Materialismusstreit
Der Materialismusstreit war eine in der Mitte des 19. Jahrhunderts geführte Kontroverse um die weltanschaulichen Konsequenzen der Naturwissenschaften. Beeinflusst durch die methodologische Erneuerung der Biologie und den Niedergang der idealistischen Philosophie wurde in den 1840er Jahren ein Materialismus formuliert, der den Menschen naturwissenschaftlich zu erklären beanspruchte. Im Zentrum der Kontroversen stand die Frage, ob die Ergebnisse der Naturwissenschaften mit dem Konzept einer immateriellen Seele, eines personalen Gottes und eines freien Willens vereinbar sind. Zudem konzentrierte sich die Debatte auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen einer materialistischen Weltanschauung.
In den Physiologischen Briefen aus dem Jahre 1846 erklärte der Zoologe Carl Vogt, dass „die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.“<ref>Physiologische Briefe, S.323.</ref> Vogts polemisches Bekenntnis zum Materialismus griff 1854 der Physiologe Rudolf Wagner in einer Rede vor der Göttinger Naturforscherversammlung kritisch auf. Wagner argumentierte, dass der christliche Glauben und die Naturforschung zwei voneinander weitgehend unabhängige Sphären bildeten. Die Naturwissenschaften könnten daher nichts zu den Fragen nach der Existenz Gottes, der immateriellen Seele oder des freien Willens beitragen.
„Man darf es nicht immer hingehen lassen, wenn dies frivole Gesindel die Nation um die theuersten von unseren Vätern ererbten Güter betrügen will und schamlos aus dem gährenden Inhalte seiner Eingeweide den stinkenden Athem dem Volke entgegenbläst und diesem weiss machen will, es sei eitel Wohlgeruch.“<ref>Ueber Wissen und Glauben, S.IV.</ref>
Wagners Attacken riefen ebenso scharfe Reaktionen Vogts hervor, wobei der materialistische Standpunkt in den folgenden Jahren ebenfalls von dem Physiologen Jakob Moleschott und dem Arzt Ludwig Büchner, einem Bruder des bekannten Schriftstellers Georg Büchner, verteidigt wurde. Die Materialisten präsentierten sich als Vorkämpfer gegen die philosophische, religiöse und politische Reaktion und konnten auf eine breite Unterstützung im Bürgertum zählen. Das Versprechen einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung entwickelte sich zu einem prägenden Element der kulturellen Konflikte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Inhaltsverzeichnis
Entwicklung des naturwissenschaftlichen Materialismus
Emanzipation der Biologie
Die Entstehung eines populären Materialismus wurde durch eine „nach 1830 zum Gemeinplatz werdende Polemik gegen die romantisch-idealistische Naturphilosophie“<ref>Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1883, S.100</ref> begünstigt, die sich gleichermaßen auf Naturwissenschaft, Philosophie und Politik auswirkte.
