Mathilde II. (Essen)


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Mathilde II. (* 949; † 5. November 1011) war die Äbtissin des Stifts Essen. Die Enkeltochter Kaiser Ottos des Großen aus dem Geschlecht der Liudolfinger gilt als die bedeutendste Äbtissin der Essener Geschichte. Die Kunstwerke, die sie dem Essener Domschatz hinzufügte, sind in ihrer Bedeutung einzigartig. In der unzuverlässigen Essener Äbtissinnenliste von 1672 wird sie als die zweite Äbtissin dieses Namens geführt. Mathilde I., deren Existenz bestritten wird,<ref>Tobias Nüssel: Überlegungen zu den Essener Äbtissinnen zwischen Wicburg und Mathilde. In: Das Münster am Hellweg 63, 2010, S. 20–22.</ref> soll von 907 bis 910 Äbtissin gewesen sein.

Quellenlage

Schriftliche Quellen zu Mathildes Leben und besonders zu ihrem Wirken sind selten. Aus der Frühzeit des Essener Stifts (ca. 845–1150) existieren insgesamt nur rund 20 Urkunden, jedoch keine zeitgenössische Chronik oder Lebensbeschreibung. Während Mathildes Lebensdaten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Familie der Liudolfinger bekannt sind, kann ihr Wirken lediglich an insgesamt 10 Erwähnungen in anderen Chroniken und erhaltenen Urkunden festgemacht werden. Erst in jüngerer Zeit wird versucht, zusätzlich aus den ihr zuzuordnenden Kunstwerken und Bauten Rückschlüsse auf die Person Mathildes zu ziehen.

Familie und Jugend

Mathilde entstammte der ersten Familie des Reichs. Ihr Vater Liudolf war der älteste eheliche Sohn Kaiser Ottos des Großen, ihre Mutter Ida entstammte dem Geschlecht der Konradiner. Ihr Bruder Otto wurde 973 Herzog von Schwaben und zusätzlich 976 Herzog von Bayern, starb aber bereits 982.

Mathildes Geburtsjahr ist durch Adalbert von Magdeburgs Fortschreibung der Chronik des Regino von Prüm belegt. Mathilde wurde möglicherweise bereits 953 in das Stift Essen zur Erziehung und Ausbildung gegeben, alternativ werden 957, das Todesjahr ihres Vaters, oder 966 angenommen. Das Stift Essen, um 845 von Altfrid, Bischof von Hildesheim, und Gerswid, der ersten überlieferten Äbtissin, gegründet, war seit seiner Gründung den Liudolfingern verbunden. 947 hatte die Äbtissin Hathwig nach einem Brand, der sämtliche Urkunden über die Frühzeit des Stifts vernichtet hatte, von Kaiser Otto I. die alten Rechte des Stifts bestätigen lassen und zugleich die Immunität und Exemtion erwirkt, so dass das Stift weltlich reichsunmittelbar war und geistlich nur dem Papst unterstand. Die Übergabe einer Prinzessin zur Erziehung wertete das Stift weiter auf, es stand damit gleichrangig neben den Stiften von Gandersheim und Quedlinburg als liudolfingisches Hauskloster. Möglicherweise war bereits zu diesem Zeitpunkt entschieden, dass Mathilde später Äbtissin werden solle, spätestens fiel diese Entscheidung 966, als Otto I. den Sanctimonialen des Stifts den Hof Ehrenzell schenkte, was vermutlich ein Geschenk anlässlich Mathildes Eintritt in die Gemeinschaft war.<ref>Bodarwé, Sanctimoniales literattae, S. 54.</ref> Mathilde erhielt, vermutlich durch Äbtissin Hathwig,<ref>Tobias Nüssel: Überlegungen zu den Essener Äbtissinnen zwischen Wicburg und Mathilde. In: Das Münster am Hellweg 63, 2010, S. 30.</ref> eine umfassende, ihrem Stand angemessene Bildung. Zu den in Essen vorhandenen Büchern gehörten neben Evangeliaren auch die religiösen Schriftsteller Prudentius, Boethius wie auch Alkuin, aber auch weltliche Bücher wie Terenz und andere Klassiker, die nicht nur der Lektüre, sondern auch der Schulbildung der dem Stift übergebenen Mädchen dienten.<ref>zum Essener Bücherbestand Bodarwé, Sanctimoniales litteratae, S. 246–282</ref> Mathilde war auf ihr Amt daher bestens vorbereitet. Aus den überlieferten Inschriften des Marsus-Schreines wird geschlossen, dass sie auf Latein dichten konnte und auch etwas Griechisch beherrschte.

