Florence Nightingale


aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Wechseln zu: Navigation, Suche
Datei:Florence Nightingale CDV by H Lenthall.jpg
Florence Nightingale, ca. 1850er Jahre
Datei:Florence Nightingale Signature.svg
Unterschrift von Florence Nightingale

Florence Nightingale (* 12. Mai 1820 in Florenz, Großherzogtum Toskana; † 13. August 1910 in London, England) war eine Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege und einflussreiche Reformerin des Sanitätswesens und der Gesundheitsfürsorge in Großbritannien und Britisch-Indien. Sie trug in Großbritannien und den zum Empire gehörenden Ländern wesentlich dazu bei, dass sich die Krankenpflege zu einem gesellschaftlich geachteten und anerkannten Berufsweg für Frauen entwickelte, und legte Ausbildungsstandards fest, die zuerst in der von ihr gegründeten Krankenpflegeschule umgesetzt wurden.

Nightingale vertrat die Ansicht, dass es neben dem ärztlichen Wissen ein eigenständiges pflegerisches Wissen geben sollte, und vertrat dies auch in ihren Schriften zur Krankenpflege, die als Gründungsschriften der Pflegetheorie gelten. Ihr als Nightingalesches System bezeichnetes Ausbildungsmodell sah entsprechend eine Ausbildung von Berufsanfängern vor allem durch erfahrene Pflegekräfte vor. Die mathematisch begabte Nightingale gilt außerdem als Pionierin der visuellen Veranschaulichung von Zusammenhängen in der Statistik.

Nightingale war die jüngste Tochter einer wohlhabenden britischen Familie. Nach Ausbruch des Krimkrieges (1853–1856) leitete sie im Auftrag der britischen Regierung eine Gruppe von Pflegerinnen, die verwundete und erkrankte britische Soldaten im Militärkrankenhaus in Scutari (Üsküdar) betreute. Da sie nachts die Patienten auf den Stationen mit einer Lampe in der Hand besuchte, ging Nightingale verkürzt als Lady with the Lamp („Dame mit der Lampe“) in die britische Folklore ein. Tatsächlich war Nightingale an der Pflege von Verletzten und Erkrankten nur geringfügig beteiligt. Ihre Leistung in Scutari bestand in der Schaffung und Aufrechterhaltung eines rudimentären Krankenhausbetriebes. Von ihrem Einsatz während des Krimkrieges kehrte Nightingale chronisch krank nach Großbritannien zurück und führte von da an das zurückgezogene Leben einer Invalidin. Durch ihre Veröffentlichungen nahm sie jedoch Einfluss auf mehrere Gesundheitsreformen.

Für ihre Leistungen wurde Nightingale 1883 durch Queen Victoria mit dem Royal Red Cross ausgezeichnet und 1907 von König Edward VII. als erste Frau in den Order of Merit aufgenommen. Heute wird an ihrem Geburtstag der Internationale Tag der Krankenpflege begangen, und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz verleiht seit 1912 im Andenken an sie die Florence-Nightingale-Medaille, die als höchste Auszeichnung gilt, die an Pflegekräfte verliehen wird. Nightingale ist die erste Frau, die in die britische Royal Statistical Society aufgenommen wurde; später erhielt sie auch die Ehrenmitgliedschaft der American Statistical Association.

Leben

Herkunft und frühe Jahre

Nightingales Mutter Fanny entstammte einer politisch liberalen Familie. Der Großvater mütterlicherseits, der Kaufmann und Politiker William Smith, setzte sich im britischen Unterhaus für die Rechte der unteren Schichten, die weltweite Ächtung der Sklaverei und für Religionsfreiheit ein.<ref>Mark Bostridge: Florence Nightingale. Penguin Books, London 2009, ISBN 978-0-14-026392-3, S. 9–14.</ref> Der Vater war William Edward Nightingale, der 1815 ein beträchtliches Vermögen von einem Onkel geerbt hatte und entsprechend den Bestimmungen des Testaments seinen Nachnamen von Shore in Nightingale änderte.<ref>Barbara Montgomer Dossey: Florence Nightingale – Mystic, Visionary, Healer, Springhouse Corporation, Springhouse 2000, ISBN 0-87434-984-2, S. 5.</ref> Er war ein Schulfreund von Fanny Smiths jüngerem Bruder Octavius und lernte 1811 seine spätere, sechs Jahre ältere Frau kennen.

William Nightingale und Fanny Smith heirateten 1818 und reisten unmittelbar nach der Hochzeit zwei Jahre durch Europa. Nightingales ältere Schwester Parthenope wurde 1819 in Neapel geboren und nach der griechischen Bezeichnung ihrer Geburtsstadt benannt. Florence Nightingales Geburtshaus war die Villa Colombaia in Florenz. Wie bei der älteren Tochter wählte das Ehepaar Nightingale einen Vornamen in Anlehnung an den Geburtsort aus.<ref>Ann Marriner-Tomey, Martha Raile Alligood: Nursing theorists and their work. Elsevier Health Sciences, 2006, Ausgabe 6, ISBN 0-323-03010-6, S. 71.</ref> Die Familie kehrte im Winter 1820 nach Großbritannien zurück und ließ sich zunächst in Lea Hurst in der Grafschaft Derbyshire nieder. Fanny Nightingale empfand die dortigen Winter jedoch als zu streng und die Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen als zu eingeschränkt.<ref>Bostridge, S. 17.</ref> 1825 erwarb William Nightingale zusätzlich den Landsitz Embley Park in Hampshire, der zum Hauptwohnsitz der Familie wurde.

Datei:Embley Park.jpg
Embley Park, der Hauptwohnsitz der Familie Nightingale

Aus Nightingales Kindheit sind mehrere Briefe an Familienmitglieder erhalten, die nach Ansicht des Biografen Mark Bostridge sehr früh eine große sprachliche Begabung und Beobachtungsgabe zeigen.<ref>Bostridge, S. 33.</ref> Bereits mit neun Jahren sprach sie so gut Französisch, dass sie für ihre Mutter eine Predigt in dieser Sprache zusammenfassen konnte. Ab 1831 übernahm William Nightingale einen großen Teil der Erziehung seiner Töchter.<ref>Dossey, S. 16–17.</ref> Er unterrichtete sie in Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch und Italienisch sowie in Geschichte und Philosophie. Die zusätzlich engagierte Hauslehrerin war für den Unterricht in Zeichnen und Musik zuständig.<ref name="Genschorek2">Wolfgang Genschorek: Schwester Florence Nightingale. Teubner, Leipzig 1990, ISBN 3-322-00327-2, S. 12.</ref>

Fanny und William Nightingale waren Anhänger des Unitarismus, einer liberalen und dogmenfreien christlichen Glaubensrichtung, die unter anderem die Lehre der Dreifaltigkeit Gottes ablehnte. Auch wenn Bostridge den im Verlauf ihres Lebens zunehmend heterodoxer werdenden Glauben Nightingales betont, waren einzelne Elemente des unitaristischen Ethos für sie prägend: der Glaube an sozialen Fortschritt und an eine moralische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft sowie die große Bedeutung, die dem Dienst an der Gemeinschaft beigemessen wurde.<ref>Bostridge, S. 53.</ref> Briefe aus den 1830er-Jahren belegen, dass die Familie Nightingale in dieser Zeit für die Dorfbewohner in der Nähe von Lea Hurst medizinische Versorgung organisierte und bezahlte.<ref name="b49">Bostridge, S. 49.</ref> Nightingale sammelte ihre ersten Erfahrungen in der Krankenpflege zwar durch die Pflege kranker Familienmitglieder, begleitete aber bereits in sehr jungem Alter ihre Mutter und ihre Gouvernante bei Krankenbesuchen in den umliegenden Dörfern. Tagebucheinträge der erst zehnjährigen Nightingale über den Selbstmord einer jungen Mutter weisen darauf hin, dass sie dadurch sehr früh einen Eindruck der Lebensbedingungen der Armen erhielt.<ref name="b49" />

1837 bis 1844: Entscheidung für die Krankenpflege

Im Januar 1837 suchte eine Grippe-Epidemie den Süden Englands heim. Nightingale war eine der wenigen, die gesund blieben, und widmete sich vier Wochen lang intensiv der Versorgung Erkrankter. In einem Brief an ihre Schwester hält sie fest, sie habe als „Krankenpflegerin, Gouvernante, Hilfspfarrerin und Ärztin“ gehandelt.<ref name="b50">Bostridge, S. 50–51.</ref> In diese Zeit fällt auch ein religiöses Erweckungserlebnis, das für sie so prägend war, dass die Jahrestage für sie zeitlebens ein besonderes Ereignis blieben.<ref name="b50" /> Am 7. Februar 1837 schrieb Nightingale in ihr Tagebuch: „Gott sprach zu mir und rief mich in seinen Dienst.“<ref>Im Original: „God spoke to me and called me to his service.“ zitiert nach M. E. Holliday, D. L. Parker: Florence Nightingale, feminism and nursing. In: Journal of Advanced Nursing, Ausgabe 26 Jahrgang 1997, S. 483–488.</ref> Welcher Art dieser Dienst sei, sagte die Stimme nicht. Sie gibt in ihrem Tagebuch auch keinen Hinweis darauf, in welcher Weise sich dieser Ruf äußerte. In ihren Notizen und Tagebüchern gibt es jedoch Hinweise, dass sie (auch) in späteren Lebensphasen den Ruf Gottes vernahm.<ref>Bostridge, S. 55.</ref>

Datei:Samuel Gridley Howe.jpg
Der amerikanische Arzt Samuel Gridley Howe, der Nightingale in ihrer Entscheidung für die Krankenpflege bestärkte.