Aus wissenschaftshistorischer Perspektive erwies sich insbesondere die durch Matthias Jacob Schleiden begründete Zelltheorie als folgenreich. In den 1838 erschienenen Beiträgen zur Phytogenesis erklärte Schleiden die Zelle zum Grundbaustein aller Pflanzen und identifizierte zudem den 1831 entdeckten Zellkern als wesentlichen Faktor des Pflanzenwachstums.<ref>Matthias Jacob Schleiden: „Beiträge zur Phytogenesis“ in: Archiv für Anatomie, 1838, S. 137–176.</ref> Die zelluläre Theorie des Aufbaus pflanzlicher Organismen bedeutete eine inhaltliche Neuausrichtung der Botanik, die sich bis dahin wesentlich durch die makroskopische Beschreibung von Formen ausgezeichnet hatte. Zugleich verknüpfte Schleiden seine Theorie über den Aufbau der Pflanzen mit einer methodologischen Attacke auf die idealistische Naturphilosophie. Die Zelltheorie basiere auf der empirisch überprüfbaren Beobachtung, denn „über die Gegenstände der körperlichen Naturwissenschaften beherrscht Einer gerade nur so viel Thatsachen, als er selbst beobachtet hat.“ Die Spekulationen der Naturphilosophen seien demgegenüber nicht in der strengen Beobachtung gegründet und folglich müsse alles „Systeme- und Theorieschmieden bei Seite geworfen“ werden.<ref>Schleiden, zitiert nach: Annette Wittkau-Horgby: Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Vandehoeck & Ruprecht, Göttingen 1996, S.54f.</ref>
Schleidens Programm einer methodisch erneuerten Botanik wurde in den folgenden Jahren auf andere biologische Disziplinen übertragen. Bereits 1839 publizierte Theodor Schwann seine Mikroskopischen Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Schwann erklärte, dass die Zelltheorie das allgemeine Prinzip des Lebens aufdecke. Alle Lebewesen seien vollständig aus Zellen aufgebaut, zudem könne die Bildung von Organen durch Wachstum und Vermehrung der Zellen erklärt werden. Rudolf Virchow proklamierte in diesem Zusammenhang: „Leben ist seinem Wesen nach Zellentätigkeit.“<ref>Rudolf Virchow: „Über das Bedürfnis und die Richtigkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt“ in: Virchows Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin, Heft 1, 1907 (1845) S.8.</ref> Die Zelltheorie eröffnete somit die Perspektive einer naturwissenschaftlichen Theorie des Lebens, auf der die Materialisten wenige Jahre später aufbauen konnten.
Abwendung von der idealistischen Philosophie
Parallel zur methodologischen Neuausrichtung der biologischen Disziplinen entwickelte sich im intellektuellen Klima des Vormärz eine allgemeine Kritik am konservativen Erbe des deutschen Idealismus.<ref>Walter Jaeschke: Philosophie und Literatur im Vormärz. Der Streit um die Romantik (1820–1854), Meiner, Hamburg 1998.</ref> In den Naturwissenschaften selbst blieb die Kritik an der naturphilosophischen Methodologie moderat, viele Biologen blieben entschiedene Antimaterialisten. Demgegenüber entstanden nur wenige Jahre nach Hegels Tod 1831 philosophische Bewegungen, die auch weltanschaulich radikal mit dem deutschen Idealismus brachen.
Von besonderer Bedeutung und gesellschaftlicher Brisanz war die Religionskritik, wie sie Ludwig Feuerbach in der Schrift Das Wesen des Christentums formulierte.<ref>Vgl. Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, S. 13–28.</ref> Feuerbach hatte ab 1824 bei Hegel in Berlin studiert, über zwei Jahre jede seiner Vorlesungen besucht und bis in die 1830er Jahre traditionell idealistische Texte geschrieben. Dennoch entwickelten sich bei Feuerbach und vielen anderen jungen Hegelschülern Zweifel. Den Junghegelianern war nicht nur der politische Konservatismus des deutschen Idealismus suspekt, zugleich schien ihnen die von empirischen Beobachtungen losgelöste Systemphilosophie zunehmend verfehlt. 1839 war Feuerbach schließlich zu einer Grundsatzkritik an seinem Lehrer bereit. Hegels idealistisches System möge kohärent und schlüssig sein, es habe sich jedoch von der sinnlichen Natur auf unzulässige Weise entfernt. Die Philosophie müsse im sinnlich Gegebenen gründen, nur so könne sie zu einer Erkenntnis von Natur und Wirklichkeit gelangen. „Eitelkeit ist daher alle Spekulation, die über die Natur und den Menschen hinaus will.“<ref>Ludwig Feuerbach: „Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“, in: Gesammelte Werke, Band III, Akademie Verlag, Berlin, 1967–2007, S.52.</ref> Die Idee einer von der Spekulation emanzipierten Naturbetrachtung wurde von Feuerbach und den neuen biologischen Bewegungen geteilt. Doch Feuerbachs Ziel war eine anthropologische und keine naturwissenschaftliche Theorie des Menschen.
