ausritt vereinbart mit dem Ziel, denjenigen als künftigen König zu ermitteln, dessen Pferd nach dem Aufsitzen als erstes wieherte. Auch dabei obsiegte Dareios, weil sein Pferdeknecht das Ross seines Herrn geschickt präpariert hatte.<ref>Herodot 3, 80–86; Bichler 2000 (Herodots Welt), S. 282–284. Über komische Aspekte und Gelächter in den Historien Herodots referiert ansonsten Wolfgang Will: Gelächter von Außen: Komik bei Herodot. In: Klaus Geus, Elisabeth Irwin, Thomas Poiss (Hrsg.): Herodots Wege des Erzählens. Logos und Topos in den „Historien“. Frankfurt am Main 2013, S. 359–373.</ref>

Ausgaben und Übersetzungen

Literatur

  • Egbert J. Bakker, Irene J. F. de Jong, Hans van Wees (Hrsg.): Brill’s Companion to Herodotus. Brill, Leiden 2002, ISBN 90-04-12060-2. S. M. Burstein: Review.
  • Reinhold Bichler, Robert Rollinger: Herodot. 3. Aufl. Olms, Hildesheim u. a. 2011, ISBN 978-3487146614. (Aktuelles Überblickswerk)
  • Reinhold Bichler: Herodots Welt. 2. Auflage, Akademie Verlag, Berlin 2001.
  • Bruno Bleckmann (Hrsg.): Herodot und die Epoche der Perserkriege. Realitäten und Fiktionen. Köln 2007, ISBN 978-3-412-08406-6
  • Carolyn Dewald und John Marincola (Hrsgg.): The Cambridge Companion to Herodotus. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2006, ISBN 0-521-53683-9. J. Evans: Review.
  • Hartmut Erbse: Fiktion und Wahrheit im Werk Herodots. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1991.
  • James A. S. Evans: Herodotus, explorer of the past. Three essays. Princeton 1991.
  • Boris Dunsch, Kai Ruffing (Hrsg.): Herodots Quellen – Die Quellen Herodots. Harrassowitz, Wiesbaden 2013.
  • Detlev Fehling: Die Quellenangaben bei Herodot. Berlin/New York 1971. (Eine ebenso einflussreiche wie umstrittene Arbeit, die die These vertritt, Herodot habe die referierten Daten fingiert bzw. erfunden und die angeblichen Forschungsreisen nie unternommen.)
  • Edith Foster, Donald Lateiner (Hrsg.): Thucydides and Herodotus. Oxford University Press, Oxford u. a. 2012, ISBN 9780199593262.
  • Linda-Marie Günther: Herodot. Francke, Tübingen 2012.
  • John Hart: Herodotus and Greek history. London 1993.
  • Martin Hose: Am Anfang war die Lüge? Herodot, der „Vater der Geschichtsschreibung“. In: Martin Hose (Hrsg.): Große Texte alter Kulturen. Wiss. Buchges., Darmstadt 2004, S. 153–174.
  • Felix Jacoby: Herodotos. In: RE Supplementband 2 (1913). Sp. 205–520. (Grundlegende Studie zu Leben und Werk Herodots, in Einzelfragen aber überholt.)
  • Nino Luraghi (Hrsg.): The Historian’s Craft in the Age of Herodotus. Oxford u. a. 2001.
  • Nino Luraghi: The stories before the Histories: Folktale and traditional narrative in Herodotus. In: Rosaria V. Munson (Hrsg.): Oxford Readings in Herodotus. Oxford University Press, Oxford 2013, S. 87–113.
  • Walter Marg (Hrsg.): Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung. (= Wege der Forschung Bd. 26). Darmstadt 1982 (3. Aufl.).
  • William K. Pritchett: The liar school of Herodotos. Amsterdam 1993.
  • Antonios Rengakos: Herodot. In: Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Band 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. München 2011, ISBN 978-3-406-57673-7, S. 338–380. (Aktueller Überblick)
  • Jennifer Roberts: Herodotus. A very short introduction. Oxford University Press, Oxford 2011.

Weblinks

Wikisource Wikisource: Griechisches Original – Quellen und Volltexte
Wikisource Wikisource: Herodot – Quellen und Volltexte

Anmerkungen

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