Mathilde als Äbtissin

973 wird Mathilde erstmals in einer Urkunde als Äbtissin von Essen genannt. Ausgefertigt am 23. Juli 973 in Aachen heißt es:<ref>Urkunde Nr. 40 in: Theodor Sickel (Hrsg.): Diplomata 13: Die Urkunden Otto des II. und Otto des III. (Ottonis II. et Ottonis III. Diplomata). Hannover 1893, S. 58–59 (Monumenta Germaniae Historica, Digitalisat)</ref>

„Otto bestätigt dem von Bischof Altfried gegründeten Kloster Essen über Bitte der Äbtissin Mathilde und nach dem Rat des Erzbischofs Gero und seines Verwandten Otto gleich seinen Vorgängern die freie Wahl der Äbtissin, die von den früheren Herrschern und anderen Getreuen gemachten Schenkungen, die namentlich aufgezählt werden und deren Besitztitel beim Brand des Klosters zugrunde gegangen sind, und die Immunität mit dem Recht des von der Äbtissin gewählten Vogtes, die Klosterleute im Bedarfsfall vor Gericht zu rufen.“

In dieser Urkunde ist Otto als König Otto II., Gero als der bedeutende Bischof von Köln, dem auch das Gerokreuz seinen Namen verdankt, und der Verwandte Otto als Mathildes Bruder Otto von Schwaben zu lesen. Mathilde war zu diesem Zeitpunkt ungefähr 24 Jahre und damit noch unterhalb des Alters, in dem sie eigentlich die Berufung zur Äbtissin hätte erhalten können.

Mathilde war keine Äbtissin, die abgeschieden in klösterlicher Stille wirkte. Neben der Reise nach Aachen 973 sind weitere Reisen nach Aschaffenburg 982, nach Heiligenstadt 990 sowie 997 nach Dortmund und Thorr belegt. Anzunehmen ist auch eine Reise nach Mainz 986 zum Begräbnis ihrer Mutter. Darüber hinaus muss sie ein weit gespanntes Netz von Kontakten unterhalten haben. Kunsthistorische Gemeinsamkeiten deuten auf Kontakte nach Hildesheim, Trier und Köln. In Koblenz (Hl. Florinus) und Lyon (Hl. Marsus) erwarb sie Reliquien. Dem Kloster Einsiedeln übereignete sie Landbesitz aus dem Besitz ihrer Mutter. Dort wurde sie als Wohltäterin verzeichnet und mit dem Titel ducissa, also Herzogin, geehrt.<ref>Röckelein, Der Kult des heiligen Florinus in Essen, S. 84.</ref> Der angelsächsische Earl Æthelweard, mit dem sie korrespondierte, verfasste für sie seine Chronik, die im Wesentlichen eine Übersetzung der Angelsächsischen Chronik in das Lateinische ist. Sämtliche überlieferten Aktivitäten Mathildes dienten vor allem dazu, den Zweck ihres Klosters zu erfüllen, nämlich für das Seelenheil der verstorbenen Familienmitglieder zu sorgen (Memoria). Dieses wird in der Æthelwardschen Chronik besonders deutlich, in der Æthelward besonderen Wert auf genealogische Zusammenhänge legt, wobei er schon in der Einleitung auf seine und Mathildes gemeinsame Abstammung von König Athelwulf von Wessex hinweist.<ref>Bodarwé, Sanctimoniales litteratae, S. 279-280; van Houts, Woman and the writing of history in the early Middle Ages, the case of Abbess Mathilda of Essen and Aethelweard. In: Early Medieval Europe 1992, 56ff.</ref>

Die Politikerin

Das Stift Essen war eine Reichsabtei wie Gandersheim oder Quedlinburg; die Äbtissin selbst stammte aus der kaiserlichen Familie. Belege dafür, dass sie wie ihre gleichnamige Tante, die Äbtissin Mathilde von Quedlinburg, und ihr jüngerer Bruder Otto am Italienzug ihres mit ihrem Bruder gleichaltrigen Onkels Otto II. teilnahm, fehlen. Belegt durch einen Eintrag in eine Handschrift des Stiftes St. Peter und Alexander ist jedoch ihre Teilnahme am Begräbnis ihres in Italien verstorbenen Bruders in der von ihrem Vater begründeten Stiftskirche St. Peter und Alexander in Aschaffenburg.

Der Italienzug Ottos II., auf dem sowohl er als auch Otto von Schwaben verstarben, war ein Wendepunkt in Mathildes Leben. Zum einen war sie durch den Tod Ottos von Schwaben das letzte Mitglied des schwäbischen Zweigs der Liudolfinger, wodurch sie Verwalterin der Hausgüter dieses Familienzweigs wurde.<ref>Beuckers, Das Otto-Mathilden-Kreuz im Essener Münsterschatz, S. 54.</ref> Zum anderen katapultierten sie die Todesfälle mitten in die Reichspolitik, da dem Erben Ottos II., dem dreijährigen Otto III., das Recht auf die Regentschaft von Heinrich dem Zänker streitig gemacht wurde, jenem Verwandten, der 976 sein Herzogtum Bayern an Mathildes Bruder Otto verloren hatte. Traditionell wird auf die fehlenden schriftlichen Nachweise eines Wirkens Mathildes die Annahme gestützt, sie habe nach dem Tod ihres Bruders keinen politischen Einfluss mehr ausgeübt. Gegen diese These spricht, dass Mathilde sicher nicht in der Gunst Heinrichs des Zänkers stand, und ein Erfolg Heinrichs zu einer Minderung herrschaftlicher Zuwendung und damit zu einem Bedeutungsverlust des Stifts Essen geführt hätte. Es erscheint deshalb plausibel anzunehmen, dass Mathilde in dieser Situation in das Geschehen eingriff. Auf dem Stifterbild des um 983 entstandenen Otto-Mathilden-Kreuzes ist sie, entgegen üblichen Stifterdarstellungen, in aufrecht stehender Haltung und in der Kleidung einer Hochadeligen, nicht in der einer Sanctimonialen, abgebildet. Daraus wird geschlossen, dass Mathilde ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatte und sich nicht mit der Rolle einer Klosterfrau begnügte.<ref>Körntgen, Zwischen Herrschern und Heiligem, S. 20; Beuckers, Das Otto-Mathilden-Kreuz im Essener Münsterschatz, S. 63.</ref> Was genau Mathilde, die auch Erzieherin der Schwester Ottos III. Mathilde war, in der Phase unternahm, in der Theophanu, die Witwe Ottos II., zusammen mit Adelheid, der Witwe Ottos des Großen, mit Heinrich dem Zänker um die Regierungsgewalt rang, ist nicht belegt. Allerdings gelangte in dieser Zeit die Goldene Madonna, die als Spiegelung von Theophanus Machtanspruch gedeutet werden kann, nach Essen. 993 stattete dann Otto III. dem Stift Essen einen Besuch ab, bei dem er ihm möglicherweise die Krone übergab, mit der er als kleines Kind 983 zum König gekrönt worden war. Außerdem stiftete Otto ein schlachterprobtes Schwert aus Damaszenerstahl, das, mit einer goldenen Umhüllung versehen, zunächst als Zeremonialschwert der Essener Äbtissinnen diente und in der Essener Überlieferung später zum Richtschwert der Märtyrer Cosmas und Damian wurde. Wem dieses Schwert tatsächlich, möglicherweise in der Schlacht auf dem Lechfeld, so gedient hatte, dass es zum königlichen Geschenk wurde, ist unbekannt. Diese Schenkung von Herrschaftsinsignien, zu denen es für diese Zeit keine vergleichbaren Vorgänge etwa in anderen Klöstern gibt, lässt den Schluss zu, dass Otto damit seinen Dank für Mathildes Einfluss zur Sicherung seiner Macht abstattete. Mathilde hatte den König bereits 990 getroffen. Am 20. Januar dieses Jahres erneuerte Otto in Heiligenstadt auf ihre Bitte und auf Vorschlag des Kanzlers Willigis eine Stiftung von Mathildes Mutter:<ref>Urkunde Nr. 59 in: Theodor Sickel (Hrsg.): Diplomata 13: Die Urkunden Otto des II. und Otto des III. (Ottonis II. et Ottonis III. Diplomata). Hannover 1893, S. 464–465 (Monumenta Germaniae Historica, Digitalisat)</ref>

„Otto erneuert auf Intervention des Erzbischofs Willigis und auf Bitte der Äbtissin Mathilde von Essen dem Kanonissenstift Hilwartshausen die Schenkung des Ortes Rhöda, die Ida, eine vornehme Frau, vorgenommen hat.“

Besuche Ottos III. in Essen werden für 984 und 986 angenommen, in beiden Jahren besteht eine zeitliche Lücke zwischen Beurkundungen in Dortmund und Duisburg. Im April 997 reiste Mathilde zu einem Hoftag Ottos nach Dortmund, wo Otto dem Stift Essen nochmals Königsgüter an der oberen Leine übertrug. Es ist möglich, dass sie sich in diesem Jahr längere Zeit im Gefolge Ottos aufgehalten hat, da sie auch an einer Beurkundung im September in Thorr mitwirkte. Otto vermittelte auch die Übertragung vom Reliquien, besonders des Heiligen Marsus, an das Stift Essen, das das sächsische Zentrum des Memorialgedenkens seines in Rom begrabenen Vaters bildete.<ref>Beuckers, Marsusschrein, S. 47-48.</ref>