Welchen Zündstoff Feuerbachs Anthropologie enthielt, wurde in seiner Religionsphilosophie deutlich. Die idealistische Philosophie habe den Fehler gemacht, die Wahrheit der theologischen Lehren in abstrakten Argumentationen zu beweisen. In Wirklichkeit sei Religion jedoch keine metaphysische Wahrheit, sondern Ausdruck menschlicher Bedürfnisse. Theologen und Philosophen könnten die Existenz Gottes nicht beweisen, da Gott eine Erfindung sei, die sich aus der „Natur des Menschen“ ergebe. Feuerbachs Argumentation war nicht gegen Religionen im Allgemeinen gewendet, für den religiösen Glauben gebe es durchaus gute Gründe. Diese Gründe seien jedoch psychologischer Art, Religionen befriedigten reale menschliche Bedürfnisse. Philosophisch-theologische Beweise der Existenz Gottes seien demgegenüber spekulative Phantasien. Feuerbachs Religionskritik wurde als radikaler Angriff auf das kulturelle Establishment aufgenommen, Mitte der 1840er Jahre war er zum Zentrum der philosophischen Erneuerungsbewegungen geworden.
Carl Vogt und die politische Opposition
Die ab 1847 publizierten materialistischen Thesen des Physiologen Carl Vogt boten den äußeren Anlass des Materialismusstreits. Vogts Wendung zum Materialismus war wesentlich durch die naturwissenschaftlichen und kulturellen Erneuerungsbewegungen geprägt, eine mindestens genauso große Rolle spielte jedoch seine politische Entwicklung.<ref>Vgl. hierzu: Hermann Misteli: Carl Vogt: seine Entwicklung vom angehenden naturwissenschaftlichen Materialisten zum idealen Politiker der Paulskirche (1817–1849), Gebr. Leemann, Zürich 1938.</ref> 1817 in Gießen geboren, wuchs Vogt in einer Familie auf, die naturwissenschaftliche und sozialrevolutionäre Tendenzen miteinander verband. Carls Vater Philipp Friedrich Wilhelm Vogt war Medizinprofessor in Gießen, bis er 1834 aufgrund drohender politischer Verfolgung eine Professur in Bern annahm. Die politischen Verwicklungen standen in der Tradition der Familie mütterlicherseits, die drei Brüder Louise Follens wurden allesamt aufgrund ihrer nationalistischen und demokratischen Aktivitäten in die Emigration gedrängt.<ref>Wolfgang Hardtwig: Deutsche Geschichte der neuesten Zeit. Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, dtv, München 1997, S.13ff.</ref>
Adolf Follen verfasste 1817 die Grundzüge für eine künftige Reichsverfassung und wurde zwei Jahre später wegen „deutscher Umtriebe“ verhaftet. Das Schweizer Exil bewahrte ihn vor einer 10-jährigen Festungshaft. Karl Follen verteidigte in einem Flugblatt den Tyrannenmord und galt daher als geistiger Urheber des Attentats auf den Schriftsteller August von Kotzebue. Ihm gelang die Flucht in die Vereinigten Staaten, wo er sich ab 1825 als Professor für deutsche Sprache an der Harvard University etablierte. Paul Follen, der jüngste der Brüder, gründete 1833 mit Friedrich Münch die Gießener Auswanderungsgesellschaft. Das Ziel einer deutschen Republik in den Vereinigten Staaten scheiterte, Paul Follen ließ sich als Farmer in Missouri nieder.