Nightingales zunehmendes soziales Engagement wurde durch eine anderthalbjährige Reise der Familie durch Frankreich und Italien unterbrochen.<ref>Florence Nightingale, Lynn McDonald: Florence Nightingale’s European travels. Wilfrid Laurier Univ. Press, 2004, ISBN 0-88920-451-9, S. 44–46.</ref> Am 9. April 1839 kehrte die Familie nach Großbritannien zurück, und Anfang Mai wurde Florence Nightingale am Hof der jungen Königin Victoria eingeführt. Dank einem Cousin, der in Cambridge Mathematik studierte und in Lea Hurst für einige Wochen zu Gast war, begann sie sich ab Juni 1839 zunehmend mit Mathematik auseinanderzusetzen.<ref>Dossey, S. 43–45.</ref>

Ihre Eltern standen ihrem neuen Interessengebiet skeptisch gegenüber, insbesondere ihre Mutter hätte es lieber gesehen, wenn sich ihre Tochter auf für eine Frau in den Augen der Zeitgenossen angemessenere Beschäftigungen konzentriert hätte. Dank dem Bestehen ihrer Tante Mai Smith gaben die Eltern jedoch schließlich nach und stellten einen Tutor für ihre Studien ein.<ref>Hugh Small: Florence Nightingale: Avenging Angel. Palgrave Macmillan, 1999, ISBN 0-312-22699-3, S. 7–8.</ref><ref>Bostridge, S. 70–71.</ref> Briefe aus dieser Zeit belegen, dass Nightingale ihr Leben dennoch zunehmend als banal empfand.<ref>Bostridge, S. 79–80.</ref> Die Familie lebte abwechselnd auf Lea Hurst und Embley Park, unterbrochen von längeren Besuchen bei Verwandten oder Aufenthalten in London während der Ballsaison. Die Hoffnung der Mutter, auf Embley Park auch Mitglieder des britischen Hochadels als Hausgäste zu empfangen, erfüllte sich nicht. Bei den Nightingales verkehrten aber eine Reihe angesehener britischer Politiker wie Charles Shaw-Lefevre und Lord Palmerston, der spätere Premierminister. Im Verlauf der Jahre waren auch Persönlichkeiten wie Leopold von Ranke, Charles Darwin, der Botaniker William Jackson Hooker, Lord Byrons Witwe Anne Isabella Noel-Byron und ihre Tochter Ada Lovelace auf Embley Park zu Gast.<ref>Bostridge, S. 81–82.</ref>

Lang anhaltenden Einfluss auf Nightingale hatte die Bekanntschaft mit dem preußischen Botschafter Christian von Bunsen, der sowohl in Rom als auch in London die Gründung von Krankenhäusern angeregt hatte. Bunsen führte sie in die Schriften von Arthur Schopenhauer und Friedrich Schleiermacher ein. Durch ihn angeregt, setzte sie sich mit David Friedrich Strauß’ aufsehenerregender Schrift Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet auseinander. Bunsen selbst hatte vergleichende religionswissenschaftliche Studien betrieben, und seine Gedankenansätze prägten auch Nightingales deutlich später erschienene Schrift Suggestions for Thought.<ref>Bostridge, S. 84–85.</ref>

Im Sommer 1844 wurde sich Nightingale zunehmend sicher, dass sie ihr Leben der Krankenpflege widmen wollte. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung war die Begegnung mit dem US-amerikanischen Arzt Samuel Gridley Howe und seiner Frau Julia Ward, die während ihrer Hochzeitsreise zu Gast auf Embley Hall waren. Howe hatte in den USA die erste Blindenschule errichtet; an ihn richtete Nightingale die Frage, ob er es für unpassend halte, wenn eine junge Frau wie sie sich in ähnlicher Form der Krankenpflege widme, wie dies katholische Nonnen der Pflegeorden tun. Howe antwortete ihr:

„Meine liebe Miss Florence, es wäre ungewöhnlich, und in England neigt alles was ungewöhnlich ist dazu als unpassend zu gelten. Aber ich sage Ihnen, gehen sie diesen Weg, wenn Sie für diese Art zu leben eine Berufung fühlen. Handeln Sie entsprechend Ihrer Eingebung und Sie werden herausfinden, dass nichts Unpassendes oder Undamenhaftes daran sein wird, wenn Sie Ihre Pflicht zum Nutzen anderer tun.“<ref>Im Original lautet die Antwort Howes: “My dear Miss Florence, it would be unusual, and in England whatever is unusual is apt to be thought unsuitable; but I say to you, go forward if you have a vocation for that way of life; act up to your inspiration, and you will find that there is never anything unbecoming or unladylike in doing your duty for the good of others”. Zitiert nach Dossey, S. 52.</ref>

1845: Ablehnung in der Familie

Im Sommer 1845 diskutierte Nightingale erstmals mit ihrer Familie über ihre Pläne, in der Krankenpflege aktiv zu werden. Nachdem sie Monate zuvor Zeugin geworden war, wie eine Kranke infolge der Unfähigkeit ihrer Pflegerin starb, war sie zu der Ansicht gelangt, dass sie zunächst einer Grundausbildung in der Krankenpflege bedürfe. Sie wollte deswegen zunächst im Krankenhaus von Salisbury ein dreimonatiges Praktikum absolvieren und dann ein kleines Haus erwerben, in dem sie gemeinsam in einer Art protestantischer Schwesternschaft mit Frauen ähnlicher Herkunft und Ausbildung leben und Kranke pflegen würde.<ref>Bostridge, S. 91.</ref> Der Vorschlag traf in ihrer Familie auf strikte Ablehnung.

Datei:Martin Chuzzlewit illus11.jpg
Illustration zu Dickens’ Martin Chuzzlewit (bei der Person links handelt es sich um die Krankenpflegerin Sairey Gamp)

Wer in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkrankte, wurde in der Regel zu Hause gepflegt. Britische Krankenhäuser waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Wohlfahrtseinrichtungen, in denen Bedürftige kostenlos gepflegt wurden, wenn sie einen Empfehlungsbrief von einem der Unterstützer der Einrichtung vorweisen konnten. Tuberkulose-, Pocken- oder Krebskranke fanden keine Aufnahme, und ebenso wenig wurde Gebärenden Hilfe geleistet.<ref>Bostridge, S. 93.</ref> Erst im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung der Bevölkerung gewannen Krankenhäuser in Großbritannien an Bedeutung für die allgemeine Gesundheitsfürsorge. Das von Christian von Bunsen initiierte German Hospital in London, das Nightingale im Juni 1846 besichtigte, ist entsprechend mit großer Sicherheit das erste Krankenhaus, das sie je betrat.<ref>Bostridge, S. 85.</ref> Krankenhäuser im modernen Sinne entwickelten sich erst nach 1846, als die zunehmende Verbreitung der modernen Anästhesie andere Formen von Eingriffen ermöglichte, aber auch eine organisierte und sorgfältige ganztägige Betreuung der behandelten Patienten verlangte.<ref name="b94">Bostridge, S. 94.</ref>

Die strikte Ablehnung ihres Wunsches durch die Familie beruhte neben Nightingales anfälliger Gesundheit auf dem schlechten Ansehen des Krankenpflegerberufs.<ref>Dossey, S. 53.</ref> Bei den Pflegekräften, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in britischen Krankenhäusern arbeiteten, handelte es sich in der Regel um ehemalige Dienstboten oder um Witwen, die keine anderweitige Anstellung fanden und daher gezwungen waren, sich ihr Brot durch diese Arbeit zu verdienen. Nicht besser war das Ansehen der Krankenpflegerinnen, die Kranke in deren Heim pflegten. Charles Dickens karikierte in seinem 1842 bis 1843 erschienenen Roman Martin Chuzzlewit in der Figur der Sairey Gamp eine solche Krankenpflegerin als inkompetent, nachlässig, alkoholabhängig und korrupt. Vorbild seiner Figur war die Pflegerin, die im Haushalt seiner Förderin und Freundin Angela Burdett-Coutts zeitweilig eine erkrankte Bedienstete versorgte.<ref name="b94" />

Dickens’ Darstellung empfanden seine Leser als so treffend, dass sich für den zweifarbigen Regenschirm, den Sairey Gamp gewohnheitsmäßig mit sich herumträgt, der umgangssprachliche Begriff Gamp entwickelte.<ref>Charles Dickens: Martin Chuzzlewit. Penguin Classics, London, 2012. ISBN 978-0-14-119890-3.</ref> Tatsächlich verrichteten viele der Pflegerinnen alkoholisiert ihren Dienst, und es war gängige Praxis, den Pflegerinnen als Dank für ihre Dienste alkoholische Getränke oder Geld für ihren Kauf zu schenken. Der Ruf, dass insbesondere Krankenpflegerinnen, die während der Nacht arbeiteten, auch sexuelle Wünsche ihrer Patienten erfüllten, stellte den Beruf in die Nähe der Prostitution.<ref name="b96">Bostridge, S. 96–98.</ref> Allerdings sollte nicht verkannt werden, dass die britische Gesellschaft dazu neigte, schnell zu diesen Mitteln der Diskreditierung zu greifen, insbesondere wenn es um die unteren Gesellschaftsschichten ging. Zudem sollte später durch die Herabwürdigung der Vergangenheit die Errungenschaften des Nightingale Nursings besonders herausgestellt werden.<ref>R. Schmidt-Richter: A review of the introduction of systematic training for nurses at the Royal Infirmary Edinburgh 1872–1879. Edinburgh, Univ., Master of science in nursing and health studies, 1993.</ref>

Nightingale war nicht die Einzige, die für Frauen, die sich zur Krankenpflege berufen fühlten, ein Betätigungsfeld schaffen wollte. Im Rahmen der anglikanischen Oxford-Bewegung waren zwei Schwesternschaften gegründet worden, die sich an katholischen Pflegeorden orientierten. Wegen der Nähe zur römisch-katholischen Kirche stießen diese Schwesternschaften aber in der britischen Öffentlichkeit auf weitgehende Ablehnung.<ref name="b96" /> Elizabeth Fry, die vor allem als Reformerin des Gefängniswesens in Erinnerung geblieben ist, gründete 1840 die Institution of Nursing Sisters. Ihre Schülerinnen kamen aus derselben Bevölkerungsschicht, der auch Dickens’ fiktive Sairey Gamp entstammte. Allerdings mussten sie wenigstens lesen und schreiben können, trugen Uniformen und durchliefen eine dreimonatige Ausbildung. Frys Schwestern widmeten sich vor allem der kostenlosen Gesundheitsfürsorge für Arme und finanzierten sich durch private Krankenpflegedienste in wohlhabenderen Haushalten sowie gelegentliche Einsätze in Krankenhäusern.<ref name="b96" /> Fry starb bereits 1845, und es ist nicht wahrscheinlich, dass Nightingale ihr jemals begegnete.

1846 bis 1850, Differenzen mit den Eltern, gescheiterte Heiratspläne

Am 18. Januar 1846 unternahm Nightingale einen erneuten Versuch, die Erlaubnis ihrer Eltern zu erhalten, sich in der Krankenpflege fortzubilden. Sie wandte sich diesmal schriftlich an ihren Vater, weil sie sich nicht mehr in der Lage fühlte, dieses Thema ohne Emotionen direkt bei ihren Eltern anzusprechen. Auch diesmal traf sie auf Ablehnung.<ref>Bostridge, S. 101.</ref>

Wie ihren Eltern zugesichert, thematisierte sie ihren Wunsch nicht erneut. Sie las aber weiterhin Berichte über Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen. Als Reaktion auf die herrschende Wirtschaftskrise wurden in den 1840er Jahren eine Reihe von möglichen Sozialreformen diskutiert, die die Lebensbedingungen der unteren Schichten der britischen Bevölkerung verbessern sollten. Nightingale folgte diesen Diskussionen bereits seit 1840 mit großem Interesse, und es gilt als sehr sicher, dass sie unter anderem Edwin Chadwicks Report on the Sanitary Conditions of the Labouring Class of Great Britain, der als Meilenstein des öffentlichen Gesundheitswesens gilt, kurz nach dem Erscheinen 1842 las.<ref>Bostridge, S. 74.</ref>

Datei:Milnes.jpg
Richard Monckton Milnes, einer der Bewerber um Nightingales Hand

Inzwischen war Richard Monckton Milnes häufiger bei der Familie Nightingale zu Gast, der offensichtlich Florence als Lebenspartnerin in Erwägung zog.<ref name="Dossey, S. 51">Dossey, S. 51.</ref> Der Literat und Politiker entsprach dem Bild, das insbesondere Fanny Nightingale von einem geeigneten Schwiegersohn hatte, und Florence schätzte Milnes Humor und sein Engagement während der großen Hungersnot in Irland. Vor einer Entscheidung für oder wider Richard Milnes begleitete sie das Ehepaar Bracebridge, das mit der Familie befreundet war, auf einer mehrmonatigen Reise nach Rom.<ref>Bostridge, S. 108–111.</ref> Das Ehepaar ließ Nightingale größere Freiheiten, als sie von ihrem Elternhaus gewohnt war, was sie dazu nutzte, verschiedene römische Krankenhäuser zu besichtigen.<ref>Bostridge, S. 121.</ref>

Nach ihrer Rückkehr nach Großbritannien lehnte Nightingale Milnes Heiratsantrag ab. Die Einzelheiten des Gesprächs zwischen Milnes und Nightingale sind nicht bekannt. Es ist möglich, dass sie den Antrag keineswegs eindeutig abschlägig beschied, von Milnes aber missverstanden wurde.<ref name="b126">Bostridge, S. 126.</ref> Dies würde erklären, warum Nightingale während der nächsten zwei Jahre in ihren Tagebüchern immer wieder die Vor- und Nachteile einer Heirat mit Milnes abwog, und damit erst im Juni 1851 aufhörte, als Milnes sich mit Annabel Crewe verlobte.<ref name="b126" />

Das Ehepaar Bracebridge brach gegen Ende des Jahres 1849 zu einer Reise nach Ägypten und Griechenland auf, und Nightingales Eltern gestatteten ihrer Tochter, das Ehepaar ein weiteres Mal zu begleiten. Nightingale führte zwei Tagebücher während dieser Reise: eines, das offensichtlich dafür bestimmt war, auch von ihren Familienmitgliedern gelesen zu werden, und ein zweites, in dem sie ihre wachsende Verzweiflung über ihr sinnentleertes Leben niederschrieb.<ref name="b132">Bostridge, S. 132–133.</ref> Auch während dieser Reise besuchte sie eine Reihe von Krankenhäusern, darunter das Hôtel-Dieu de Paris, das als eines der weltweit besten Krankenhäuser galt.<ref name="b132" /> Der Weg von Griechenland zurück nach Großbritannien sollte über Deutschland führen. Selina Bracebridge, in der Nightingale zunehmend eine Unterstützerin ihrer Pläne fand, änderte den Reiseweg so, dass ihre Begleiterin zwei Wochen in der Kaiserswerther Diakonie hospitieren konnte. Die Änderung erfolgte so kurzfristig, dass es nicht mehr möglich war, dafür die Zustimmung von Nightingales Eltern einzuholen.<ref name="b140">Bostridge, S. 140.</ref>

Mit der Arbeit der Kaiserswerther Diakonissen war Nightingale vertraut, da Christian von Bunsen ihr seit 1846 die Jahrbücher dieser Einrichtung zusandte.<ref name="Dossey, S. 51" /> Die von Theodor Fliedner gegründete Institution war in der Gefangenenfürsorge, der Erziehung und Bildung von Kindern sowie der Pflege von Kranken und Alten tätig. Ausgebildet wurden außerdem Diakonissen, die sich aus einer christlichen Berufung heraus dem Dienst am Menschen widmen wollten und in Kaiserswerth eine Ausbildung als Krankenpflegerin, Gemeindeschwester, Erzieherin oder Lehrerin erhielten. Diakonissen legten kein dem katholischen Ordensleben vergleichbares Gelübde ab und konnten ihren Dienst jederzeit verlassen, wenn sie heiraten oder zu ihren Eltern zurückkehren wollten.

In einem Brief an ihren Vater beschrieb Nightingale die Kaiserswerther Diakonie als „ärmlich und hässlich“ und merkte auch an, dass die Sauberkeit teilweise zu wünschen übrig lasse. Sie hielt aber auch fest, dass die Diakonie in allen wesentlichen Punkten ein Modell für Großbritannien sei. Beeindruckt war sie von der wöchentlichen Vorlesung, die Fliedner für die Schwestern abhielt, und von den strikten Regeln, die ein schickliches Betragen der Schwestern sicherstellen sollten. Auf den Stationen für Männer versorgten männliche Pfleger unter Leitung einer der Diakonissen die Patienten, und den Schwestern war es streng untersagt, nach 20 Uhr die Stationen für Männer zu betreten.<ref name="b140" /> Sie beschrieb die Arbeitsweise der Kaiserswerther Diakonie in ihrer ersten Veröffentlichung, die 1851 anonym unter dem Titel The Institution of Kaiserswerth on the Rhine, for the Practical Training of Deaconesses erschien.<ref>Bostridge, S. 145.</ref>

1851 bis Herbst 1854: Kaiserswerth und Leiterin eines Pflegeheims

Seitdem Nightingale 1845 ihre Familie erstmals mit ihrem Wunsch konfrontiert hatte, ihr Leben der Krankenpflege zu widmen, hatte es in Großbritannien eine Reihe von Reforminitiativen gegeben, die das Ziel hatten, Ausbildung und Ansehen von Krankenpflegerinnen zu verbessern. Diese Veränderung griff auch Selina Bracebridge in Briefen auf, in denen sie Nightingales Wunsch unterstütze:

„Die Meinung der Welt in den letzten zwei Tagen …“, schrieb eine der Pflegerinnen nach Hause.<ref name="r1" />

Nightingale schätzte, dass von den 38 Pflegekräften, die sie nach Scutari begleitet hatten, nur zwischen zehn und sechzehn für die Aufgabe wirklich geeignet waren. In der Sorge, dass ihr Experiment scheitern könnte, durfte laut Anweisung Nightingales keine von ihnen nach 20.30 Uhr eine der Stationen betreten. Die Pflegerinnen, die in Londoner Krankenhäusern rekrutiert worden waren, mussten ihre Arbeit unter Aufsicht einer der Nonnen verrichten. Das Gelände des Krankenhauses durften sie nur zu dritt oder unter Aufsicht verlassen, die Annahme von Geschenken war ihnen genauso untersagt wie jegliche Verbrüderung mit den Soldaten. Sowohl von den ursprünglichen als auch den später rekrutierten ehrenamtlichen und hauptberuflichen Pflegerinnen schickte Nightingale in den kommenden Monaten mehrere wegen Trunkenheit, Inkompetenz und Ungehorsam wieder nach Großbritannien zurück. Ihre strenge Führung, die Bostridge mit dem Selbstverständnis vergleicht, mit dem eine Frau ihrer Schicht ihre Dienstboten befehligte, sorgte unter den Pflegerinnen zum Teil für erhebliche Unzufriedenheit.<ref>Bostridge, S. 232−233.</ref><ref>Rappaport, S. 123.</ref>

Zwar wohnte Nightingale anfangs Operationen bei, aber überwiegend war sie mit der Organisation eines grundlegenden Krankenhausbetriebes befasst: Sie beschaffte eine ausreichende Menge an Bettgestellen und Bettzeug, ließ einen bis dahin unbenutzbaren Flügel des Krankenhauses renovieren und alle Betten durchnummerieren, richtete auf den geräumigen Treppenaufgängen für jede Etage Behandlungsräume ein, veranlasste, dass alle Stationen geheizt wurden und ausreichend Zinkwannen zum Waschen der Patienten vorhanden waren, organisierte zwei Küchen, in denen spezielle Krankenkost zubereitet wurde, ordnete den Einkauf von Gemüse an und ließ, um den verbreiteten Skorbuterscheinungen entgegenzuwirken, eingekochten Zitronensaft ausgeben.<ref>Dossey, S. 127–133.</ref>

Peter Benson Maxwell, eines der Mitglieder der Untersuchungskommission, die in Herberts Auftrag die Versorgung der Verwundeten überprüfte, schrieb in einem Brief über Nightingale angesichts dieser Organisationsleistung, dass sie in sich die Zartheit und Güte ihres Geschlechtes mit der kühlen Klarheit eines Mathematikers vereine und, angetrieben von ihrem Ziel, vor keinem Hindernis zurückschrecke.<ref>Bostridge, S. 229–230.</ref> Lord William Paulet, der Oberkommandant in der Region, in der sich das Militärkrankenhaus befand, erwog zu Beginn des Jahres 1855 ernsthaft, alle Beschaffungsvorgänge an Nightingale zu übertragen.<ref>Bostridge, S. 230.</ref> Nightingale hat für sich nie in Anspruch genommen, die Mortalitätsrate in Scutari wesentlich gesenkt zu haben. Dieser Rückgang trat zwar im Frühjahr 1855 ein, ist aber mit Sicherheit auf die geringere Belegungsrate und auf einen besseren gesundheitlichen Zustand der Neuzugänge zurückzuführen. In ihren privaten Briefen an das Ehepaar Herbert beanspruchte Nightingale allerdings, in ihren ersten vier Monaten ein funktionsfähiges Krankenhaus sichergestellt zu haben. Bostridge hält diesen Anspruch, den sie niemals öffentlich äußerte, auch aus heutiger Sicht für gerechtfertigt.<ref>Bostridge, S. 249.</ref>

Datei:Nightingale receiving the Wounded at Scutari by Jerry Barrett.jpg
Jerry Barrett: Florence Nightingale empfängt die Verwundeten in Scutari

Im Sommer und Herbst 1855 war das Krankenhaus in Scutari zu einem großen Teil mit leichteren Krankheitsfällen und Rekonvaleszenten belegt.<ref>Bostridge, S. 283.</ref> Während Nightingale sich noch von der schweren Erkrankung erholte, die sie sich im Frühsommer 1855 während eines Besuches der Lazarette auf der Krim zugezogen hatte, richtete sie für die Soldaten ein Café in der Nähe des Krankenhauses ein, ließ im Krankenhaus Leseräume einrichten und organisierte Vortragsreihen, Musikabende und Theateraufführungen. Ihre Schwester Parthenope organisierte in Großbritannien dafür Schreibmaterial, Unterhaltungsspiele, Fußbälle, Bücher, Musiknoten und Ähnliches.<ref name="b284">Bostridge, S. 284–285.</ref>

Trotz der Versicherung des Kriegsministers Lord Panmure, dass kein britischer Soldat einen Teil seines Soldes abgeben würde, setzte Nightingale erfolgreich die Arbeit von Reverend Sidney Godolphin Osborne fort: Jeden Samstagnachmittag konnten Soldaten einen Teil ihres Soldes bei ihr einzahlen; das Geld wurde ihren Familien in Großbritannien ausgezahlt. Alle diese Maßnahmen wurden wegen ihres Erfolgs auch in anderen Lazaretten eingeführt, ab Januar 1856 boten mehrere Regierungsbüros in Scutari und Balaklawa den Soldaten die Möglichkeit, Geld zu transferieren.<ref name="b284" /> Erhalten sind auch zahlreiche Beileidsschreiben Nightingales an die Hinterbliebenen verstorbener Soldaten. Bostridge vertritt die Ansicht, dass sich mit Nightingale das erste Mal während eines Krieges mit britischer Beteiligung jemand mit einer offiziellen Funktion mit so viel Aufmerksamkeit und Mitgefühl an die hinterbliebenen Angehörigen wendete. Er zitiert als Beispiel einen Brief Nightingales an die Mutter eines an Dysenterie verstorbenen Soldaten, in dem Nightingale der Mutter schreibt, dass ihr Sohn viel von ihr gesprochen habe, dass es ihm wichtig gewesen sei, dass sie erfahre, dass ihm noch Sold zustehe, und dass er schließlich friedlich ohne großes Leiden gestorben sei.<ref name="b284" />

