Keltischer Kopfkult
Keltischer Kopfkult, auch Schädelmystik oder Schädelfaszination, nennen die Keltologen den Kult der Kelten um die têtes coupées<ref>„Téte coupée ist in der keltischen Kunst die (irreführende) Bezeichnung jeder Darstellung eines menschlichen Kopfes ohne den dazugehörigen Körper.“ Bernhard Maier: Lexikon der keltischen Religion und Kultur. Kröner-Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-520-46601-5.</ref> (französisch: „Abgeschnittene Köpfe“), bzw. severed heads (englisch), wie diese Artefakte von den Archäologen bezeichnet werden. Es handelt sich um ein Kopfjagd-Ritual, das auf mystischen Vorstellungen beruht.<ref name="HB">Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997, ISBN 3-7001-2609-3, S. 817 f.</ref>
Inhaltsverzeichnis
Der Kopfkult
Die „Schädelfaszination“ der Kelten basiert auf der Überzeugung, mit dem abgetrennten Kopf eines Feindes zum einen seine Kraft und sein Wissen zu besitzen, zum anderen den Geist des Toten in der Anderen Welt unschädlich zu machen. Der Kopf steht offenbar als pars pro toto für die gesamte materielle und spirituelle Persönlichkeit.<ref name="HB" />
Der griechische Geschichtsschreiber Diodor berichtet im 1. Jahrhundert v. Chr.: „Die Köpfe ihrer vornehmsten Feinde balsamieren sie ein und verwahren sie sorgfältig in einer Kiste, und wenn sie diese dann den Fremden zeigen, so rühmen sie sich, wie einer ihrer Vorfahren oder ihr Vater oder auch sie selbst diesen Kopf um vieles Geld nicht hergegeben hätten.“<ref name="DS">Diodor: Διόδωρου Σικελιώτου Βιβλιοθήκη Ἱστορική (lat. Diodori Siculi Bibliotheca historica), Bibliotheca Teubneriana, Julius Friedrich Wurm (Übersetzer): Diodor’s von Sizilien historische Bibliothek. Metzler, Stuttgart 1831-1839, Band V, S. 29.</ref>
In vielen keltischen Gräbern wurden Kopf und Körper getrennt beigesetzt. Bei Mont-Troté (Manre im Dep. Ardennes) sind von rund 90 Skeletten 30 ohne Kopf; in den Lankhills bei Winchester wurde der Kopf post mortem abgetrennt und bei den Füßen begraben. Ob es sich dabei um kopfjägerische Motive oder rituelle Zerstückelung handelte, eventuell um den Toten zu „bannen“, bleibt unbeantwortet.<ref>Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997, ISBN 3-7001-2609-3, S. 860.</ref>
Schädelfragmente wurden bei Ausgrabungen häufig inmitten von Hausüberresten gefunden. Geglättet und durchbohrt wurden sie offenbar als Amulette getragen. Als Opfergaben für den ganzen Stamm sind an kultischen Orten manchmal Stelen mit echten oder aus Stein gehauenen têtes coupées aufgestellt, wie in Roquepertuse oder Entremont.<ref name="BC">Barry Cunliffe: Die Kelten und ihre Geschichte. 7. Auflage, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2000, S. 82 f.</ref> Neuere archäologische Forschungen haben ergeben, dass die Schädel auf der Innenseite der Pfeiler angebracht waren, also in den Kultraum „hineinsahen“, deshalb wohl keine Schutzfunktion hatten, sondern ein Teil der „Schädelmystik“ als Apotropäische Handlung waren. Ob es sich dabei um die Köpfe von Feinden, von charismatischen Persönlichkeiten oder von Menschenopfern handelte, kann nicht festgestellt werden.<ref name="HB" /> Für die späteisenzeitlichen Schädel aus der Themse wird eine Deutung als absichtliche Deponierungen erwogen.<ref>Richard Bradley, Ken Gordon, Human skulls from the River Thames, their dating and significance. Antiquity 62, 1988, 503-509.</ref>
Im christianisierten Irland sind Kirchen- und Klosterportale mit aus Stein gehauenen têtes coupées zu finden, ein Beispiel ist die romanische Kathedrale von Clonfert (irisch: Cluain Fearta, dt. „Kleinfort“) im Osten des County Galway.<ref name="BC" />
Die Kopfjagd
Diodor schildert die Kopfjagd der Kelten: „Den gefallenen Feinden schlagen sie die Köpfe ab und hängen sie am Hals ihrer Pferde auf; die blutigen Waffen aber geben sie ihren Dienern und lassen sie als Beute unter Kriegsgeschrei und Triumphgesängen einhertragen.“<ref name="DS" />
Ein römischer Bericht über die Schlacht bei Clusium (295 v. Chr.) schildert die Kopfjagd der keltischen Senonen - es war dies der letzte große gallische Sieg in Italien: „Die Consuln wurden des Unheils erst gewahr, als gallische Reiter in Sicht kamen, die an den Hälsen ihrer Pferde oder auf ihren Lanzen aufgespießte Köpfe mit sich führten und ihre üblichen Triumphgesänge sangen.“<ref>Titus Livius: Ab urbe condita libri CXLII (lat. „Von der Gründung der Stadt an – 142 Bücher“), X, 26.</ref>
Der Kopf des bei Modena 216 v. Chr. von den keltischen Hilfstruppen Hannibals, den Boiern, erschlagenen römischen Feldherren Lucius Postumius wurde skelettiert und mit einer Goldeinfassung versehen im Stammesheiligtum zu Tranklibationen verwendet.<ref>Titus Livius: Ab urbe condita libri CXLII (lat. „Von der Gründung der Stadt an – 142 Bücher“), XXIII, 24.</ref>
Auch zur Zeit des Gallischen Krieges von Gaius Iulius Caesar ist die Kopfjagd noch überliefert. Auf einer Münze des Aeduerfürsten Dumnorix ist ein Krieger mit einem tête coupée in der Hand abgebildet.<ref name="BC" />
Auf dem Gemälde des Schweizer Malers Charles Gleyre ist in der Art der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts die Szene der 107 v. Chr. von den südgallischen Volcae-Tectosages durch das Joch getriebenen Legionäre von zwei auf Stangen gespießten Centurionenköpfen flankiert.<ref>Barry Cunliffe: Die Kelten und ihre Geschichte. 7. Auflage, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2000, S. 145.</ref>
Mythologie
In den keltischen Heldenmythen ist die Kopfjagd ein Topos aller Sagen. Die Helden übertrumpfen einander mit ihren Erzählungen über die Zahl der erbeuteten Köpfe, besonders beim Streit um den Heldenbissen. In der Sage Scéla mucce Meic Dathó („Die Geschichte vom Schwein des Mac Dathó“) streitet der Connacht-Krieger Cet mac Mágach mit Conall Cernach um den Heldenbissen. Der schwächere Cet gibt schließlich nach, behauptet aber, dass Conall sicher den Helden Anlúan fürchten würde, wenn dieser anwesend wäre.
„‚Aber er ist ja da!‘ rief Conall, nahm Anlúans Kopf aus seinem Sack und warf ihn so heftig gegen Cets Brust, dass ein Mundvoll Blut über seine Lippen spritzte.“<ref>Rudolf Thurneysen: Sagen aus dem alten Irland. Berlin 1901, Nachdruck Insel Taschenbuch 1301, Frankfurt/M. 1991, S. 16 f.</ref>
Nach Conalls Tod wird sein riesiger Schädel als Reliquie aufbewahrt, aber nach Munster verschleppt. Eine Prophezeiung besagt jedoch, er werde wieder nach Ulster zurückgebracht werden und die Ulter würden dann die ihnen zur Strafe gegebene „Schwäche vor dem Kampfe“ verlieren, wenn sie aus dem mit Milch gefüllten Schädel tränken.<ref>Rudolf Thurneysen: Die irische Helden- und Königssage bis zum siebzehnten Jahrhundert. Halle 1921, S. 581.</ref>
Auch bei den gessi (Tabus) spielt der erbeutete Feindesschädel eine große Rolle; so musste zum Beispiel Fothad Canainne beim Biertrinken immer die Köpfe dreier erschlagener Gegner dabei haben.<ref>Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997, ISBN 3-7001-2609-3, S. 830.</ref>
In der Erzählung Macgnímrada Con Culainn („Cú Chulainns Knabentaten“) wird die Ankunft des berühmtesten Ulster-Kriegers Cú Chulainn in Emain Macha so geschildert: „[...] und schrecklich kommt er daher. Er hat die blutigen Köpfe seiner Feinde im Wagen.“
Manchmal werden die têtes coupées auch am Kampfort zurückgelassen, wie ein Reisender über Cu Chulainns Sieg an der Furt berichtet: „Er sah in der Mitte der Furt nur den gegabelten Pfahl mit vier Köpfen daran, deren Blut [...] in den strömenden Fluss tropfte, und die Hufspuren zweier Pferde und die Spur eines einzelnen Wagenlenkers und eines einzelnen Kriegers, die aus der Furt nach Osten führten.“<ref name="BC" /> Nur nach dem Sieg gegen seinen ehemaligen Waffenbruder Fer Diad verzichtet er aus Trauer auf die Trophäe.
Eine spezielle Art der Trophäenpflege wird in den Erzählungen Cath Étair („Die Schlacht von Étar“) und Aided Chonchobuir („Der Tod Conchobar mac Nessas“) dargestellt. Das Gehirn Mes Gegras wird von Conall Cernach dem Kopf des enthaupteten Gegners entnommen, mit Kalk vermischt, zu einem Ball geformt und so aufbewahrt: „So nimm das Gehirn heraus. Zerschneide es mit dem Schwert, dann mische Kalk darunter und forme einen Ball daraus.“<ref>Rudolf Thurneysen: Die irische Helden- und Königssage. Verlag Georg Olms, Hildesheim 1980, S. 77. f</ref>
Als im Zweiten Zweig des Mabinogi der walisische König Bran der Gesegnete in Irland getötet und enthauptet wird, nehmen seine Getreuen den Kopf mit zurück nach Wales. Er lebt weiter, gibt ihnen Ratschläge, wie sie die Gefahren meistern können und wird schließlich im „Weißen Berg“ (Gwynvryn), wahrscheinlich dem ältesten Teil des Londoner Towers, beigesetzt – mit dem Blick nach Frankreich, damit kein Unheil aus dem Osten kommen könne.<ref name="HB" />
Siehe auch
- Keltische Religion
- Liste keltischer Götter und Sagengestalten
- Liste inselkeltischer Mythen und Sagen
Literatur
- Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997, ISBN 3-7001-2609-3.
- Barry Cunliffe: Die Kelten und ihre Geschichte. 7. Auflage, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2000.
- Titus Livius: Ab urbe condita libri CXLII (lat. „Von der Gründung der Stadt an – 142 Bücher“), ins Deutsche übersetzt von Otto Güthling, hrsg. von Lenelotte Möller, Marix Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-86539-194-0.
Einzelnachweise
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