Carl Vogt begann 1833 in Gießen Medizin zu studieren, wandte sich jedoch bald der Chemie bei Justus Liebig zu. Liebigs experimentelle Methoden standen in explizitem Kontrast zur idealistischen Naturphilosophie. Als Mitbegründer der organischen Chemie lehnte Liebig eine Trennung zwischen lebenden Prozessen und toter Materie ab und bot Vogt somit eine gedankliche Voraussetzung des später entwickelten Materialismus.<ref>Liebig lehnte den Materialismus jedoch vehement ab: Wilhelm Brock: Justus von Liebig. Vieweg, Wiesbaden 1999, S. 250.</ref> 1835 machten jedoch politische Umstände eine Fortsetzung des Studiums in Gießen unmöglich. Nachrichten, dass er einem politisch verfolgten Studenten zur Flucht verholfen habe, ließen ihn selbst zum Ziel der Polizei werden. Vogt wanderte daraufhin in die Schweiz aus, wo er 1839 sein Studium an der medizinischen Fakultät abschloss.
In den frühen 1840er Jahren war Vogt mit der politischen Opposition und den neuen naturwissenschaftlichen Bewegungen in Kontakt gekommen, hatte jedoch noch nicht seinen weltanschaulichen Materialismus entwickelt. Dies änderte sich während seines dreijährigen Aufenthalts in Paris, der wesentlich zu Vogts politischer und weltanschaulicher Radikalisierung beitrug. Die Bekanntschaft mit den Anarchisten Michael Bakunin und Pierre-Joseph Proudhon prägte Vogts politisches Denken nachhaltig. Ab 1845 begann er zudem seine Physiologischen Briefe zu veröffentlichen, mit denen er in Anlehnung an Liebigs Chemische Briefe eine allgemeinverständliche Darstellung der Physiologie veröffentlichte.
Die ersten Briefe enthielten noch keine Hinweise auf Vogts Materialismus, erst in dem 1846 erschienenen Brief über Nervenkraft und Seelenthätigkeit erklärte Vogt, „dass der Sitz des Bewußtseins, des Willens, des Denkens endlich einzig und allein in dem Gehirne gesucht werden muss“.<ref>Physiologische Briefe. S. 322.</ref>
Zunächst hatte jedoch die politische Praxis Vorrang gegenüber der materialistischen Theorie. Vogt war gerade durch Einflussnahme Liebigs und Alexander von Humboldts zum Professor für Zoologie in Gießen berufen worden, als im März 1848 die Deutsche Revolution begann und sich in verschiedenen Teilen Deutschlands demokratische Kräfte gegen die sogenannte Reaktion erhoben. Als diese Märzrevolution auch die kleine Universitätsstadt Gießen erreichte, ließ sich Vogt zum Befehlshaber der Bürgerwehr ernennen und vertrat schließlich den 6. Wahlkreis Hessen-Darmstadt in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 bis 1849. Nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm angetragene Kaiserwürde abgelehnt hatte und politische Niederlagen zum Auseinanderbrechen der Nationalversammlung führten, zog Vogt mit den verbliebenen 158 Abgeordneten nach Stuttgart, um dort Anfang Juni 1849 das schon nach wenigen Wochen zwangsweise aufgelöste sogenannte Rumpfparlament zu bilden.
Von diesem Restparlament zu einem der „fünf Reichsregenten“ ernannt, fand sich Vogt im Zentrum der politischen Opposition wieder. Bereits am 18. Juni des Jahres besetzten württembergische Truppen den Tagungsort. Vogt emigrierte in die Schweiz und nahm im Haus seiner Eltern Zuflucht. In den politischen Ambitionen gescheitert und seiner akademischen Karriere beraubt, konzentrierte er sich wieder auf biologische Studien, die er nun radikal weltanschaulich deutete.
Verlauf
Materialismusstreit bis 1854
Ohne klare akademische Perspektiven begab sich Vogt 1850 nach Nizza, um sich dort zoologischen Studien zu widmen. Seine im folgenden Jahr publizierten Untersuchungen über Thierstaaten verknüpften die Zoologie mit einer bitteren Abrechnung mit den deutschen Verhältnissen. Politisch war das Buch ein Plädoyer für den Anarchismus, „jede Staatsform, jedes Gesetz kein einziger Punkt, welcher mit irgend einem Lehrsatze der modernen Physiologie und Naturwissenschaft im Widerspruch wäre.“<ref>Ueber Wissen und Glauben, S.30.</ref>
Köhlerglaube und Wissenschaft
Wagners öffentlichkeitswirksame Streitschriften hatten die seit einigen Jahren schwelende Materialismusdebatte endgültig ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Vogt reagierte prompt mit dem Pamphlet Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen. Der Text ist in der ersten Hälfte wesentlich durch drastische ad-hominem-Attacken gegen Wagner geprägt. Dieser sei kein seriöser und produktiver Wissenschaftler, sondern schmücke sich als Herausgeber zahlloser Werke lediglich mit der Forschungsarbeit anderer. Zudem habe er versucht, seine materialistischen Kritiker mit Hilfe der Staatsgewalt zu unterdrücken. Den besonderen Zorn Vogts erregte Wagners Behauptung, dass die materialistische Leugnung der Willensfreiheit angesichts der politischen Ereignisse von 1848 (Märzrevolution) gesellschaftlich unverantwortlich sei:
„Erbärmlicher Wicht! Wo hast Du denn mitgerungen, mitgefühlt, mit Theil genommen auf der einen oder anderen Seite? erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die Gott und Natur zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind für sie untrennbar verbunden.“<ref>Ernst Haeckel: Die Welträthsel, Kröner, Leipzig 1908, S.13</ref>
Haeckels Monismus unterscheidet sich jedoch vom Materialismus, da er der Materie keine Vorrangstellung zuerkennt, Körper und Geist sind untrennbare und gleichermaßen grundlegende Aspekte einer Substanz. Ein derartiger Monismus schien du Bois-Reymonds Problem zu umgehen. Wenn Materie und Geist gleichermaßen grundlegende Aspekte einer Substanz sind, dann muss der Geist auch nicht mehr durch die Materie erklärt werden.
Auch Büchner sah in einem solchen Monismus die richtige Reaktion auf die philosophische Kritik am Materialismus. In einem Brief an Haeckel aus dem Jahre 1875 schreibt er:
„Ich […] habe daher die Bezeichnung ‚Materialismus‘, welche eine ganz einseitige Vorstellung weckt, nie für meine Richtung gebraucht und sie nur nothgedrungen später hier und da acceptiert, weil das große Publikum kein anderes Wort für die ganze Richtung kannte […]. Die von Ihnen vorgeschlagene Bezeichnung ‚Monismus‘ ist zwar an sich sehr gut; es fragt sich aber sehr, ob sie bei dem großen Publikum dauern Eingang gewinnen wird.“<ref>Büchner an Haeckel, 30. März 1875, in: Christoph Knockerbeck (Hrsg.): Carl Vogt, Jacob Moleschott, Ludwig Büchner, Erst Haeckel. Briefwechsel, Basiliken Presse, Marburg 1999, S.145</ref>
Politische und weltanschauliche Wirkung
Die Materialisten mochten zu großer Popularität in der Bevölkerung gelangen, politisch waren sie weit weniger erfolgreich. Das Eintreten für den Materialismus kostete Vogt, Moleschott und Büchner ihre berufliche Laufbahn an den deutschen Universitäten. Der von Vogt propagierte revolutionäre Gehalt des Materialismus konnte sich in der Reaktionsära nach 1848 nicht durchsetzen. In den politischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb der naturwissenschaftliche Materialismus ebenfalls ohne wesentlichen Einfluss, auch aufgrund von Differenzen mit Karl Marx und Friedrich Engels. Vogt wurde von Marx als „kleinuniversitätischer Bierpolterer und verfehlter Reichsbarrot“ bezeichnet<ref>Karl Marx: Herr Vogt, in: Marx-Engels-Werke, Band 14, Dietz, Berlin 1961, S.463</ref> und die Konflikte eskalierten zunehmend in persönlichen Denunziationen. So wurde etwa Vogt aus dem Umfeld von Marx mit dem Vorwurf konfrontiert, als französischer Spion gearbeitet zu haben.<ref>Vgl. hierzu: Frederick Gregory: „Scientific versus Dialectical Materialism: A Clash of Ideologies in Nineteenth-Century German Radicalism“, in: ISIS, 68 (2), 1977, S. 206–223.</ref>
Die veränderte politische Lage wird auch in dem Werk Ernst Haeckels deutlich, der von den Materialisten die Idee einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung übernahm, ihr jedoch eine neue politische Richtung gab. Haeckel, 17 Jahre jünger als Vogt, etablierte sich in den 1860er Jahren als Repräsentant des Darwinismus in Deutschland. In seiner polemischen Ablehnung von „Kirchen-Weisheit und […] After-Philosophie“<ref>Ernst Haeckel: Anthropogenie, Wilhelm Engelmann, Leipzig 1874, S.IX.</ref> ähnelte Haeckel den naturwissenschaftlichen Materialisten durchaus. Vogt hatte in der Physiologie den Beginn einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung gesehen. Haeckel beanspruchte mit Bezug auf Charles Darwin das Gleiche:
„In diesem Geistes-Kampfe, der jetzt die ganze denkende Menschheit bewegt und der ein menschenwürdiges Dasein in der Zukunft vorbereitet, stehen auf der einen Seite unter dem lichten Banner der Wissenschaft: Geistesfreiheit und Wahrheit, Vernunft und Cultur, Entwickelung und Fortschritt; auf der anderen Seite unter der schwarzen Fahne der Hierarchie: Geistesknechtschaft und Lüge, Unvernunft und Rohheit, Aberglauben und Rückschritt.“<ref>Ernst Haeckel: Anthropogenie, Wilhelm Engelmann, Leipzig 1874, S.XII.</ref>
Doch „Fortschritt“ war bei Haeckel wesentlich antiklerikal in Opposition zur Kirche und nicht politisch in Opposition zum Staat gedacht. Bismarcks 1871 beginnender Kulturkampf gegen die katholische Kirche bot Haeckel sogar die Gelegenheit, den antiklerikalen Monismus mit der Politik Preußens zu verknüpfen. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs wurden Haeckels Äußerungen zunehmend nationalistisch, Rassentheorien und Eugenik boten eine scheinbar naturwissenschaftlich begründete Rechtfertigung chauvinistischer Politik. Vogts Ideal einer politisch revolutionären Naturwissenschaft war damit endgültig gescheitert.
Rezeption im 20. Jahrhundert
Der wissenschaftliche Materialismus hatte die weltanschaulichen Kontroversen im 19. Jahrhundert wesentlich geprägt. In den 1860er Jahren drängten sich die Debatten um Darwins Evolutionstheorie und Haeckels Monismus zunehmend in den Vordergrund. Die Frage nach einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung wurde jedoch weiter kontrovers diskutiert, Büchners Kraft und Stoff blieb ein Bestseller.
Einen Einschnitt bedeuteten der Erste Weltkrieg und der Tod Haeckels 1919. In der Weimarer Republik schienen die Debatten der 1850er Jahre nicht mehr zeitgemäß, die philosophischen Strömungen der Zwischenkriegszeit waren bei allen inhaltlichen Unterschieden durchweg materialismuskritisch. Dies trifft auch auf den Logischen Positivismus zu, der zwar an der Idee einer wissenschaftlichen Weltanschauung festhielt, sie jedoch konsequent antimetaphysisch deutete.<ref>Einen Überblick bietet: Michael Heidelberger: „Wie das Leib-Seele-Problem in den logischen Empirismus kam“, in: Michael Pauen und Achim Stephan. (Hrsg.) Phänomenales Bewusstsein – Rückkehr zur Identitätstheorie?, Mentis, Paderborn 2002, S. 43–70.</ref> Dem Sinnkriterium der logischen Positivisten zufolge war eine Aussage nur dann verständlich, wenn sie sich empirisch überprüfen ließ. Materialismus und Monismus scheiterten an diesem Kriterium genauso wie der Idealismus und Dualismus. All diese Positionen erschienen somit als verfehlte Phantasien einer vergangenen, spekulativen Epoche der Philosophie. Materialistische Theorien des Bewusstseins wurden erst in den 1950er Jahren in der angelsächsischen Philosophie wieder aufgegriffen. In dieser Zeit waren die naturwissenschaftlichen Materialisten des 19. Jahrhunderts jedoch endgültig in Vergessenheit geraten. In keinem dieser Texte wird auf Vogt, Moleschott oder Büchner verwiesen, die Materialisten der Nachkriegszeit konzentrierten sich vielmehr auf die zeitgenössischen Neurowissenschaften.<ref>Ullin Place: „Is Consciousness a Brain Process?“ in: British Journal of Psychology 47, 1956, S. 44–50 und John J.C. Smart: „Sensations and Brain Processes“ in: The Philosophical Review 68, 1959. S. 141–156.</ref>
Auch wissenschafts- und philosophiehistorisch wurde der naturwissenschaftliche Materialismus bis in die 1970er weitgehend ignoriert.<ref>Eine Ausnahme bietet Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Schwabe, Basel 1963.</ref> Relativ früh begann die Rezeption in der DDR unter dem Einfluss Dieter Wittichs, der 1960 mit einer Arbeit über die wissenschaftlichen Materialisten promoviert wurde<ref>Dieter Wittich: Der deutsche kleinbürgerliche Materialismus der Reaktionsjahre nach 1848/49, Dissertation, unveröffentlicht, Berlin 1960.</ref> und 1971 im Akademie Verlag eine Textsammlung unter dem Titel Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland herausgab. Wittich, Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Erkenntnistheorie in der DDR, würdigte in seiner ausführlichen Einleitung das politische, wissenschaftliche und religionskritische Wirken der Materialisten. Zugleich betonte er jedoch ihre philosophischen Mängel, die „kleinbürgerlichen Materialisten“ seien „Vulgärmaterialisten, weil sie zu einer Zeit auf dem metaphysischen Materialismus beharrten, als der dialektische Materialismus nicht nur Möglichkeit, sondern auch Wirklichkeit geworden war.“<ref>Vogt, Moleschott, Büchner: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, S.LXIV</ref>
1977 erschien die Monographie Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Frederick Gregory, die bis heute als Standardwerk gilt. Nach Gregory ist die Bedeutung Vogts, Moleschotts und Büchners weniger in ihrer spezifischen Ausarbeitung des Materialismus zu suchen. Entscheidender sei die gesellschaftliche Wirkung ihrer naturwissenschaftlich motivierten Kritik an Religion, Philosophie und Politik gewesen. „Das herausragende Merkmal des wissenschaftlichen Materialisten war aus historischer Perspektive nicht ihr Materialismus, sondern ihr Atheismus oder angemessener ihre humanistische Religion.“<ref>Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, S.213.</ref>
Gregorys Urteil entsprechend wird in der gegenwärtigen Forschungsliteratur die Bedeutung der Materialisten im Säkularisierungsprozess des 19. Jahrhunderts allgemein anerkannt, während ihre philosophischen Positionen zum Teil weiter heftiger Kritik ausgesetzt sind. So erklärt etwa Renate Wahsner: „Es kann der in der Literatur vertretenen Auffassung nicht widersprochen werden, die allen dreien Schärfe und Tiefe im Denken abspricht“.<ref>Renate Wahsner: „Der Materialismusbegriff in der Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Kurt Bayertz, Walter Jaeschke, Myriam Gerhard (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert: Der Materialismusstreit, Band 1. Meiner, Hamburg 2007, S.73</ref> Nicht alle Autoren teilen diese negative Einschätzung, so verteidigt etwa Kurt Bayertz die Aktualität der naturwissenschaftlichen Materialisten, da diese „die erste voll ausgeprägte Form des modernen Materialismus“ erarbeitet hätten. „Wir haben es bei der von Vogt, Moleschott und Büchner erarbeiteten Form des Materialismus zwar nur mit einer Form des Materialismus zu tun, aber mit der für die Moderne typischen und in der Gegenwart einflußreichsten und wirksamsten Form.“<ref>Kurt Bayertz: „Was ist moderner Materialismus?“, in: Kurt Bayertz, Walter Jaeschke, Myriam Gerhard (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert: Der Materialismusstreit, Band 1. Meiner, Hamburg 2007, S.55</ref> Eine Auseinandersetzung mit aktuellen Materialismuskontroversen müsse daher im 19. Jahrhundert ansetzen.
Literatur
- Primärliteratur
- Ludwig Büchner: Kraft und Stoff (Kröners Taschenausgabe; 102). Kröner Verlag, Leipzig 1932 (Nachdr. d. Erstausg. Darmstadt 1855).
- Friedrich Albert Lange: Die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1974, ISBN 3-518-07670-1 (2 Bde.; Nachdr. d. Erstausg. Berlin 1866).
- Jakob Moleschott: Der Kreislauf des Lebens. 5. Aufl. Zabern, Mainz 1877.
- Carl Vogt: Physiologische Briefe 14. Aufl. Rickersche Buchhandlung, Gießen 1874.
- Carl Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrasth Rudolph Wagner in Göttingen. 4. Aufl. Rickersche Buchhandlung, Gießen 1856.
- Rudolf Wagner: Ueber Wissen und Glauben. Mit besonderer Beziehung zur Zukunft der Seelen. Fortsetzung der Betrachtunbg über „Menschenschöpfung und Seelensubstanz“. G.H. Wigand, Göttingen 1854.
- Rudolf Wagner: Menschenschöpfung und Seelensubstanz. ein anthropologischer Vortrag. G.H. Wigand, Göttingen 1854.
- Dieter Wittich: Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Akademie-Verlag, Berlin 1971 (Einzig verfügbare Textsammlung zum Materialismus des 19. Jahrhunderts)
- Karl Vogt, Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände. Jakob Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. 1971. LXXXII,344 S.
- Ludwig Buchner, Kraft und Stoff. Karl Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft. 1971. S. 348-657.
- Sekundärliteratur
- Andreas Arndt, Walter Jaeschke (Hrsg.): Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848. Meiner, Hamburg 2000, ISBN 3-7873-1548-9.
- Kurt Bayertz, Walter Jaeschke, Myriam Gerhard (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert (Der Materialismusstreit; Bd. 1). Meiner, Hamburg 2007, ISBN 3-7873-1777-5.
- Annette Wittkau-Horgby: Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, ISBN 3-525-01375-2 (zugl. Habilitationsschrift, Universität Hannover 1997).
- Frederick Gregory: Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany. Reidel, Dordrecht 1977, ISBN 90-277-0760-X.
- Frederick Gregory: Scientific versus Dialectical Materialism. A Clash of Ideologies in Nineteenth-Century German Radicalism. In: Isis, Bd. 68 (1977), Heft 2, S. 206–223.
- Theobald Ziegler: Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts. Neuaufl. Bondi, Berlin 1911, Kapitel 11.
- Steffen Haßlauer: Polemik und Argumentation in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Eine pragmalinguistische Untersuchung der Auseinandersetzung zwischen Carl Vogt und Rudolph Wagner um die "Seele". Walter de Gruyter, Berlin/New York 2010. ISBN 978-3-11-0229943.
Einzelnachweise
<references />
Weblinks
- Digitalisierte Werke der naturwissenschaftlichen Materialisten im Internet Archive
- Kurt Bayertz und Walter Jaeschke: Der Materialismus-Streit (PDF; 29 kB)
- Rudolf Eisler: Artikel „Materialismus“ in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904
- Ernst Krause: Vogt, Carl. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 40, Duncker & Humblot, Leipzig 1896, S. 181–189.
- Artikel zum Materialismusstreit im deutschen Ärzteblatt, 2006