Die Ärzte, die in Scutari arbeiteten, urteilten unterschiedlich über den Beitrag der Pflegerinnen bei der Versorgung der Patienten: Nach Ansicht von Arthur Taylor verrichteten sie viele sinnvolle Arbeiten, sie seien häufig aber auch im Weg gewesen. Nach Meinung des Arztes Greig hätte es angesichts der großen Zahl an Patienten einer deutlich größeren Zahl solcher Pflegerinnen bedurft. Tatsächlich steht außer Frage, dass angesichts von 4.000 verletzten und kranken Soldaten, die allein zwischen dem 17. Dezember 1854 und dem 3. Januar 1855<ref name="r2">Rappaport, S. 125.</ref> in Scutari aufgenommen wurden, die Zahl der Pflegerinnen zu gering war und der größte Teil der pflegerischen Arbeit von den Ordonnanzen erledigt wurde.<ref>Bostridge, S. 235.</ref> Kaplan John Sabin verwies allerdings auf den positiven Einfluss, den die Pflegerinnen auf die Moral der Patienten hatten.<ref>Rappaport, S. 122–123.</ref>

Viele empfanden die Behandlung durch die Pflegerinnen als sanfter und tröstender als jene durch die Ordonnanzen, denen man außerdem nachsagte, sie würden ihre Patienten bestehlen.<ref name="r2" /> Im Fieberdelirium verwechselten viele der Soldaten die Pflegerinnen mit ihren weiblichen Verwandten zu Hause:<ref name="r2" /> „Sie strecken ihre Hand aus & sagen Schwester & Mutter“, beschrieb Charles Bracebridge ihr Sterben.<ref>Bostridge, S. 245.</ref> Der Besuch einer der Pflegerinnen sei „wie der Besuch eines Engels“, umschrieb es einer der Soldaten. Dieser Eindruck schlug sich auch in den Briefen der Soldaten an ihre Familien in Großbritannien nieder und prägte wesentlich die öffentliche Meinung über den Einsatz von Nightingales Pflegerinnen, da diese Briefe teilweise auch in der britischen Presse veröffentlicht wurden.

Konflikte

Datei:Florence Nightingale by Kilburn c1854.jpg
Florence Nightingale (ca. 1854)

Weil er eine Anmerkung in einem Brief als Bitte um mehr Pflegerinnen missverstand, entsandte Herbert am 2. Dezember 1854 eine zweite Gruppe von Pflegerinnen, bestehend aus 15 irischen Nonnen, 24 in Krankenhäusern rekrutierten und 9 ehrenamtlichen Helferinnen, nach Scutari. Geleitet wurde diese Gruppe von Mary Stanley.<ref>Rappaport, S. 120.</ref> Nightingale, die erst drei Tage vor der Ankunft der neuen Pflegerinnen davon erfuhr, sah sich darin in ihrer Autorität bedroht, warf Herbert Wortbruch vor, bot ihm ihren Rücktritt an und lehnte zunächst eine Aufnahme der Pflegerinnen ab. Erschwert wurde eine mögliche Zusammenarbeit mit den neuen Pflegerinnen durch die Weigerung der Oberin Frances Bridgeman, sich und ihre Nonnen so bedingungslos der Leitung Nightingales zu unterstellen, wie dies die Oberin der Bermondsey-Nonnen getan hatte.<ref>Rappaport, S. 122.</ref>

Im Januar 1855 ging ein Teil dieser neuen Pflegerinnen nach Balaklawa, wo sich die militärische Situation mittlerweile so stabilisiert hatte, dass dort Krankenhäuser errichtet werden konnten. Dort waren sie Nightingales Leitung entzogen, da sich ihr Regierungsauftrag nur auf Pflegerinnen bezog, die in britischen Militärkrankenhäusern in der Türkei arbeiteten. Die anderen Pflegerinnen unterstützten zwei Krankenhäuser in Kuleli, fünf Meilen nördlich von Scutari, wobei sich die Gruppe in Nonnen einerseits und Krankenhauspflegerinnen sowie ehrenamtliche Helferinnen andererseits aufteilte. Die irischen Nonnen erwiesen sich als erfahrene und gute Krankenpflegerinnen.<ref name="Bostridge, S. 243">Bostridge, S. 243.</ref> In der anderen Gruppe, die zunächst von Mary Stanley geleitet wurde, kam es aufgrund der Unterschiede zwischen den Pflegerinnen zu zunehmenden Problemen, die Nightingale auch nicht eindämmen konnte, als Stanley im April 1855 krank nach Großbritannien zurückkehrte.<ref>Bostridge, S. 243–244.</ref>

Nightingale ließ sich am 20. April 1855 ausdrücklich von der Leitung der Pflegerinnen in Kuleli entbinden, insbesondere weil sie den ehrenamtlichen Helferinnen dort ein unprofessionelles Vorgehen unterstellte. Bostridge verweist jedoch darauf, dass sich zumindest anhand der Sterblichkeitsrate kein Unterschied zwischen den Krankenhäusern in Kuleli und in Scutari feststellen lässt.<ref name="Bostridge, S. 243" /> Die Erfahrungen wiederholten sich auch in den kommenden Monaten: Nightingale war zwar offiziell Leiterin aller in der Türkei arbeitenden britischen Pflegerinnen, war jedoch aufgrund der Entfernungen zwischen den einzelnen Krankenhäusern nicht in der Lage, diesen Führungsanspruch wahrzunehmen. Von den rund 229<ref>Bostridge, S. 270.</ref> Pflegerinnen, die während des Krimkrieges von Großbritannien entsandt wurden, arbeitete nur ein kleiner Teil unter Nightingales Leitung.

Zu den entschiedensten Gegnern Nightingales zählten David Fitzgerald, dem offiziell alle Beschaffungsvorgänge für die britischen Lazarette unterstanden, und Dr. John Hall, der leitende Militärarzt. Letzterer stellte Anfang 1856 die Leistungen der von Nightingale geleiteten Pflegerinnen in einem offiziellen Bericht in Abrede. Der Bericht enthielt zahlreiche Fehler, und Nightingale erwog, sich an das Unterhaus zu wenden, um sich gegen die Unterstellungen zu wehren. Auf Herberts Anraten sah sie davon jedoch letztlich ab. Innerhalb des Kriegsministeriums fand sie einen Fürsprecher in John Henry Lefroy, der Neid und Eifersucht für zwei Motive des Berichts hielt und dem Kriegsminister Lord Pemburne riet, an Nightingale festzuhalten. Im Generalbefehl vom 16. März 1856 wurde sie in ihrer Funktion bestätigt. Sie ist die erste Frau, die in einem britischen Generalbefehl Erwähnung fand.<ref>Bostridge, S. 291–293.</ref>

Wahrnehmung in der Öffentlichkeit

Bereits im Oktober 1854, nachdem Nightingale offiziell die Leitung der britischen Pflegerinnen übertragen worden war, waren in britischen Zeitungen und Journalen Berichte über sie erschienen, die die Historikerin Helen Rappaport als hagiografisch bezeichnet<ref>Rappaport, S. 110.</ref> und die Mark Bostridge einen für die Öffentlichkeit akzeptablen Gegenentwurf zum „Engel im Haus“, dem von dem Literaten Coventry Patmore geschaffenen Bild einer perfekten Ehefrau und Mutter, nennt.<ref>Bostridge, S. 255.</ref>

Datei:Nightingale-illustrated-london-news-feb-24-1855.jpg
Illustration der Illustrated London News vom 24. Februar 1855
Datei:Florence Nightingale. Coloured lithograph. Wellcome V0006579.jpg
The Lady with the Lamp. Farblithographie von Henrietta Rae

Am 24. Februar 1855 erschien in den London Illustrated News eine Darstellung Nightingales, wie sie während der Nacht mit einer Lampe in der Hand ihre Patienten auf den Stationen besucht. Diese Einzelheit ihres Wirkens, die in den folgenden Wochen und Monaten bildlich und sprachlich immer wieder aufgegriffen wurde, entwickelte sich zu einem Teil ihres persönlichen Mythos und wurde zur Metapher für ein Ideal christlicher Weiblichkeit, das sie in den Augen der Öffentlichkeit repräsentierte.<ref>Bostridge, S. 251 und 253.</ref> Die wenigen kritischen oder spöttischen Äußerungen, die unter anderem im Satiremagazin Punch erschienen, verhallten weitgehend ohne Resonanz: Nightingale erreichte im Verlauf des Jahres 1855 in Großbritannien eine Bekanntheit, die nur von Königin Victoria übertroffen wurde.<ref>Rappaport, S. 94.</ref>

Bereits im August 1855 gab es Pläne, sich bei Nightingale für ihren Einsatz auf der Krim mit einer Sammlung zu bedanken, die es ihr nach ihrer Rückkehr erlauben würde, eine Krankenpflegerschule ins Leben zu rufen.<ref>Monica E. Baly: Florence Nightingale and the Nursing Legacy. Whurr Publishers, London 1997, ISBN 1-86156-049-4, S. 8.</ref> Nightingale reagierte höflich, aber wenig enthusiastisch. Auf die Bitte, einen ersten Entwurf für die Umsetzung einer solchen Schule niederzuschreiben, antwortete sie in einem Brief vom 27. September 1855: „Es scheint Leute zu geben, die denken, ich habe nichts anderes im Moment zu tun, als Pläne zu machen.“<ref>Zitiert nach Baly, S. 9.</ref> Selina Bracebridge gegenüber äußerte sie, dass sie noch möglicherweise über Jahre Erfahrungen sammeln wolle, bevor sie eine solche Aufgabe übernehme.<ref>Baly, S. 12.</ref>

Die Sammlung für den Nightingale Fund gilt als erster britischer Spendenaufruf, der sich an alle Schichten der Bevölkerung wandte.<ref>Baly, S. 17.</ref> Unterstützt wurde er von einer Reihe bekannter Persönlichkeiten, unter anderem gab die Sopranistin Jenny Lind ein Benefizkonzert. General William John Codrington regte an, dass Armeeangehörige einen Tagessold spenden sollten, und fast ein Viertel der 44.039 Pfund, die zusammenkamen, stammte von Angehörigen der britischen Armee.<ref>Baly, S. 16.</ref> Tatsächlich kam der größte Teil der Spenden jedoch von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht.<ref>Bostridge, S. 294–295.</ref>

Reformjahre

Nightingale war seit ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung im Mai 1855 gesundheitlich angegriffen. Sie verließ Scutari trotzdem erst gegen Ende Juli 1856, fast vier Monate nach Abschluss des Friedensvertrages zwischen den am Krimkrieg beteiligten Ländern. In der dritten Augustwoche 1857 erlitt sie einen schweren gesundheitlichen Zusammenbruch. Ihr Arzt diagnostizierte Herzvergrößerung und Neurasthenie.<ref>Bostridge, S. 324.</ref> Woran sie tatsächlich litt, lässt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen.

In der Literatur wird eine Bandbreite an Krankheiten diskutiert, die von Krim-Kongo-Fieber, Bleivergiftung und Syphilis bis zu einer rein psychosomatischen Reaktion auf ihre Arbeitsbelastung und ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter und Schwester reicht.<ref>Baly, S. 23.</ref> Der Wissenschaftler David Young hat in der medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal überzeugend argumentiert, dass Nightingale mit großer Wahrscheinlichkeit an einer besonders schweren Form chronischer Brucellose litt.<ref>David A. B. Young: Florence Nightingale’s fever, British Medical Journal, Ausgabe 311 (23. Dezember 1995), S. 1697–1700.</ref> Dies würde schlüssig die Vielzahl an Krankheitssymptomen erklären, die sie bis zum Ende ihres Lebens aufwies: unregelmäßiger Herzschlag, Tachykardie, immer wieder auftretendes Fieber, Schlaflosigkeit, Depressionen und Übelkeit.

Ab Herbst 1857 führte Nightingale das Leben einer Invaliden, die öffentlich nicht mehr in Erscheinung trat und zeitweilig so krank war, dass sie selbst für ihre Reformen wesentliche Persönlichkeiten wie den Premierminister William Ewart Gladstone, General Charles George Gordon, den Philanthropen William Rathbone und die niederländische Königin oder enge Freunde wie Mary Anne Clarke nicht empfangen konnte.<ref>Bostridge, S. 329.</ref> Ab Dezember 1861 litt sie zunehmend an Spondylitis, Kurzatmigkeit und Muskelkrämpfen. Ihr gesundheitlicher Zustand verbesserte sich erst etwas zu Beginn der 1880er-Jahre, so dass sie wieder in der Lage war, längere Strecken zu Fuß zurückzulegen.<ref>Bostridge, S. 485.</ref>

Nightingale lebte die ersten Jahre nach ihrer Rückkehr von der Krim in einer Suite des Hotels Burlington im Londoner West End, danach in schneller Folge in mehreren, in London angemieteten Häusern. 1865 erwarb ihr Vater für sie ein Haus in der Londoner South Street, das sie bis zu ihrem Lebensende bewohnte.<ref>Bostridge, S. 409.</ref> Zu ihrem Haushalt gehörten in der Regel eine Köchin, ein Küchen- und zwei Hausmädchen sowie eine Zofe. In ihren privaten Briefen finden auch ihre zahlreichen Katzen Erwähnung, die sie in der South Street hielt.<ref>Bostridge, S. 412–413.</ref>

Arbeitsweise

Datei:Nightingale-mortality.jpg
Polar-Area-Diagramm, mit dessen Hilfe Nightingale die Todesursachen während des Krimkrieges darstellt:
blau: an Infektionskrankheiten Verstorbene
rot: an Verwundungen Verstorbene
schwarz: andere Todesursachen

Nightingales Erkrankung hatte wesentlichen Einfluss auf ihre Arbeitsweise. Außerstande, sich gegebenenfalls selbst ein Bild von der Situation in einer Kaserne, einem Kranken- oder Armenhaus zu machen, konzentrierte sie sich darauf, Daten zu sammeln, diese aufzubereiten und zu analysieren, um dann daraus Schlüsse abzuleiten. Ein wesentliches Arbeitsmittel waren für sie Fragebögen, daneben griff sie auf bereits vorhandene Daten zurück. Dazu zählten die als Blaubücher bezeichneten offiziellen Regierungsberichte ebenso wie Stellungnahmen britischer Behörden.<ref name="g19">Gourlay, S. 19.</ref> Ihre Materialsammlung war so umfangreich, dass sie die mehrfachen Umzüge Anfang der 1860er Jahre erheblich erschwerten.<ref>Bostridge, S. 407.</ref>

Nightingale stand mit vielen Menschen in brieflichem Kontakt. In den vier Jahrzehnten, in denen sie sich überwiegend mit Reformen in Indien befasste, gehörten dazu indische Generalgouverneure, Mitglieder des indischen Nationalkongresses und Offiziere der in Indien stationierten Truppen bis hin zu Angehörigen der indischen Mittelschicht.<ref name="g19" /> Nightingale verfügte darüber hinaus über vielfältige Beziehungen zu britischen Politikern und Intellektuellen. Premierminister Lord Palmerston war ein Freund ihrer Familie, Premierminister Gladstone zählte zu ihren Bewunderern, Sidney und Elizabeth Herbert, Benjamin Jowett, Arthur Hugh Clough und Harriet Martineau zu ihrem engsten Freundeskreis.

Zu den Personen, mit denen sie zum Teil über Jahrzehnte eng zusammenarbeitete, gehören zahlreiche Experten wie beispielsweise der Epidemiologe William Farr, der Mediziner John Sutherland oder der Ingenieur Arthur Cotton. Diese waren ähnlich wie sie davon getrieben, dass sie dringenden Handlungsbedarf sahen. Gleichzeitig bot ihnen die Zusammenarbeit mit ihr die Möglichkeit, einen Einfluss auszuüben, der weit über ihre übliche Sphäre hinausging. Arthur Cotton beispielsweise, der mit seinen sehr weitgehenden Forderungen zum Ausbau von Kanälen Schwierigkeiten hatte, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, nutzte Veröffentlichungen von Nightingale, um einem breiteren Publikum seine Ideen vorzustellen.<ref>Bostridge, S. 474.</ref>

Ihre Popularität insbesondere in den ersten Jahren nach dem Krimkrieg nutzte Nightingale regelmäßig, um Druck auf Politiker auszuüben. Häufig zitiert wird ihre Drohung gegenüber dem Kriegsministerium, ihren Geheimbericht zu ihren Erfahrungen während des Krimkriegs zu veröffentlichen, sollte sich die Einberufung der Untersuchungskommission weiter verzögern.<ref>Bostridge, S. 311 und 316.</ref> Die Zahl von Nightingales Veröffentlichungen ist sehr groß. Kennzeichnend für viele ihrer Berichte ist die visuelle Aufbereitung statistischen Materials, die es auch mathematisch weniger Kundigen ermöglichten, ihre Schlüsse nachzuvollziehen. Ihr Schreibstil war prägnant und gelegentlich auch sarkastisch. Sie fand eine große Leserschaft, weil sie nach ihrem Einsatz im Krimkrieg als maßgebliche Autorität in Fragen der Gesundheitsfürsorge galt.

Als Frau war sie niemals offizielles Mitglied einer von der Regierung einberufenen Untersuchungskommission. Aufgrund ihres Einflusses waren diese aber zum Teil mit Personen besetzt, die ihr und ihren Reformideen nahestanden. So wurde die Untersuchungskommission zum Sanitätswesen beispielsweise von Sidney Herbert geleitet, und John Sutherland war eines der Mitglieder. Während der Arbeit dieser Kommission wurde ihre Suite im Londoner Hotel Burlington scherzhaft als little War Office („kleines Kriegsministerium“) bezeichnet, weil sie dort einzelne Mitglieder morgens und nachmittags zur Beratung empfing. Wesentlicher Antrieb für ihre engagierte Unterstützung war ihre Überzeugung, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr lange leben werde.

Reform des britischen Sanitätswesens

Datei:Florence Nightingale by Goodman, 1858.jpg
Florence Nightingale (ca. 1858)

Nightingales Rückkehr von ihrem Einsatz im Krimkrieg verlief, wie von ihr gewünscht, von der Öffentlichkeit unbemerkt.<ref>Bostridge, S. 298 und 305.</ref> Am 23. August 1856 lud James Clark, der Leibarzt von Königin Victoria, sie ein, im September in seinem Haus in der Nähe des Schlosses Balmoral für einige Tage zu Gast zu sein. Die Einladung erfolgte auf Wunsch der Königin, die so Nightingale informell treffen konnte. In ihrem Tagebuch hielt die Königin über das erste Zusammentreffen fest, sie hätte eine „kalte, steife und reservierte Person“ erwartet und sei von Nightingales verbindlichem und damenhaftem Auftreten angenehm überrascht gewesen.<ref>Tagebuch vom 21. September 1858, zitiert nach Bostridge, S. 308.</ref> Als konstitutionelle Monarchin konnte Victoria keine Reformen des britischen Sanitätswesens veranlassen, auf ihren Wunsch verlängerte Nightingale jedoch ihren Aufenthalt in Schottland, um in Balmoral Kriegsminister Lord Panmure zu treffen.

Anders als Nightingale erwartet hatte, teilte Lord Panmure nicht nur ihre Ansicht, dass durch eine Untersuchungskommission notwendige Reformschritte eingeleitet werden müssten. Er beauftragte sie zusätzlich damit, ihre Empfehlungen in einem Geheimbericht der Regierung zu unterbreiten und die Pläne für das Netley Hospital, dem ersten zentralen Militärkrankenhaus auf britischen Boden, zu kommentieren.<ref>Bostridge, S. 305–307 und 311. Den offiziellen Regierungsauftrag für ihren Bericht erhielt sie im Februar 1857, der Auftrag im Oktober 1856 war noch inoffizieller Natur, aber bereits mit dem britischen Premier Palmerston abgestimmt.</ref>

Die Analysen, die Nightingale für ihren Regierungsbericht vornahm, belegten gravierende Probleme bei der militärischen Gesundheitsfürsorge: Obwohl britische Soldaten normalerweise zwischen 20 und 35 Jahre alt waren und damit einer Altersgruppe mit geringer Sterblichkeitsrate angehörten, wiesen sie in Friedenszeiten eine fast doppelt so hohe Sterblichkeitsrate wie Zivilisten auf. In ihrem Bericht an die britische Regierung fand Nightingale dafür deutliche Worte. Wenn jährlich von 1000 Zivilisten 11 sterben würden, aber 17, 19 und 20 von 1000 Soldaten der in England stationierten Linieninfanterie, Artillerie und Garde, dann sei das ähnlich kriminell wie jährlich 1.100 Mann auf die Salisbury Plain zu führen und dort zu erschießen.<ref>Im Original lautet dieses Zitat er wird zum Bruder unserer aller & wie für einen Bruder sollten wir für ihn sorgen.“<ref>Im Original lautet das Zitat: [from the moment a pauper becomes sick], he ceases to be a pauper & becomes brother to the best of us & as a brother he should be cared for. Brief von Nightingale an Villiers vom 30. Dezember 1864, zitiert nach Bostridge, S. 417.</ref> Das neue Metropolitan Poor Law wurde unter Würdigung von Nightingales Beitrag dazu im Jahre 1867 verabschiedet. Es ging nicht so weit wie von Nightingale vorgeschlagen, sah aber die Einrichtung von speziellen Krankenhäusern für Fieber- und Geisteskranke vor, die bislang ebenfalls in Arbeitshäuser eingewiesen worden waren. Zuständig für diese Krankenhäuser war das neu geschaffene Metropolitan Asylums Board, das aus Mitteln der Stadt finanziert wurde. Das Gesetz gilt als der erste Schritt in der Trennung staatlicher Krankenfürsorge von staatlicher Armenfürsorge und mündete schließlich in die Gründung des National Health Service, dem aus Steuermitteln finanzierten britischen Gesundheitssystem, das für jede in Großbritannien wohnhafte Person kostenlose medizinische Versorgung sicherstellt.<ref>Bostridge, S. 426–427.</ref>

Reformen in Britisch-Indien

Am 10. Mai 1857 kam es in Merath zu einem Aufstand von hinduistischen und muslimischen Soldaten gegen ihre britischen Befehlshaber. Der so genannte Sepoy-Aufstand weitete sich schnell über Nordindien aus. Britische Truppen schlugen den Aufstand im Laufe des Jahres 1858 weitgehend nieder, Krankheiten beeinträchtigten jedoch erheblich die Kampffähigkeit der Truppen.<ref>Andrew Ward: Our bones are scattered. The cawnpore massacres and the indian mutiny of 1857. John Murray Publishers, London 2004, ISBN 0-7195-6410-7, S. 402.</ref> So musste der erste Versuch, Lakhnau zurückzuerobern, abgebrochen werden, weil Henry Havelock nur noch über 700 einsatzfähige Männer verfügte.<ref>Lawrence James: Raj. The Making of British India. Abacus, London 1997, ISBN 0-349-11012-3, S. 253.</ref> Wie Nightingales spätere Analysen zeigten, starben von 1000 in Indien stationierten britischen Soldaten jährlich 60 an Ursachen, die mit unzureichenden hygienischen Bedingungen in Zusammenhang standen.<ref name="Bostridge, S. 396">Bostridge, S. 396.</ref>

Datei:Famine in India Natives Waiting for Relief in Bangalore.jpg
Zeitgenössische Darstellung der Großen Indischen Hungersnot 1876/1877, London Illustrated News vom 20. Oktober 1877

Die britische Regierung beauftragte 1857 erneut eine Untersuchungskommission, die diesmal gezielt die Lebensbedingungen der in Indien stationierten Soldaten untersuchen sollte. Nightingale beschäftigte sich von diesem Zeitpunkt bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Fragen der Gesundheitsfürsorge in Indien und entwickelte sich in dieser Zeit zu einer anerkannten Indienexpertin.<ref name="Bostridge, S. 396" /> Der Historiker Jharna Gourday unterscheidet vier Phasen in Nightingales Beschäftigung mit Indien:<ref>Jharna Gourlay: Florence Nightingale and the Health of the Raj. Ashgate, Burlington 2003, ISBN 0-7546-3364-0, S. 13.</ref>

  • ab 1857 der Versuch, bessere Gesundheitsfürsorge sowohl für Armeeangehörige und die indische Zivilbevölkerung zu erreichen,
  • ab 1870 fokussierte sich Nightingale auf die Ursachen der regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte,
  • ab 1879 setzte sie sich mit dem indischen Pachtwesen auseinander,
  • ab 1886 konzentrierte sie sich auf Vorschläge zur Verbesserung der Gesundheitsfürsorge in indischen Dörfern und der Ausbildung indischer Frauen.

Anhand ihrer Datenanalyse konnte Nightingale zeigen, dass die klimatischen Bedingungen in Indien nicht die wirkliche Ursache für die hohe Sterblichkeit unter britischen Soldaten waren. Das tropische Klima verschlimmerte nur die Folgen überbelegter Kasernen sowie mangelhafter Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung.<ref>Bostridge, S. 398–399.</ref> Die Empfehlungen der Untersuchungskommission wurden im Juli 1863 veröffentlicht. Der neue Generalgouverneur und Vizekönig von Indien John Lawrence, der zu Nightingales Briefpartnern zählte, ließ mit einem Aufwand von 10 Millionen Pfund die britischen Kasernen entsprechend den Empfehlungen umbauen und schrieb ihr bereits 1867, dass die Zahl der jährlichen Todesfälle unter britischen Soldaten auf 20,11 pro 1.000 Mann gesunken sei.<ref>Bostridge, S. 402.</ref> Nightingale beklagte dagegen, dass Reformen viel zu langsam umgesetzt würden. 1870 publizierte sie ein Papier mit dem Titel The Sanitary Progress in India, in dem sie der britischen Verwaltung vorwarf, sie habe zwar große Anstrengungen unternommen, neue Kasernen zu errichten, sich dabei aber nicht hinreichend um Probleme der Trinkwasserversorgung und Abwässerbeseitigung gekümmert.<ref>Bostridge, S. 404.</ref>

Hungersnot und Wasserbau

Auf die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte in Indien wurde Nightingale erstmals durch die Hungersnot in der Region Orissa aufmerksam, die von 1865 bis 1866 ungefähr eine Million Menschenleben forderte.<ref>Gourlay, S. 112.</ref> Die britische Verwaltung der Präsidentschaft Bengalen hatte das Ausmaß der Hungersnot unterschätzt, den britischen Generalgouverneur falsch über die Situation informiert und war auf dem Höhepunkt der Krise nicht in der Lage, Hilfsmaßnahmen zu organisieren.<ref>Gourlay, S. 112–113.</ref> Eine Untersuchungskommission der britischen Regierung führte zwar zur Entlassung des Gouverneurs der Präsidentschaft Bengalen, aber auf die Hungersnot in Orissa folgten sehr schnell weitere Hungersnöte.<ref>Gourlay, S. 113.</ref> Heute geht man davon aus, dass zwischen 1858 und 1947, den Jahren der direkten britischen Kolonialherrschaft über den indischen Subkontinent, rund 29 Millionen Inder verhungerten.<ref>Bostridge, S. 472.</ref>

Offiziell wurden die zahlreichen Hungersnöte mit klimatischen Einflüssen erklärt, tatsächlich bedingte die Form der britischen Kolonialwirtschaft jedoch, dass die Mehrheit der Bevölkerung selbst in guten Jahren kaum über das Existenzminimum verfügte.<ref>Gourlay, S. 114.</ref> Nightingale fokussierte sich im Wesentlichen auf zwei Themen: den Bau von Kanälen und Bewässerungssystemen sowie eine Reform des indischen Pachtwesens. Seit Ende der 1860er Jahre hatte sie sich mit Wasserbaumaßnahmen auseinandergesetzt und war zum Schluss gekommen, dass Bewässerungsmaßnahmen die landwirtschaftliche Produktivität nachhaltig steigern und gleichzeitig Kanäle die Transportmöglichkeiten innerhalb Indiens erheblich verbessern würden. Mit dieser Ansicht stand sie nicht allein, einzelne Maßnahmen waren bereits während der indirekten Herrschaft durch die Britische Ostindien-Kompanie umgesetzt worden. Ihr wichtigster Partner zu Fragen des Wasserbaus war der Ingenieur Arthur Cotton, der in den 1850er Jahren wesentlich daran beteiligt war, den Godavari zu einem der Hauptwasserwege auf dem indischen Subkontinent zu entwickeln.<ref>Gourlay, S. 124.</ref>

In den 1870er Jahren verhinderten Diskussionen um die Finanzierung und die Frage, ob statt des Baus von Wasserkanälen nicht besser der Schienenverkehr entwickelt werden sollte, einen Ausbau von Bewässerungsanlagen und Wasserwegen.<ref>Gourlay, S. 124–125.</ref> Die Anstrengungen Nightingales, die Kabinettsmitglieder der Regierung Benjamin Disraelis zur Einberufung einer Untersuchungskommission zu bewegen, blieben vergeblich. Erst nach der Hungersnot von 1899, die in Ausmaß und Schwere die vorangegangenen übertraf, berief der indische Generalgouverneur Lord Curzon eine entsprechende Kommission ein, die ebenfalls Wasserbaumaßnahmen als wesentliches Instrument zur besseren Versorgung der indischen Bevölkerung empfahl.<ref>Bostridge, S. 475.</ref>

Landrechte und Gesundheitsfürsorge
Datei:Robinson, George Frederick Samuel-02.jpg
Lord Rippon, von 1880 bis 1884 Generalgouverneur und Vizekönig von Indien

Die Ursache für die Armut der indischen Landbevölkerung sah Nightingale in der Form des Pachtwesens. Landpächter, die sogenannten Ryots, waren weitgehend schutzlos der Willkür der Zamindare, den Großgrundbesitzern, ausgesetzt.<ref>Gourlay, S. 139–140.</ref> Es gab zwar immer wieder Gesetzesinitiativen, die illegale Pachtzuschläge, Wucherzinsen und Möglichkeiten zur Zwangsräumung von verpachtetem Land einschränken sollten. Doch blieben diese Maßnahmen halbherzig, da neben den Zamindars auch europäische Pflanzer von einer Stärkung der Rechte der Landbevölkerung betroffen waren.<ref>Gourlay, S. 139–149.</ref>

Nightingales Bemühen konzentrierte sich darauf, die britische Öffentlichkeit darüber aufzuklären, und trotz Mäßigungsversuchen durch ihren langjährigen Freund Benjamin Jowett warf sie schließlich dem India Office öffentlich Desinteresse an den Lebensbedingungen der indischen Bevölkerung vor.<ref>Bostridge, S. 478.</ref> Große Hoffnung verband sie mit der Ernennung des Liberalen Lord Ripon zum neuen Generalgouverneur in Indien.<ref>Gourlay, S. 162.</ref> Sein Amtsantritt fiel mit der Veröffentlichung der Untersuchungskommission zur Hungersnot von 1877/1878 zusammen, die eine Reihe von Maßnahmen empfahl, für die Nightingale seit Beginn der 1870er Jahre geworben hatte, und die Lord Ripon umzusetzen begann.<ref>Gourlay, S. 165.</ref> Nightingale, die Lord Ripon als seinen morale-booster (moralische Treibkraft) bezeichnete,<ref>Bostridge, S. 495.</ref> versorgte ihn dabei mit Informationen und Analysen zu einer großen Bandbreite an Themen. Zu Lord Ripons Leistung gehören unter anderem die Ausarbeitung des Land Tenancy Bill, der die Rechte der Ryots stärken sollte, die Gründung agrarwissenschaftlicher Fachabteilungen innerhalb der britischen Verwaltung, Ausbau der Transportwege und eine Rücklagenbildung, um im Fall von Hungersnöten schneller reagieren zu können.<ref>Gourlay, S. 165.</ref> Lord Ripon trat schließlich 1884 wegen der Reaktion auf den von ihm vorgelegten Ilbert Bill zurück, der die Rechte der indischen Bevölkerung ausweiten sollte und unter anderem vorsah, dass in Britisch-Indien auch Inder über Briten zu Gericht sitzen konnten.<ref>Gourlay, S. 179–187.</ref>

Unter den Mitgliedern des Indischen Nationalkongresses warb Nightingale seit den späten 1880er Jahren für Programme, die die Landbevölkerung mit einfachen Maßnahmen zur Gesundheitsfürsorge vertraut machen sollte. Sie arbeitete außerdem eng mit Lady Dufferin, der Ehefrau des indischen Generalgouverneurs Lord Dufferin, zusammen, deren als Dufferin Fund bekannt gewordene Stiftung indischen Frauen den Zugang zu einer medizinischen Versorgung ermöglichen sollte.<ref>Gourlay, S. 237–238.</ref> Die Stiftung gründete Apotheken und kleine Krankenhäuser. Außerdem richtete sie in größeren Krankenhäusern Stationen ein, die ausschließlich weibliche Patienten aufnahmen, die dort nur von Frauen betreut wurden. Die wesentliche Leistung des Dufferin Fund bestand in der Ausbildung indischer Krankenschwestern, Hebammen und Ärztinnen. Zu den letzten Schriften Nightingales zählen einfache Fibeln zu Themen der Gesundheitsfürsorge, die in verschiedene indische Sprachen übersetzt wurden.<ref>Gourlay, S. 242.</ref>

Nightingale und Frauenemanzipation

Obwohl Nightingale sich für einen Lebensweg außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen ihrer Gesellschaftsschicht und ihrer Zeit entschied, war sie keine Verfechterin der Emanzipation der Frau. Die Historikerin Melanie Phillipps bezeichnet sie sogar als eine ihrer entschiedensten Gegnerinnen.<ref>Melanie Phillips: The Ascent of Woman – A History of the Suffragette Movement and the ideas behind it. Time Warner Book Group, London 2003, ISBN 0-349-11660-1, S. 50.</ref> In den 1859 erschienen Notes on Nursing wandte sich Nightingale unter anderem gegen die Forderung der Frauenrechtlerinnen, Frauen das Medizinstudium zu öffnen. Zu ihren Freundinnen zählte zwar schon in den 1850er Jahren Elizabeth Blackwell, eine der ersten Ärztinnen mit Hochschulabschluss, und beide erwogen gelegentlich eine engere Zusammenarbeit. Auf John Stuart Mills kritische Anmerkungen zu Nightingales Einstellung zur Frauenemanzipation antwortete sie ihm, dass Ärztinnen versuchten „Männer“ zu sein, aber bestenfalls zu drittklassigen Männern würden, denen jeglicher Einfluss auf eine Verbesserung der medizinischen Fürsorge verwehrt bliebe.<ref name="Bostridge, S. 375">Bostridge, S. 375.</ref> Sowohl Phillipps als auch Bostridge sehen Nightingales skeptische Haltung gegenüber der Frauenrechtsbewegung in ihrer Enttäuschung begründet, dass sie nur wenige Frauen der Mittelschicht für die Krankenpflege begeistern konnte. Nightingale war fest davon überzeugt, dass Frauen weit mehr Gelegenheiten zur beruflichen Tätigkeit offen stünden, als diese nutzten.<ref>Phillipps, S. 52.</ref><ref name="Bostridge, S. 375" /> Ihre Einstellung gegenüber Ärztinnen wurde im Laufe der Jahre weniger kritisch, und bei den letzten beiden Ärzten, die sie versorgten, handelte es sich um Frauen.<ref name="Bostridge, S. 375" />

Nightingale befürwortete zwar das Wahlrecht für Frauen, maß ihm aber eine weit geringere Bedeutung bei als einer Verbesserung der Gesundheitsfürsorge. Gemeinsam mit Harriet Martineau, Josephine Butler, Mary Carpenter, Lydia Becker und weiteren 135 Frauen gehört sie jedoch zu den Frauen, die die Petition vom 1. Januar 1870 zur Abschaffung der Contagious Diseases Acts unterzeichneten.<ref>Phillips, S. 84.</ref> Diese Petition, die heute als ein Gründungsdokument des modernen Feminismus gilt, wandte sich gegen eine Kriminalisierung von Prostituierten während ihre Kunden unbehelligt blieben. Anlass für den Erlass des Gesetzes war die hohe Zahl an britischen Soldaten, die an Geschlechtskrankheiten litten. Nightingale hatte sich bereits 1864 gegen diesen Erlass gewendet, weil er aus ihrer Sicht nicht nur unmoralisch sondern auch gänzlich ungeeignet war, die Zahl der Erkrankten zu reduzieren.<ref>Bostridge, S. 406.</ref> Eine effektivere Maßnahme war aus ihrer Sicht die Schaffung von Quartieren für verheiratete Soldaten und Aufenthaltsräumen, die den Soldaten die Möglichkeit gaben, ihre freie Zeit außerhalb der Vergnügungsviertel der jeweiligen Garnisonsstadt zu verbringen. Als Beleg verwies sie auf das Beispiel der 5th Dragoon Guards, einem Kavallerieregiment, das über solche Einrichtungen verfügte und eine deutlich geringere Fallzahl an Geschlechtskrankheiten aufwies.<ref>Bostridge, S. 405–406.</ref>

Letzte Lebensjahre

Datei:Florencenighting00abbouoft 0070.jpg
Florence Nightingale (etwa um das Jahr 1906)

Ab 1887 litt Nightingale zunehmend unter Sehschwierigkeiten und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch mit großer Mühe in der Lage, zu schreiben oder zu lesen. Ab 1895 klagte sie außerdem über einen zunehmenden Gedächtnisverlust, ab 1896 war sie darüber hinaus weitgehend ans Bett gebunden. Sie versuchte weiterzuarbeiten, so lange es ihr möglich war, und nahm noch Anteil an dem Versuch von Lord und Lady Monteagle, ausgebildete Krankenpflegerinnen in irischen Arbeitshäusern zu etablieren. Ab 1898 ließ man nur noch die engsten Verwandten zu ihr vor, eine Gesellschafterin und eine Krankenpflegerin versorgten sie in ihrem Haus in der South Street. Es ist nicht sicher, ob ihr noch bewusst war, dass König Edward sie in den Order of Merit aufnahm, und ihr kurz darauf die Stadt London die Freedom of the City verlieh. Sie starb am 13. August 1910 im Schlaf. Das Grab Nightingales befindet sich auf dem Friedhof der Church of St. Margaret in Wellow.<ref>Website der Stadt Lymington.</ref>

Nachlass

Zu Nightingales Nachlass gehören Briefe, Kopien von Briefen und Briefentwürfe, Manuskripte, Tagebücher und Notizen. Die Sammlung ihrer persönlichen Unterlagen und Dokumente, die in der British Library aufbewahrt wird,<ref name="Nachlass">Nachlass</ref> ist die umfangreichste nach der des britischen Premierministers William Ewart Gladstone und füllt fast zweihundert Bände.<ref>Bostridge, S. 4–5.</ref> Eine weitere umfangreiche Sammlung von Quellen zum Leben von Florence Nightingale befindet sich im Claydon House<ref name="Nachlass" />, dem Familiensitz der Familie Verney, in die Nightingales ältere Schwester Parthenope eingeheiratet hatte. Aufbewahrt werden hier Briefe von Florence Nightingale an ihre Eltern und ihre Schwester sowie ein Teil der Korrespondenz der Nightingale-Familie über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren.<ref name="Bostride, S. 5">Bostride, S. 5.</ref>

Die umfangreiche Sammlung ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Parthenope Verney den Wunsch ihrer Schwester nicht erfüllte, Teile ihrer Korrespondenz zu vernichten.<ref>Bostridge, S. 6.</ref> In den London Metropolitan Archives befindet sich eine dritte Sammlung<ref name="Nachlass" />, deren Schwerpunkt Quellen zur Krankenpflegeschule im St Thomas’ Hospital ist. Quellen zum Leben von Florence Nightingale werden außerdem weltweit in weiteren zweihundert Archiven aufbewahrt. Insgesamt sind allein 14.000 Briefe von Nightingale bekannt. Der älteste stammt aus dem Jahr 1827 als sie sieben Jahre alt war, die jüngsten Briefe stammen aus dem Jahr 1907. Damit gehört ihr Leben zu einem der am besten dokumentierten des viktorianischen Zeitalters.<ref name="Bostride, S. 5" />

Nachwirkung

Datei:Florencenighting00abbouoft 0018.jpg
Die Geschichte, dass Nightingale den verletzten Hirtenhund Cap gesund gepflegt hätte, war seit 1867<ref>Bostridge, S. 46.</ref> fester Bestandteil früher Nightingale-Biografien.

Bereits im Februar 1855 brachte die deutsche Illustrierte „Die Gartenlaube“ einen ersten – sehr wohlwollenden – Bericht über das Wirken von Nightingale während des Krimkrieges unter dem Titel Hospital-Scenen vom Kriegsschauplatze, der drastisch und unverblümt die katastrophale Situation der Kriegsverwundeten schildert.

Die erste Biographie Nightingales erschien bereits 1855. Das dünne, 16-seitige Heftchen, das einen Penny kostete, beschrieb ihre frühen Jahre in einer Weise, die sich auch in anderen Biografien wiederholten, die zu ihren Lebzeiten erschienen: ihr schon früh bewiesenes Mitgefühl mit den Kranken, ihre Fürsorge für Arme und ihre freiwillige Selbstbeschränkung trotz des privilegierten Familienhintergrunds.<ref>Bostridge, S. 268.</ref> Erst die 1913 erschienene Biografie Edward Tyas Cooks brach mit der traditionellen Darstellungsweise von Nightingales Leben. Er erwähnte zwar die zum typischen Erzählkanon<ref>Bostridge, S. 47.</ref> gehörenden Geschichten, nach denen Nightingale bereits als junges Mädchen ihre Puppen „gesund“ gepflegt und den verletzten Hütehund Cap versorgt habe, betonte aber seine Skepsis über den Wert solcher Berichte, selbst wenn sie auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen sollten.<ref>Bostridge, S. 45.</ref>

In einem Brief an Margaret Verney, der Schwiegertochter von Nightingales Schwester Parthenope, schloss Cook nicht aus, dass er möglicherweise die schwierigeren Seiten von Nightingales Charakter überbetont habe. Er habe aber Wert darauf gelegt, sich möglichst weit von den sentimentalisierenden Biografien abzugrenzen, die sie zu einer „Gipsheiligen“ hätten werden lassen.<ref name="b528">Bostridge, S. 528.</ref> Cook beschrieb Nightingale unter anderem als überaus hartnäckig, ungeduldig und wenig tolerant gegenüber Widerspruch. Sehr offen thematisierte er ihr angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrer Schwester. Breiten Raum in Cooks Biografie nimmt ihre Leistung nach ihrer Rückkehr aus dem Krimkrieg ein, darunter auch ihre zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon weitgehend vergessenen Anstrengungen für eine bessere Gesundheitsfürsorge in Britisch-Indien.<ref name="b528" />

Er porträtierte sie aber auch nicht als eine, sondern als die Pionierin der modernen Krankenpflegerin, womit er die Leistungen von Zeitgenossinnen wie Elizabeth Fry und Mary Jones übersah, und vermittelte dem Leser den Eindruck, dass die Nightingale School of Nursing von Beginn an erfolgreich gewesen sei.<ref name="b528" /> Nach Ansicht von Bostridge beeinflusste Cooks Biografie alle darauf folgenden Biografien Nightingales.<ref name="b528" /> Dazu zählt auch Lytton Stracheys Essay über sie, der sie als eine Frau darstellt, die ihren Sexualtrieb unterdrückt, um Macht über Männer zu gewinnen.<ref>Bostridge, S. 530.</ref>

1928 veröffentlichte Ray Strachey eine kurze Geschichte der britischen Frauenbewegung und nahm im Anhang Nightingales Essay Cassandra auf, worin die Autorin das sinnentleerte Leben von Frauen ihrer Schicht thematisiert und den Mangel an selbstbestimmter Zeit beklagt. Nightingale hatte den Essay als Dreißigjährige verfasst und später in einer überarbeiteten Form in ihre Suggestions for thought aufgenommen. Diese waren aber nur als Privatdruck veröffentlicht worden und wurden erst durch Strachey einer breiteren Leserschaft zugänglich.<ref>Bostridge, S. 177–179.</ref> Die Feministin Vera Brittain bezeichnete in einem im Januar 1929 im Manchester Guardian erschienenen Artikel diesen Essay als Todesstoß für die „monströse Legende“ von der Dame mit der Lampe.<ref name="b534">Bostridge, S. 534–535.</ref> Zu den Lesern von Nightingales Cassandra zählte auch Virginia Woolf. Bostridge vertritt die Auffassung, dass das Beispiel Nightingale wesentlich für Woolfs These war, dass persönliche Privatsphäre wesentlich für Kreativität ist, und nennt als Beleg dafür, dass Woolf in frühen Entwürfen zu Ein Zimmer für sich allein auf Nightingale verhältnismäßig ausführlich eingeht.<ref name="b534" />

Die erste filmische Biografie Nightingales wurde bereits 1915 unter der Regie von Maurice Elvey in Großbritannien produziert. Die Filmrollen dieses Stummfilms sind nicht mehr erhalten, erhaltenes Werbematerial zeigt unter anderem eine Szene, in der ein Filmuntertitel Nightingale fälschlich als Gründerin des Roten Kreuzes bezeichnet.<ref name="b534" /> Das erste abendfüllende Bühnenstück über Nightingale schrieb die US-Amerikanerin Edigh Gittings Reich im Jahre 1922, das Stück wurde aber vermutlich nicht sehr häufig aufgeführt. Wesentlich erfolgreicher war das Theaterstück The Lady with a Lamp von Reginald Berkeley, in dem Edith Evans bei der Premiere die Hauptrolle spielte.<ref name="Bostridge, S. 536">Bostridge, S. 536.</ref> Berkeley lehnte sich bei der Charakterisierung seiner Hauptfigur stark an den Essay von Lytton Strachey an, führte aber auch romantische Verwicklungen ein. Die offensichtlich von Richard Monckton Milnes inspirierte Figur des Henry Tremayne hält vergeblich um Nightingales Hand an und stirbt in Scutari als verwundeter Soldat in ihren Armen. Als Krankenpflegerin tritt Nightingale in diesem Stück ansonsten nicht in Erscheinung, was einen Kritiker zu der Bemerkung inspirierte, sie sei darin „die heilige Johanna der Hygiene, die von Stimmen zu Abwasserrohren berufen sei“.<ref>Im Original wird Nightingale als St. Joan of Sanitation whose girlhood voices give one clear call to drains bezeichnet (S. 537).</ref><ref name="Bostridge, S. 536" /> Auf Grund des Erfolgs des Theaterstücks wurde das Leben Nightingales 1936 auch in Hollywood verfilmt. Der von William Dieterle gedrehte Film The White Angel mit Kay Francis in der Hauptrolle erwies sich jedoch nicht als sonderlich erfolgreich.<ref name="b539">Bostridge, S. 539.</ref>

Bereits 1937 hielt eine Kritik in der Times Literary Supplement bei einer Besprechung von Margaret Smiths bissiger Nightingale-Biografie fest, dass zeitgenössische Nightingale-Biografien die Tendenz hätten, ihre Neigung zu Sarkasmus, Schärfe und diktatorischer Effizienz genauso überzubetonen wie viktorianische Biografien es mit ihrer Milde und Barmherzigkeit getan hätten.<ref name="b539" /> Im Herbst 1950 erschien Cecil Woodham-Smiths Nightingale-Biografie, für die sie neun Jahre lang recherchiert hatte, und die sich um eine neutralere Darstellung bemühte. Die Biografie war in Großbritannien ein Verkaufserfolg, wurde sowohl als Hardcover als auch Taschenbuch mehrfach neu aufgelegt und begründete Woodham-Smiths Ruf als Biografin.

1951 wurde Nightingale Leben mit Anna Neagle als The Lady With a Lamp erneut verfilmt. Julie Harris spielte die Rolle 1964 in The Holy Terror für das US-Fernsehen. Eine Version, die mehr die romantischen Verwicklungen im Hospital in den Vordergrund stellte, wurde 1985 mit Jaclyn Smith und Timothy Dalton ebenfalls für das Fernsehen produziert.

Mark Bostridges 2008 veröffentlichte Biografie gilt als die erste bedeutende seit der von Cecil Woodham Smith. Sie wurde vom Wall Street Journal zu einem der besten Bücher des Jahres 2008 gewählt und 2009 mit dem Elizabeth-Longford-Preis ausgezeichnet.

Die Evangelische Kirche in Deutschland ehrt Florence Nightingale mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender am 14. August. Ihr Gedenktag für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika und für die anglikanische Kirche ist ihr Todestag, der 13. August.<ref>Florence Nightingale im Ökumenischen Heiligenlexikon</ref>

Auswirkung auf die deutsche Krankenpflegegeschichte

Die Krankenpflegegeschichte im deutschsprachigen Raum unterscheidet sich von der britischen, weil hier insbesondere katholische Pflegeorden einen größeren Einfluss hatten. Der Einfluss der Reformleistungen von Florence Nightingale ist entsprechend geringer. Im deutschsprachigen Raum lag die Professionalisierung der Pflege in den Händen von religiös geprägten Mutterhäusern. Nächstenliebe als wesentliche Motivation, Zersplitterung der Berufsorganisationen, Anrede als „Schwester“, niedrige Vergütung und geringes Ansehen in der Öffentlichkeit lassen sich nicht zuletzt auch auf den religiösen Ursprung zurückführen.<ref>Die Entstehung der neuzeitlichen Krankenpflege. Deutsche Quellenstücke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Kohlhammer Verlag Stuttgart 1960.</ref><ref>Eduard Seidler: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege. 6. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 1993, ISBN 3-17-012427-7.</ref><ref>Heinrich Haeser: Geschichte christlicher Krankenpflege und Pflegerschaften. Nachdruck der Originalausgabe von 1857 Bremen: EHV-History 2013. ISBN 978-3-95564-036-1.</ref><ref>Gertrud Stöcker: Bildung und Pflege: eine berufs- und bildungspolitische Standortbestimmung. 2. Auflage. Schlütersche, 2002. ISBN 3-87706-690-9.</ref>

Veröffentlichungen (Auswahl)

  • Notes on matters affecting the health, efficiency, and hospital administration of the British Army founded chiefly on the experience of the late war, Regierungsbericht, 1857
  • Female Nurses in Military Hospitals, 1857
  • Subsidiary Notes as to the Introduction of Female Nursing in Military Hospitals in War and Peace, 1858
  • Notes on Nursing; What it is and What it is Not, 1859
  • Notes on Hospitals, 1859 – 3. vollständig überarbeitete Auflage 1863
  • Suggestions for Thought to the Searcher after Truth among the Artizans of England, 1860 (privater Druck)
  • Suggestions on the Subject of Providing Training and Organising Nurses for the Sick Poor in Workhouse Infirmaries in Report of the Committee on Cubic Space of Metropolitan Workouses, 19. Januar 1867, S. 64–69
  • Una and the Lion, Good Words, Juni 1868
  • Introductory Notes on Lying-in Hospitals, together with a Proposal for Organising an Institution for the Training of Midwives and Midwifery Nurses, 1871
  • Addresses to the Probationer in the Nightingale Fund School at St Thomas’ Hospital, 1872–1900 (Privatdruck)
  • Letter to the Nurses of the Edinburgh Royal Infirmary, 1878 (Privatdruck)
  • On Trained Nursing for the Sick Poor, 1881 (Privatdruck)

Literatur

  • Mark Bostridge: Florence Nightingale. Penguin Books, London 2009, ISBN 978-0-14-026392-3.
  • Monica E. Baly: Florence Nightingale and the Nursing Legacy. Whurr Publishers, London 1997, ISBN 1-86156-049-4.
  • I. Bernard Cohen: Florence Nightingale. Scientific American, 250 (March 1984), S. 128–137.
  • Barbara Montgomer Dossey: Florence Nightingale – Mystic, Visionary, Healer, Springhouse Corporation, Springhouse 2000, ISBN 0-87434-984-2.
  • Werner Färber: Wer war Florence Nightingale. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin 2009, ISBN 978-3-941087-19-4.
  • Florence Nightingale. Kaiserswerth und die britische Legende. Zum 150-jährigen Jubiläum der Erstveröffentlichung von Florence Nightingales Bericht über die Diakonissenanstalt Kaiserswerth und ihrer Ausbildung in Kaiserswerth. Düsseldorf, 2001.
  • Wolfgang Genschorek: Schwester Florence Nightingale. Teubner, Leipzig 1990, ISBN 3-322-00327-2.
  • Margaret Grier: Florence Nightingale and Statistics. Res. Nurse Health, 1 (1978), S. 91–109.
  • Jharna Gourlay: Florence Nightingale and the Health of the Raj. Ashgate, Burlington 2003, ISBN 0-7546-3364-0.
  • Gisbert Kranz: Florence Nightingale (1820–1910). In: Ders.: Zwölf Frauen. EOS-Verlag, St. Ottilien 1998. ISBN 3-88096-461-0. S. 357–383.
  • Sally Lipsey: Mathematical Education in the Life of Florence Nightingale. Newsletter of the Association for Women in Mathematics, Vol 23, Number 4 (July-August 1993), S. 11–12.
  • Peggy Nuttall: The Passionate Statistician, Nursing Times, 28 (1983), S. 25–27.
  • Melanie Phillips: The Ascent of Woman – A History of the Suffragette Movement and the ideas behind it. Time Warner Book Group, London 2003, ISBN 0-349-11660-1.
  • Helen Rappaport: No Place for Ladies – The Untold Story of Women in the Crimean War. Aurum Press Ltd, London 2007, ISBN 978-1-84513-314-6.
  • Gilbert Sinoué: La dame à la lampe: Une vie de Florence Nightingale. Calmann-Lévy, Paris 2008.
  • Notes on NursingFlorence Nightingale. Bemerkungen zur Krankenpflege. neu übersetzt und kommentiert von Christoph Schweikhardt; Susanne Schulze-Jaschok. Mabuse-Verlag, Frankfurt 2005, ISBN 3-935964-79-X.
  • Sandra Stinnett: Women in Statistics: Sesquicentennial Activities The American Statistician, May 1990, Vol 44, No. 2, S. 74–80.

Weblinks

Commons Commons: Florence Nightingale – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource Wikisource: Florence Nightingale – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

(Abgekürzte Buchtitel aus obiger Literatur) <references />

24px Dieser Artikel wurde am 1. Oktober 2011 in dieser Version in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen.