Tabun


aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Wechseln zu: Navigation, Suche
25px Dieser Artikel behandelt eine chemische Substanz. Für den paläontologischen Fundort in Israel siehe Tabun-Höhle.
Strukturformel
Strukturformel von (±)-Tabun
1:1-Gemisch aus (R)-Tabun (links) und (S)-Tabun (rechts)
Allgemeines
Name Tabun
Andere Namen
  • (RS)-Dimethylphosphoramido
    cyanidsäureethylester
  • P-Cyano-N,N-dimethyl
    phosphonamidsäureethylester
  • GA
  • Trilon 83
Summenformel C5H11N2O2P
CAS-Nummer 77-81-6 (Racemat)
PubChem 6500
Kurzbeschreibung

farblose bis bräunliche Flüssigkeit mit fruchtigem, bei Erhitzen bittermandelartigem Geruch<ref name=roempp>Eintrag zu Tabun. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 12. Juni 2014.</ref>

Eigenschaften
Molare Masse 162,13 g·mol−1
Aggregatzustand

flüssig

Dichte

1,08 g·cm−3<ref name ="GESTIS"/>

Schmelzpunkt

−48 °C<ref name ="GESTIS"/>

Siedepunkt

246 °C (Zersetzung)<ref name ="GESTIS"/>

Dampfdruck

8,4 Pa (20 °C)<ref name ="GESTIS"/>

Löslichkeit

mäßig löslich in Wasser<ref name=roempp/>

Brechungsindex

1,4250 (20 °C)<ref name="CRC90_3_466">David R. Lide (Hrsg.): CRC Handbook of Chemistry and Physics. 90. Auflage. (Internet-Version: 2010), CRC Press/Taylor and Francis, Boca Raton, FL, Physical Constants of Organic Compounds, S. 3-466.</ref>

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung <ref name="NV">Diese Substanz wurde in Bezug auf ihre Gefährlichkeit entweder noch nicht eingestuft oder eine verlässliche und zitierfähige Quelle hierzu wurde noch nicht gefunden.</ref>
keine Einstufung verfügbar
H- und P-Sätze H: siehe oben
P: siehe oben
EU-Gefahrstoffkennzeichnung <ref>Für Stoffe ist seit dem 1. Dezember 2012, für Gemische seit dem 1. Juni 2015 nur noch die GHS-Gefahrstoffkennzeichnung gültig. Die EU-Gefahrstoffkennzeichnung ist daher nur noch auf Gebinden zulässig, welche vor diesen Daten in Verkehr gebracht wurden.</ref><ref name="GESTIS">Eintrag zu CAS-Nr. 77-81-6 in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA, abgerufen am 01.01.2008 (JavaScript erforderlich)</ref><ref name="hbdgg">Günter Hommel, Herbert F. Bender: Handbuch der gefährlichen Güter, Bd.6, Blatt 2284, Springer-Verlag, Dezember 2003, ISBN 3-540-20369-9.</ref>
Sehr giftig
Sehr giftig
(T+)
R- und S-Sätze R: 26/27/28​‐​40
S: 13​‐​45
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen. Brechungsindex: Na-D-Linie, 20 °C

Tabun ist ein Nervenkampfstoff. Die Substanz wurde 1936 vom deutschen Chemiker Gerhard Schrader entdeckt, der damals für die I.G. Farben (in Leverkusen) tätig war. Ab 1942 wurde Tabun industriell gefertigt und im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht in Bomben und Granaten verfüllt, jedoch nicht eingesetzt.

Tabun ist ein Ester einer zweifach substituierten Phosphorsäure und von der Struktur her vielen Pflanzenschutzmitteln (phosphororganischen Insektiziden z. B. Methamidophos) ähnlich. Tabun ist eine farblose bis bräunliche Flüssigkeit mit fruchtigem, bei Erhitzen bittermandelartigem Geruch. Bei seinem Einsatz kann Blausäure entstehen.

Geschichte

40 km nördlich von Breslau, in Dyhernfurth, begannen 1940 die deutsche Wehrmacht und die SS mit dem Bau einer Chemiewaffenanlage, vor allem zur Herstellung von Tabun. Dort wurden etwa 12.000 Tonnen<ref name="Schmaltz2005">Florian Schmaltz: Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus: zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie. Wallstein, 2005, ISBN 978-3-892-44880-8, S. 453–455 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).</ref> Tabun erzeugt und verarbeitet. Otto Ambros, der Vorstandsvorsitzende der Anorgana GmbH, einer IG-Farben-Gesellschaft, war einer der Hauptverantwortlichen für das Werk.

Nach Kriegsende wurden Wehrmachtsbestände an mit Tabun bestückten Bomben und Granaten in der Ostsee versenkt. Das aus den korrodierten Behältern austretende Gift gefährdet inzwischen den dortigen Fischbestand.

Erst 2008 wurde bekannt, dass 1949 etwa 2,5 Seemeilen (ca. 4,6 km) südlich von Helgoland Granaten mit bis zu zehn Tonnen Tabun versenkt wurden. Insgesamt handelt es sich um rund 90 Tonnen Giftgasgranaten (ca. 6.000 einzelne Granaten), die dort auf dem Grund der Nordsee lagern.<ref>Hamburger Abendblatt: 6000 Granaten mit Nervengift vor Helgoland gesucht, 9. Dezember 2008.</ref><ref>Hamburger Abendblatt: Giftgas vor Helgoland, 17. Juni 2009.</ref>

1955/56 wurden größere deutsche Tabunbestände, die von den britischen Streitkräften nach dem Zweiten Weltkrieg in Wales zwischengelagert waren, von der Royal Navy und Royal Air Force in der Operation Sandcastle aus Sicherheitsgründen auf ausgedienten Handelsschiffen nordwestlich von Irland versenkt: am 27. Juli 1955 der Dampfer Empire Castle, am 30. Mai 1956 das Motorschiff Vogtland und am 21. Juli 1956 der Dampfer Kotka.

Tabun ist der älteste der drei sogenannten G-Kampfstoffe (Code: GA, G steht für Germany<ref name="hbdgg"/>) neben Soman und Sarin. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA und Großbritannien die Fertigung dieses Kampfstoffes. Die Sowjetunion hingegen zeigte kein großes Interesse an Tabun und konzentrierte sich mehr auf Soman. Tabun wurde außerdem von Saddam Hussein im Iran-Irak-Krieg und 1988 gegen die eigene Bevölkerung im kurdischen Nordirak beim Giftgasangriff auf Halabdscha eingesetzt.

Wirkungsweise

Die Aufnahme von Tabun ist über die Haut und die Atmung möglich. Im Körper blockiert Tabun die Acetylcholinesterase, die im Nervensystem den Neurotransmitter Acetylcholin aufspaltet und somit essentiell für die Reizweiterleitung ist.

Es kommt, je nach Stärke der Vergiftung, zu folgenden Symptomen: Kopfschmerzen, Übelkeit mit Erbrechen und Durchfällen, Augenschmerzen, Müdigkeit, Krampfanfälle, Zittern, Zucken der Muskulatur, unkontrollierter Harn- und Stuhlabgang, Atemnot, Appetitlosigkeit, Angstzustände, Spannungen, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein.

Schutzmaßnahmen

Nervenkampfstoffe wirken bereits in kleinsten Mengen tödlich. Angriffsfläche ist der gesamte Körper. Deshalb bietet nur ein Ganzkörper-Schutzanzug und eine Schutzmaske mit Atemfilter ausreichenden Schutz. Vor einem Kampfstoffeinsatz können Oxim-Tabletten oder Carbamate wie Pyridostigmin oder Physostigmin eingenommen werden.<ref name="Eckert">Saskia Eckert: Entwicklung eines dynamischen Modells zum Studium der Schutzeffekte reversibler Acetylcholinesterase-Hemmstoffe vor der irreversiblen Hemmung durch hochtoxische Organophosphate (PDF; 1,2 MB), Dissertation an der Universität München, 2006, S. 1.</ref><ref name="Szinicz-Baskin">Szinicz, L. and Baskin, S. I.: Chemische und biologische Kampfstoffe. In: Lehrbuch der Toxikologie. W. V. mbH. Stuttgart: 865-895, 1999.</ref> Bei einer Vergiftung spritzt man Atropin oder Hyoscyamin (Alkaloid der Tollkirsche), die den Acetylcholinrezeptor blockieren und so die Wirkung des Acetylcholins aufheben.<ref>Eintrag zu Nervenkampfstoffe. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 12. Juni 2014.</ref> Im Verlauf der wochenlangen Nachbehandlung versucht man mit Obidoxim die AcChE zu regenerieren.

Für die Dekontamination können unter anderem Oxidationsmittel, wie z. B. Chlorkalk oder Calciumhypochlorit, alkalische Lösungen und nichtwässrige Medien, wie Aminoalkoholate, verwendet werden, da Nervenkampfstoffe empfindlich gegenüber Oxidationsmitteln sind und ihre Hydrolyse im basischen Milieu beschleunigt abläuft. Auf empfindlichen Oberflächen kann auch Natriumcarbonatlösung verwendet werden, die jedoch langsamer wirkt.

Siehe auch

Literatur

  • Roy Sloan: The tale of tabun. Nazi chemical weapons in North Wales, Llanrwst (Gwasg Carreg Gwalch) 1998. ISBN 0-86381-465-4

Einzelnachweise

<references />