Die Kunststifterin

Die Übernahme der Verwaltung der Hausgüter ihrer Familie, wozu insbesondere das Erbe ihrer Großmutter Edgitha und nach 986 auch das ihrer Mutter Ida gehörte, versetzte Mathilde in die Lage, über ein erhebliches Vermögen frei zu verfügen. Aus diesem Vermögen finanzierte Mathilde Kunstschätze, die das Andenken an ihre Verwandten und an sie selbst sichern sollten. Dem Andenken an die angelsächsischen Vorfahren Edgithas diente die Chronik, die der angelsächsische Geschichtsschreiber Æthelweard Mathilde widmete. Es wird angenommen, dass er sein Werk in ihrem Auftrag verfasste. Möglicherweise bedankte sich Mathilde bei Æthelweard mit einer in der Schreibstube des Stifts entstandenen Abschrift des Werkes De re militari des Vegetius, die sehr früh nach England gelangte und dort erhalten ist (London, British Library, Cotton Cleopatra D1, Teil A).<ref>Bodarwé, Sanctimoniales litteratae, S. 441.</ref>

Bekannt ist Mathilde vor allem durch die Werke der Goldschmiedekunst, die in ihrem Auftrag angefertigt oder durch sie an das Stift Essen gegeben wurden. Zu diesen Schätzen gehören zwei kostbare Vortragekreuze für das Essener Stift. Das ältere von diesen ist das Otto-Mathilden-Kreuz, welches sie entweder gemeinsam mit ihrem Bruder Otto oder wahrscheinlicher zu seinem Angedenken anfertigen ließ, das jüngere war ein Gemmenkreuz, das ihre Nachfolgerin zum Kreuz mit den großen Senkschmelzen umgestalten ließ.<ref>Beuckers, Marsusschrein, S. 116f.</ref> Inschriftlich gesichert ist außerdem die Stiftung des großen, ursprünglich vergoldeten siebenarmigen Bronzeleuchters, der noch heute im Essener Münster steht. Ein kostbarer Reliquienschrein, eine Memorialstiftung Kaiserin Theophanus für Otto II., den Mathilde fertigen ließ, soll in seiner Pracht selbst die Schätze der Kölner Kirchen übertroffen haben.<ref>Beuckers, Marsusschrein, S. 1f. unter Hinweis auf Aegidius Gelenius, der 1639 den Schrein beschrieb.</ref> Die Zuordnung zu Mathilde ist aufgrund der überlieferten, in daktylischen Hexametern abgefassten Weihe-Inschrift gesichert:

Hoc opus eximium gemmis auroque decorum / Mechtildis vovit, quae Theophanum quoque solvit / Abbatissa bona Mechthildis chrisea dona / Regi dans regum, quae rex deposcit in aevum / Spiritus ottonis pascit caelestibus oris („Dieses erhabene Werk, mit Gold und Gemmen verziert, hat Mathilde gestiftet, wie sie dieses Theophanu versprochen hat. Die gute Äbtissin Mathilde gibt dies prächtige Geschenk dem König der Könige, damit der König, der geborgen ist in Ewigkeit, die Seele Ottos, ruhen wird an himmlischen Ufern“).

Dieses später nach der wichtigsten darin aufbewahrten Reliquie als Marsusschrein bezeichnete Sammelreliquiar war der älteste Reliquienschrein im Reich und Vorläufer der rheinischen Reliquienschreine, deren bekanntester der Dreikönigenschrein in Köln ist.<ref>Beuckers, Marsusschrein, S. 121.</ref> Der Marsusschrein wurde aus Gold gefertigt und mit zahlreichen Goldemails und Gemmen besetzt. Das größte Email war ein auf der Stirnseite angebrachtes Bild Kaiser Ottos II., das aufgrund der Aufstellung des Schreins in einem Altarrektabel die Präsenz Ottos im Gottesdienst und damit die memoriale Wirkung sicherstellte. Dieser erste Großschrein wurde durch Unverstand des mit der Flüchtung beauftragten Stiftsbediensteten im Jahr 1794 zerstört, als er vor französischen Plünderern in Sicherheit gebracht werden sollte. Die Reste wurden eingeschmolzen, wodurch ein Hauptwerk der ottonischen Goldschmiedekunst unwiederbringlich verloren ging.

Mathilde ist wahrscheinlich auch die Stifterin des überlebensgroßen ottonischen Holzkreuzes in der Aschaffenburger Stiftskirche St. Peter und Alexander, dessen gemalter Rahmen der Kantengestaltung des Otto-Mathilden-Kreuzes entspricht. Da Mathildes Bruder Otto in dieser Kirche beigesetzt wurde, war dieses Kreuz vermutlich Teil dessen Gedenkstiftung.<ref>Beuckers, Das Otto-Mathilden-Kreuz im Essener Münsterschatz, S. 57.</ref>

Mathildes Bautätigkeit

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Vermutetes Aussehen des Westwerks zur Erbauung

Bereits Georg Humann, der sich als einer der ersten kunsthistorisch mit den Bauten und Schätzen des Stifts Essen befasste, hatte durch Stilvergleiche das Westwerk des Essener Münsters Mathilde zugeschrieben. Zu dieser Erkenntnis ist die Forschung inzwischen zurückgekehrt; Mathilde wird aufgrund der Arbeiten von Lange wieder als Auftraggeberin des Westwerks angesehen, welches seit den Ausgrabung eines Vorgängerbaus 1955 durch Zimmermann meist der von 1039 bis 1058 regierenden Äbtissin Theophanu zugeschrieben wurde.<ref>Lange, Westbau, S.1ff.</ref> Mathilde ist damit auch die Bauherrin der ersten in Essen nachgewiesenen Wasserleitung, die in einem in einer Steinbettung verlegten Bleirohr quer unter dem Westwerk hindurch in die Stiftsgebäude führte. Eine solche Wasserleitung, die im frühen Mittelalter unüblich war und nur in Prachtbauten vorkam, zeugte von Prestigedenken der Bauherrin. Die Frage, ob dieses Mathilde oder Theophanu war, war sehr strittig: Es handelt sich zwar nur um eine zeitliche Differenz von 50 Jahren, in diese fiel jedoch ein Wechsel im Baustil. Wäre das Essener Westwerk – ein Höhepunkt ottonischer Baukunst – erst unter Theophanu entstanden, wäre es später entstanden als einer der Höhepunkte der eigentlich späteren Romanik, St. Maria im Kapitol in Köln (deren Bauherrin Theophanus Schwester Ida war). Andererseits wird in der Brauweiler Familienchronik der Ezzonen – zu dieser Sippe zählte Theophanu – Theophanu als Wiedererbauerin des Essener Klosters gerühmt. Auf diesen Eintrag stützte sich die durch Zimmermann vorgenommene Datierung, die auch annahm, dass der 1955 ergrabene Vorgängerbau erst 965 fertiggestellt worden sei. Mathilde hätte in diesem Fall faktisch einen Neubau durch einen anderen ersetzen lassen.<ref>Zimmermann: Das Münster zu Essen. Die Kunstdenkmäler des Rheinlands; Beiheft 3, S. 52.</ref>

Lange wies auf das Bauprogramm hin, das in der Anlage des Westwerks zu erkennen ist. Das Oktagon nimmt deutlich Bezug auf den Aachener Dom und die renovatio-imperii-Idee Ottos III.. In der Epoche Theophanus hätte dieses Bauprogramm keinen Sinn mehr enthalten.<ref>Lange, Westbau, S. 72.</ref> Die Stelle der Brauweiler Chronik interpretiert diese Auffassung dahin, dass Theophanu die Stiftsgebäude erneuern ließ, möglicherweise auch nur als Bild einer von Theophanu eingeleiteten geistigen Erneuerung der Gemeinschaft. Ein gesichertes Datum, wann das Westwerk des Vorgängerbaus entstand, existiert nicht. Die Anhänger einer Frühdatierung des vorhandenen Baus datieren daher auch den Vorgänger früher, da Westwerke von Klosterkirchen meist direkt nach Erlangung der Immunität in Angriff genommen seien, für Essen also möglicherweise schon vor 920. Das Vorgängerwestwerk war dann beim Baubeginn unter Mathilde auch kein Neubau mehr. Die Theorie Langes ist von der Forschung angenommen worden, offen ist noch, ob der Westbau auch noch von Mathilde fertiggestellt wurde, oder ob die Fertigstellung erst unter Theophanu erfolgte.

Möglich ist auch, dass beide Äbtissinnen am Westwerk des Essener Domes gebaut haben, da es Anzeichen gibt, dass es eine längere Bauunterbrechung gab. In diesem Fall wäre die Angabe der Brauweiler Chronik dahin zu interpretieren, dass Theophanu einen von Mathilde begonnen Bau fertigstellen ließ.

Theorien zur Gründung des Stiftes Rellinghausen

Mathilde wird außerdem als Gründerin des Stiftes Essen-Rellinghausen bezeichnet, da sich in der dortigen Stiftskirche eine Grabinschrift befunden haben soll, wonach sie das Stift 998 gegründet habe und nach ihrem Wunsch dort beigesetzt worden sei. Die Gründung Rellinghausens durch sie wird in der neueren Forschung angezweifelt, da direkte Belege fehlen und die Grabinschrift als Fälschung der frühen Neuzeit erkannt wurde.<ref>Lange, Die Krypta der Essener Stiftskirche, S. 171; Sonja Hermann, Die Essener Inschriften, S. 69-70 nimmt an, dass die Inschrift echt sei, sich aber auf eine andere Person beziehe.</ref> Allerdings wird das Stift Rellinghausen im Testament der Äbtissin Theophanu von 1058 behandelt, als sei es bereits von einer ihrer Vorgängerinnen gegründet worden. Die zwischen Mathilde und Theophanu amtierende Äbtissin Sophia, eine Schwester Ottos III., die zugleich Äbtissin in Gandersheim war, ist als Gründerin von Rellinghausen wenig wahrscheinlich. Sophia residierte überwiegend in Gandersheim und hinterließ in Essen nur sehr geringe Spuren. Da Gründungen von Filialklöstern für Gandersheim in den 40er Jahren des 10. Jahrhunderts wahrscheinlich und für Quedlinburg für 986 belegt sind, ist eine Gründung des Filialklosters Rellinghausen vor dem Jahr 971, in dem Mathilde Äbtissin wurde, eher auszuschließen. Eine Gründung des Stiftes Rellinghausen durch Mathilde kann zwar nicht mehr als erwiesen angesehen werden, ausgeschlossen ist sie jedoch nicht.

Letzte Jahre, Tod und Begräbnis

Datei:Siebenarmigerleuchter05112010.JPG
Den Siebenarmigen Leuchter stiftete Mathilde zur Förderung ihres Gebetsgedenkens. Das Bild des zu ihrem Gedenken entzündeten Leuchters entstand an ihrem 999ten Todestag.

Der Tod Ottos III., der das Essener Stift stark gefördert hatte, stellte wahrscheinlich für Mathilde eine erneute Zäsur dar. Der Nachfolger Ottos wurde ausgerechnet der Sohn Heinrichs des Zänkers, Heinrich II. aus der bayrischen Linie der Ottonen. Heinrich bestätigte 1003 zwar in einer Urkunde die Privilegien des Stifts Essen, möglicherweise entstanden jedoch Streitigkeiten um den persönlichen Besitz Mathildes aus dem Erbe ihres Bruders und ihrer Mutter. Keines der durch Mathilde zum Essener Domschatz beigesteuerten Werke kann sicher auf die Zeit nach 1002 datiert werden. Anzeichen am Westbau deuten auf einen Baustopp, so dass angenommen wird, dass sich Mathildes Einkünfte aus den Mitteln der schwäbisch-ottonischen Linie nach der Thronbesteigung Heinrichs plötzlich verringerten.<ref>Beuckers, Das Otto-Mathilden-Kreuz im Essener Münsterschatz, S. 55.</ref> In diesem Fall hätte Heinrich sich das Erbe, das ihm nach dem Tod Mathildes als letzter dieser Familienlinie ohnehin zustand, vorzeitig angeeignet, und Mathilde damit in die Reihen der Opposition getrieben, die am Niederrhein besonders stark war. Anführer dieser Oppositionsbewegung waren der Kölner Erzbischof Heribert und besonders der Pfalzgraf Ezzo, der die in Essen erzogene Schwester Ottos III. geheiratet hatte und möglicherweise Thronansprüche für seine Kinder erhoben hatte. Ezzo befand sich in einer Mathilde vergleichbaren Situation, da ihm aufgrund der Ehe mit einer Schwester des kinderlos verstorbenen Otto III. das Hauserbe der ottonischen Hauptlinie zustand, dessen Herausgabe Heinrich verweigerte. Dieser Erbstreit dauerte bis 1011, dann musste Heinrich nach einer verlorenen Schlacht einlenken. Falls auch Mathilde ihre Erbgüter zurückerhielt, war dieses für eine Fortsetzung der von ihr angefangenen Projekte zu spät. Ein 1996 im heutigen Polen gefundener Denar König Heinrichs II. (HENRICVS REX), der auf der Umseite Mathilde Abtissin von Essen nennt (+MAHTHILD ABBATISSA ASNI DENSIS), belegt, dass Mathilde zumindest zeitweilig eine so hohe Wertschätzung durch Heinrich erfuhr, dass sie auf einer Münze genannt wurde. Diese Münze kann daher entweder kurz nach 1002 entstanden sein, möglich erscheint auch eine memoriale Prägung nach Mathildes Tod im Zuge einer Aussöhnung zwischen der rheinischen Opposition um die Ezzonen und Heinrich II.<ref> Heinz Josef Kramer: Ein Mathilden-Denar aus Masowien - Chronik einer Entdeckung in: Das Münster am Hellweg 65, 2012, S. 26-33.</ref>

Mathilde, unter der das Stift Essen seine Blütezeit erlebte, starb am 5. November 1011 in Essen. In den Annalen des Frauenstifts Quedlinburg, einer Gründung von Mathildes Großvater Otto dem Großen, ist vermerkt:

Abstulit [sc. mors] et de regali stemmate gemmam Machtildam abbatissam, Ludolfi filiam. („[Der Tod] raubte auch einen Edelstein aus dem Stamm des Königshauses hinweg, die Äbtissin Mathilde, die Tochter Liudolfs“).<ref>ediert: Martina Giese (Hrsg.): Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 72: Die Annales Quedlinburgenses. Hannover 2004, S. 531 Z. 9-10. (Monumenta Germaniae Historica, Z. 9-10. Digitalisat)</ref>

Da sich das Begräbnis Mathildes in Rellinghausen als Fälschung erwiesen hat, wurde sie wahrscheinlich an prominenter Stelle in der Krypta der Essener Stiftskirche beigesetzt. 1952 wurde bei Ausgrabungen in der Kirche ein Grab vor dem Hauptaltar der Krypta entdeckt, einem Platz, an dem oft bedeutende Personen beigesetzt wurden. Damals wurde dieses Grab als das der 1085 verstorbenen Äbtissin Suanhild angesehen, von der bekannt war, dass sie vor diesem Altar bestattet worden war. Allerdings sollten die Stiftsdamen nach spätmittelalterlichen Aufzeichnungen dort zweier Äbtissinnen gedenken, von denen eine nicht namentlich benannt war. Dieses wird inzwischen dahin interpretiert, dass Svanhild sich über Mathildes Grab in einem Hochgrab beisetzen ließ und so Mathildes Begräbnisort in Vergessenheit geriet.<ref>Lange, Die Krypta der Essener Stiftskirche, S. 172ff.</ref>

Nachfolge und Memoria

Datei:JuengeresMathildenkreuz.jpg
Das Mathildenkreuz, das Äbtissin Theophanu zum Gedenken an Mathilde fertigen ließ

Mathildes direkte Nachfolgerin wurde Sophia, eine Tochter Ottos II.. Diese war wahrscheinlich eine Ersatzlösung, da deren in Essen erzogene Schwester Mathilde mit Ezzo verheiratet worden war und damit als Äbtissin ausfiel, und möglicherweise zugleich eine politische Entscheidung, da Sophia in Gandersheim von der Schwester Heinrich des Zänkers erzogen worden und eine Parteigängerin Heinrichs II. war. Heinrich II. sicherte sich so die politische Kontrolle über das Stift Essen gegenüber seiner rheinischen Opposition.<ref>Beuckers, Marsusschrein, S. 46.</ref> Da Sophia bereits seit 1002 in Gandersheim Äbtissin war und dieses Stift auch bevorzugte, blieben die von Mathilde begonnenen Projekte zunächst unvollendet. Erst Sophies Nachfolgerin Theophanu, die Tochter Ezzos und der als Äbtissin ausgefallenen Mathilde, vollendete die Pläne der bedeutendsten Essener Äbtissin. Das sogenannte Mathildenkreuz des Essener Domschatzes, auf dessen Stifterbild Mathilde als Sanctimoniale zu Füßen der thronenden Maria abgebildet ist, ist eine Stiftung Theophanus zu Mathildes Memoria. Theophanus Neubau der Krypta der Stiftskirche rückte Mathildes Grab in den Mittelpunkt der Krypta und umgab es mit Reliquien von Heiligen, die sie als Fürsprecher besonders schätzte. Mit der Errichtung dieses Memorialbaus wurde Mathildes liturgische Erhöhung angestrebt.<ref>Lange, Die Krypta der Essener Stiftskirche, S. 177.</ref>

