Volksgruppe
Das Wort Volksgruppe bezeichnet allgemein eine ethnische Gruppe, im engeren Sinne eine Minderheit innerhalb eines Staates, speziell eine einzelne ethnische Gruppe innerhalb eines polyethnischen Staates (Vielvölkerstaat). Eine autochthone Volksgruppe (lateinisch „ursprüngliche“, siehe Wortherkunft) ist eine ethnische, in Europa rechtlich geschützte nationale Minderheit. Umgangssprachlich wird „Volksgruppe“ oft bedeutungsgleich zu ethnische Minderheit verwendet.
Wenn es um den Schutz von Volksgruppen innerhalb eines Staates geht, spricht man von Minderheitenschutz, in Österreich auch von Volksgruppenförderung.
Die Bezeichnung darf nicht mit Völkergruppe (abstrakte Zusammenfassung verschiedener Völker oder Ethnien wie etwa Indianer oder Papua) verwechselt werden.
Inhaltsverzeichnis
Begrifflichkeiten
Anders als bei den Begriffen Minderheit und indigene Völker (lat. „eingeborene“, siehe Wortherkunft) existiert – abgesehen von der rechtlichen Definition des Gesetzgebers in Österreich<ref>Fachinhalte: Die österreichische Rechtslage, Bundeskanzleramt Österreich, 2004–2014, abgerufen am 18. Juli 2014.</ref> – keine allgemein anerkannte spezifische Definition einer Volksgruppe, was sich auch in der wechselnden Anwendung der Bezeichnung auf Minder- und Mehrheiten niederschlägt.
So werden etwa die afrikanischen Hutu und Tutsi oftmals gleichermaßen als „Volksgruppen“ bezeichnet, obwohl die erstere in Ruanda und Burundi die zahlenmäßige Mehrheit bildet, wohingegen die letztere die parlamentarische Mehrheit in Ruanda stellt. Außer der Zeit seit der Unabhängigkeit 1962 bis zum Genozid, beherrscht das Hirtenvolk der Tutsi traditionell die bäuerliche Hutu-Mehrheit.
In Fällen, wo mehrere Gruppen in etwa gleich stark vertreten sind, werden diese zu Volksgruppen, beispielsweise Flamen und Wallonen in Belgien. Gleichzeitig werden oft ethnische Minderheiten mit diesem Begriff benannt, so etwa deutschsprachige Minderheiten in Ostmitteleuropa (vgl. Nationalität).
Die Bezeichnung Volksgruppe kennt keine genaue Entsprechung in anderen Sprachen. Im Ungarischen existiert dasselbe Wort népcsoport. Im Englischen, Spanischen und Französischen wird der Begriff zumeist als ethnische Gruppe verstanden.
Historisches Volksgruppenkonzept
Der Begriff Volksgruppe wurde durch die deutsche Kulturpropaganda und die politische „Grenzlandarbeit“ im Ersten Weltkrieg bekannt. Max Hildebert Boehm von der „Arbeitsstelle für Nationalitäten- und Stammesprobleme“ prägte diesen Begriff in der völkischen Bewegung und versuchte ihn zu verwissenschaftlichen.
Der Begriff der Volksgruppe ist aufgrund der explodierenden Bevölkerungszahlen und der damit verbunden, bis dahin unbekannten Bevölkerungsdichte insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert zu einem besonderen Thema geworden. Radikalisiert wurde das ohnehin problematische Volksgruppenkonzept im Rahmen der verbrecherischen Volksgruppenpolitik der Nationalsozialisten. Diese benutzten die deutsche Minderheiten in Nachbarländern nicht allein, um gebietsmäßige Ansprüche geltend zu machen, sondern förderten insbesondere auch in Südosteuropa eine Politik des divide et impera („Teile und herrsche!“), deren Kern es war, verschiedene Volksgruppen gegeneinander auszuspielen.
Nach dem Volksgruppenkonzept organisieren sich die Menschen nicht nur nach ihren sozialen Bedürfnissen, sondern ordnen diese auch abstammungsorientierten (Volk) und daher nationalen Idealen unter. Das Konzept wurde noch in den 1970er Jahren im Kontext der Südtirolfrage und der Sudetendeutschen Landsmannschaft reaktiviert.<ref>Christoph Pan: Grundelemente zur Theorie der Ethno-Soziologie. In: Theodor Veiter (Hrsg.): System eines Internationalen Volksgruppenrechts. Teil 2: Innerstaatliche, regionale und universelle Struktur eines Volksgruppenrechts, Wien/Stuttgart 1972.</ref>
Kritik
Der deutsche Sozial- und Politikwissenschaftler Samuel Salzborn kritisiert, dass sich das Volksgruppenkonzept auf einen romantischen Volksbegriff beziehe und diesen insofern politisiere, als damit eine raumordnerische Konsequenz aus der kulturellen Teilung der Menschheit in Völker und Volksgruppen gezogen wird. Soziale und politische Konflikte werden „damit naturalisiert und in einen ethnischen Entstehungszusammenhang gerückt“.<ref name="Salzborn 2003-1214">Samuel Salzborn, Heribert Schiedel: „Nation Europa“. Ethnoföderale Konzepte und kontinentale Vernetzung der extremen Rechten. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 10, 2003, S. 1219–1217, hier S. 1214 (PDF; 60 kB; 9 Seiten).</ref> Indem Ethnizität als grundlegende Kategorie gedacht wird und zum höchsten Gut des „menschlichen Wesens avanciert, besteht das politische Ziel in einer kompletten sozialen und politischen Segregation von Menschen entlang ethnischer Kriterien sowie in der Schaffung separierter Ethnoregionen für die einzelnen Volksgruppen.“<ref name="Salzborn 2003-1214" />
Das Konzept betont „die ethnisch-kulturelle Homogenität der Bevölkerung, oder zumindest ihre kulturell-mentalitätsmäßige Ähnlichkeit bis hin zur gemeinsamen Betroffenheit durch negative Einwirkungen von außen. Davon ausgehend wird die Gleichartigkeit der Interessen der Betroffenen gegenüber anderen Regionen oder dem übergeordneten System behauptet.“<ref>Zitiert bei Günther Pallaver: Kopfgeburt Europaregion Tirol. Genesis und Entwicklung eines politischen Projekts. In: Geschichte und Region/Storia e regione. Jahrbuch der Arbeitsgruppe Regionalgeschichte, Bozen 2000, S. 247.</ref>
Siehe auch
Literatur
- Minderheitenschutz und Volksgruppenrecht
- Michael Krugmann: Das Recht der Minderheiten. Legitimation und Grenzen des Minderheitenschutzes (= Schriften zum öffentlichen Recht. Bd. 955). Duncker & Humblot, Berlin 2004.
- Jürgen Schlögel: Der Schutz ethnischer Minderheiten als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts (= Studien zum Völker- und Europarecht. Bd. 5,21). Kovac, Hamburg 2004.
- Felix Ermacora, Christoph Pan: Grundrechte der europäischen Volksgruppen. Wien 1993.
- Felix Ermacora: Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht. München 1978.
- Theodor Veiter (Hrsg.): Neueste Entwicklungen auf dem Gebiet des internationalen Volksgruppenrechts und des Schutzes ethnischer Minderheiten. 3 Bände, Wien 1970–1978.
- Zur Begriffsgeschichte und Kritik
- Max Hildebert Boehm: Die Selbsterneuerung des lebendigen Rechts. In: Deutsche Rundschau. Jg. 47, Bd. 186, 1921.
- Max Hildebert Boehm: Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften. Göttingen 1932.
- Max Hildebert Boehm: Ein Leben im Kampf um den großdeutschen Lebensraum. 1940.
- Max Hildebert Boehm: Schafft ein Europa der Völker! In: Ostdeutsche Zeitung / Die Stimme der Vertriebenen. Nr. 15, 1951.
- Max Hildebert Boehm (unter dem Pseudonym Hugin): Kämpfer für deutsches Volkstum – Führer im Grenz- und Ausland: 10. Karl C. von Loesch. In: Vossische Zeitung. 4. Februar 1933.
- Ulrich Prehn: Die wechselnden Gesichter eines „Europa der Völker“ im 20. Jahrhundert. Ethnopolitische Vorstellungen bei Max Hildebert Boehm, Eugen Lemberg und Guy Héraud. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hrsg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster 2005, ISBN 3-89771-737-9.
Weblinks
Einzelnachweise
<references />