Mathildes Memoria wurde in Essen besonders festlich, nämlich mit vier Messen und Erleuchtung des Grabes mit 12 Kerzen, begangen. In der um 1300 entstandenen Handschrift des Essener Liber Ordinarius wird sie als „Mater ecclesia nostre“ also „Mutter unserer Kirche“ bezeichnet. Auf den untergegangenen Westfenstern des Münsters, die zwischen 1275 und 1297 von der Essener Stiftsdame Mechthild von Hardenberg gestiftet worden waren, war Äbtissin Mathilde abgebildet und als „Mechthildis abbatissa hujus conventus olim mater pia“ bezeichnet.<ref>Sonja Hermann: Die Essener Inschriften S. 74-75 Nr. 45.</ref>

Rezeption

Mathilde ist durch die Kunstwerke des Essener Domschatzes zwar die bekannteste Essener Äbtissin, im Einzelnen ist vieles jedoch noch unerforscht. Erst die jüngere Forschung erkennt den Umstand an, dass im Stift Essen die Macht tatsächlich in Frauenhand war und insbesondere Mathilde keine zwar kunstsinnige, aber hinter Klostermauern einflusslose Enkelin aus kaiserlichem Geschlecht war. Exemplarisch hierfür ist die Wandlung der Deutung des Otto-Mathilden-Kreuzes, das zuerst als Ottokreuz und Stiftung Ottos von Schwaben für das Kloster seiner Schwester bezeichnet wurde. Weitgehend wird es als gemeinsame Stiftung der Geschwister angesehen, gleichzeitig mit der Änderung der Deutung begann sich die Bezeichnung Otto-Mathilden-Kreuz durchzusetzen. Inzwischen wird mit überzeugenden Argumenten vertreten, dass das Kreuz von Mathilde allein zum Gedenken an Otto gestiftet wurde. Insoweit ist Mathilde exemplarisch für die unterschätzte Bedeutung der Frau im Mittelalter.

Das Bistum Essen beging den tausendsten Todestag Mathildes mit einer von der Domschatzkammer gemeinsam mit Studierenden der Universität Düsseldorf erarbeiteten Gedächtnisausstellung in Dom und Schatzkammer vom 27. Oktober 2011 bis zum 22. Januar 2012 sowie einem Memorialgottesdienst am 5. November 2011, bei dem das jüngere Mathildenkreuz als Altarkreuz diente.

Literatur

  • Klaus Gereon Beuckers: Das Otto-Mathildenkreuz im Essener Münsterschatz. Überlegungen zu Charakter und Funktion des Stifterbildes. In: Herrschaft, Liturgie und Raum – Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen. Klartext Verlag, Essen 2002, ISBN 3-89861-133-7, S. 51–80.
  • Katrinette Bodarwé: Sanctimoniales litteratae. In: Herrschaft, Bildung und Gebet. Klartext Verlag, Essen 2000, ISBN 3-88474-907-2, S. 101–117.
  • Paul Derks: Gerswid und Altfried. Zur Überlieferung der Gründung des Stiftes Essen. In: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen. Essen 107, 1995, ISSN 1432-6531
  • Birgitta Falk, Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.): Mathilde - Glanzzeit des Essner Frauenstifts. Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0584-9.
  • Edgar Freise: Mathilde II.. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 16, Duncker & Humblot, Berlin 1990, ISBN 3-428-00197-4, S. 374 f. (Digitalisat).
  • Elisabeth van Houts: Woman and the writing of history in the early Middle Ages: the case of Abbess Matilda of Essen and Aethelweard. In: Early Medieval Europe. 1, 1, 1992, S. 53–68, doi:10.1111/j.1468-0254.1992.tb00004.x.
  • Ludger Körntgen: Zwischen Herrschern und Heiligen. In: Herrschaft, Liturgie und Raum – Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen. Klartext Verlag, Essen 2002, ISBN 3-89861-133-7, S. 7–23.
  • Klaus Lange: Die Krypta der Essener Stiftskirche. In: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter. Klartext Verlag, Essen 2003, ISBN 3-89861-238-4, S. 161–184.
  • Klaus Lange: St. Cosmas und Damian zu Essen. Ein Plädoyer für eine neue Sicht der älteren Baugeschichte. In: Herrschaft, Bildung und Gebet. Klartext Verlag, Essen 2000, ISBN 3-88474-907-2, S. 43–57.
  • Hedwig Röckelein: Der Kult des Hl. Florinus im Stift Essen. In: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter. Klartext Verlag, Essen 2003, ISBN 3-89861-238-4, S. 59–86.

Weblinks

Anmerkungen

<references />

24px Dieser Artikel wurde am 19. Mai 2006 in dieser Version in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen.