Geschichte des Islam bei den Tuareg
Die Geschichte des Islam bei den Tuareg begann bereits zu Lebzeiten des Propheten und Religionsstifters Mohammed im 7. Jahrhundert. Truppen arabischer Kamelreiter drangen von der Mittelmeerküste ins Landesinnere vor, um die neue Religion, den Islam, in Afrika zu verbreiten. Soweit erforderlich, wurde Waffengewalt eingesetzt. Sie stießen über den libyschen Fessan und die zentralsaharischen Bergländer vor, bis sie zur nigrischen Ténéré-Wüste gelangten, nördlich des Tschadsees. Heute sind alle Tuareg Muslime.<ref>Forkl, Kalter, Leisten, Pavaloi Die Gärten des Islam, S. 271.</ref>
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
In Afrika gehört der Islam zu den wichtigsten Religionen und ist zusammen mit dem Christentum am meisten verbreitet. Bald nach dem Tod des Propheten Mohammed breitete sich der Islam vor allem im Norden aus und reichte bis an die Ostküste. Bereits im 8. Jahrhundert war der Islam auf dem Vormarsch, insbesondere bei den arabischen Kaufleuten, die auf dem Seeweg Handel betrieben. Über die Handelsrouten wurde der Islam immer weiter in den Süden gebracht, allein mit Ausnahme der Unterwerfung des Ghana-Reiches im heutigen Mali. Die Ausbreitung des Islam war maßgeblich von Interesse für das Gelehrtenwissen der arabischen Händler. Damit war er für die Handelsinteressen bestimmt. Seit etwa 1880 ist der Islam die herrschende Religion im nördlichen Drittel Afrikas. Inzwischen majorisiert die Religion den Großteil Westafrikas. Später wurde der Koran in gesondert eingerichteten Koranschulen unterrichtet.
Insbesondere im 11. Jahrhundert sah sich die ansässige Bevölkerung einer nachhaltigen Offensive islamisch-kultureller Überlagerung ausgesetzt. Ganze Stammesgruppen mit ihren Familien und Herden wanderten in die Hoheitsgebiete der Berber ein. Die Söhne der Mondsichel, ein arabischer Beduinenstamm, legten darüber eindringlich Zeugnis ab, denn sie sahen sich den Widerständen der eigenen Religion der Berber sowie streitlustigem Juden- und Christentum ausgesetzt. Die Anfeindungen gegen die neue Religion fielen jedoch unterschiedlich aus. Viele Bewohner wichen den militarisierten Eindringlingen aus und verzogen sich in die schwach besiedelten Gebiete der Sahara. Als beherzte Widerstandskämpferin andererseits wurde die berberische Priesterfürstin des Stammes der Dscharawa (Zanata), al-Kahina bekannt, die ihren Widerstand vom algerischen Aurès aus organisierte. Sie galt als unerbittliche Feldherrin.
Wo sich der Islam in der Region etablierte, erzeugte die Bevölkerung großes Sendungsbewusstsein. Dieses Phänomen „berberischer Kreuzzüge“ konnte insbesondere in der westlichen Sahara beobachtet werden, anspielend auf das Almoravidenreich in der Zeit von 1046 bis 1147. Im 11. Jahrhundert hatte der Islam die gesamte Westsahara durchdrungen und die berberischen Stämme unter seinen Einfluss gebracht. Als Folge des Eindringens wanderten die einheimischen Bevölkerungsgruppen nach Süden ab und lösten weitere Wanderungsbewegungen aus, die bis heute nicht zum Stillstand gekommen sind.
Der Islamisierungsprozess
Bei den berberischen Vorfahren der heutigen Tuareg (aus dem arabischen Wort: „terek = von Gott verlassen“, falls etymologisch überhaupt korrekt hergeleitet)<ref>Überwiegend wird die Auffassung vertreten, dass die berberische Bezeichnung für „targa“ für Fessan primär namensgebend war.</ref> vollzog sich der Prozess der Islamisierung und Arabisierung deutlich verhaltener. Die Kontakte zu den arabisierten Nomaden waren trotz der abgeschiedenen und dünn besiedelten Regionen Fessans und der Berge recht eng. Sie waren offen für die arabischen Kultureinflüsse, was ganz besonders für die Religion gilt. Sie ließen jedoch eher gewähren, als dass sie aktiv wurden. Gleichwohl schlichen sich tradierte Kulte zunehmend aus und verloren sich bei diesem Adaptionsprozess, der noch heute nicht abgeschlossen ist. Der Forschungsreisende und Ethnograph, Henri Lhote, der ein respektables Forschungs-Standardwerk über die Tuareg geschrieben hatte, schrieb in einem Kapitel über die Kel Ahaggar Algeriens und die religiösen Verhältnisse bei den Sahara-Bewohnern:<ref>Henri Lhote, Les Touaregs du Hoggar.</ref>„Auch wenn sie sich wie alle Neubekehrten darum bemühen, alte Glaubensbräuche zu verbergen, ist es doch richtig, daß solche hier und da zu erkennen sind“
Das Vordringen der europäischen Mächte beschleunigte die Islamisierung des saharisch-sahelischen Raumes. Insbesondere die islamischen Führer boten der bevorstehenden Kolonialverwaltung die Stirn. Sie organisierten Widerstände, die ab 1916 in der Ausrufung des Heiligen Krieges gipfelten und den Kaosenaufstand im Osten sowie den Firhun (Aufstand im Westen) nach sich zogen. Die daran beteiligten Tuaregführer genießen bis heute legendären Ruhm. Aufgrund fehlender Geschlossenheit der Tuaregstämme gingen die Kämpfe letztlich verloren. In Agadez wurde beim Kaosenaufstand 1917 drastisch deutlich, dass die religiösen Führer gefährlich einflussreich waren und gerade deshalb einem grausamen Blutbad ausgesetzt wurden.<ref name=Forkl>Forkl, Kalter, Leisten, Pavaloi Die Gärten des Islam, S. 273.</ref>
Zwar gilt der Koran den Tuareg als „Heiliges Buch“; dennoch ist nicht zu verkennen, dass mangels arabischer Sprachkenntnisse der Zugang zum Buch schwer fiel und auch heute noch schwerfällt. Die in nomadischer Lebensweise verhaftete nigrische Bevölkerung spricht vornehmlich Tamascheq und schreibt Tifinagh. Koranschulen waren und sind Knaben vorbehalten. Deren Besuch ist unregelmäßig, da viele Tuareg noch nomadische Lebensweisen pflegen. Jahrhunderte alte Moscheen existieren in Gao, Agadez und Timbuktu, vereinzelt im südlichen Ahaggar und im Aïr, sie werden aber bei weitem nicht so benutzt wie in anderen muslimischen Lebensräumen. Zumeist wird vom Besuch einer Moschee abgesehen. Stattdessen wird eine Bodenfläche gereinigt, die mit einem Kreis loser Steine eingefriedet wird. Dieser Ort gilt sodann der religiösen Handlung.<ref>Anna Freitag, Die Tuareg. Ein Wüstenvolk zwischen Gott und Geistern, S. 11.</ref> Das Gebet wird unter diesen kargen Umständen in Richtung Mekka verrichtet. Pilgerfahrten nach Mekka wiederum werden zumeist abgelehnt, da sie als reines Renommee verstanden werden. Der Ramadan wird großzügig ausgelegt, oft unter Hinweis darauf, das Volk habe außerhalb des Fastenmonats bereits zu oft Hunger zu leiden oder aber dass Tuareg als „Reisende“ (Nomaden) derartiger Pflichten überhaupt ledig seien. Insgesamt attestieren Wissenschaftler den Tuareg ein oberflächliches Verhältnis zur Religion des Islam.<ref name=Forkl />
Ineslemen (Korangelehrte)
Die Tuareg-Gemeinschaft ist bis heute stark hierarchisch strukturiert. Man unterscheidet eine Nomenklatur, die von den „Adeligen“ über die „Korangelehrten“, „Vasallen“ und die „Sklaven“ bis hin zu den „Schmieden“ reicht. Die „Ineslemen“ (auch: „Anselem“ oder Marabouts) sind die religiöse Klasse der Korangelehrten, die sich durch erbrechtliche oder durch taugliche Studienabschlüsse in diese Position bringen konnten. Ihr Stellenwert ist vergleichbar mit dem der Adeligen („Noblen“). Sie beschäftigen sich mit der Exegese des Koran und anderer religiöser Schriften. Praktische Relevanz offenbart sich in der Festlegung des Termins für den Aufbruch der Kamelkarawanen, bei Hochzeiten oder Beerdigungen.<ref>Forkl, Kalter, Leisten, Pavaloi Die Gärten des Islam, S. 272.</ref> Sie gelten als „Volk Gottes“ und wahren Pflichten der Großzügigkeit und Gastfreundschaft. Ihren Unterhalt (traditionell Speisen, heute Geld oder Geldwertes wie Ziegen) verdienen sich die Ineslemen aus dieser Tätigkeit. Weiterhin legen sie ihre Erfahrungen in „Zettelchen“ als Niederschriften fest und beschäftigen sich mit magischen Formeln; diese wurden oft in Kleidungsstücke eingenäht oder in Metallbehältern aufbewahrt, die als Halsamulett getragen wurden. Die Niederschriften befassen sich überdies mit Anleitungen zu Heilzwecken (albaraka = Segen); die Tinte der Niederschriften wird mit Wasser aufgeweicht und als Trunk dem Heilsbedürftigen gereicht, der die Texte so gewissermaßen verinnerlicht oder aber die Tinte wird auf Metalle aufgebracht und dann abgeräuchert. Der Kranke atmet die Dämpfe ein und gesundet in der Folge. Den Prozeduren gemeinsam ist, dass sie hoher Geheimhaltung unterliegen. Mittels Amulett-Briefchen werden auch wertvolle Tiere (insbesondere Kamele) geschützt. Es gilt den Teufel und dessen negative Kraft (iblis) zu bannen.<ref name=Forkl />
Religiöse Feste
Die im Islam verbreiteten Feste werden von den Tuareg kaum oder mit deutlichen Abweichungen gefeiert. So findet am heiligen Tag das Freitagsgebet nicht in Moscheen, geschweige denn in einer Masjed-e Jāme' statt. Der Fastenmonat (Ramadan) wird nicht stringent eingehalten. Kaum Bedeutung haben Ereignisse wie die Lailat al-Qadr (Nacht der Bestimmung), das Fest des Fastenbrechens („ʿĪdu l-Fitr“), das Opferfest, die Himmelfahrt Mohammeds, die Nacht der Vergebung („Lailatu l-Barā'a“), oder das „Jalsa Salana“ (Fest der spirituellen Erbauung).
Ein Fest, das in der weltweiten islamischen Bevölkerung regelmäßig nicht gefeiert wird, hat bei den Tuareg jedoch eine große Bedeutung, der Feiertag Mawlid an-Nabi zu Ehren des Geburtstages Mohammeds. Mawlid an-Nabi wird am 12. Tag des Monats Rabīʿ al-awwal des Islamischen Kalenders gefeiert, jedoch von vielen Muslimen als unzulässige Bidʿa (Neuerung) abgelehnt. Bestenfalls finden Zusammenkünfte statt, um Geschichten und Legenden aus dem Leben des Propheten zu erzählen oder zu hören. Dabei stehen die Moscheen erleuchtet.
Den Tuareg gilt es als Fest schlechthin. Sie nennen es „mulud“. Zu Mitternacht strömen Menschenmengen aus allen Himmelsrichtungen zu besonderen für das Fest vorgesehenen und vorbereiteten Kultplätzen. Jeder hat die beste Kleidung seines Repertoires am Leib. Es wird gesungen und in der Morgendämmerung werden draufgängerische Kamelritte demonstriert.<ref name=Kalter>Forkl, Kalter, Leisten, Pavaloi Die Gärten des Islam, S. 274.</ref>
Ein wichtiges Fest ist das der männlichen Beschneidung. Die frisch beschnittenen Männer, etwa im Alter von 18 Jahren erhalten Gesichtsschleier, sodass der Weg in die männliche Geschlechterrolle und die kulturellen Werte der Bescheidenheit eröffnet sind. Viele Rituale integrieren islamische und vorislamische Elemente in ihre Symbolik. Dabei handelt es sich um Verweise auf die matrilineare Linie der Ahnfrauen, vorislamische Geister, die Erde, Fruchtbarkeit und Menstruation.
Die Weltsicht der Tuareg erlaubt, dass die Seele (Iman) persönlicher als Geister ist. Die Seelen Verstorbener sind frei. Tote Seelen können Nachrichten bringen; im Gegenzug werden Gegenleistungen erbracht, wie Hochzeitsabsprachen. Die Zukunft könne gelegentlich vorhergesagt werden, wenn auf den Gräbern der Ahnen geschlafen wird. Vorstellungen über das Jenseits (Paradies) entsprechen denen des offiziellen Islam.
Die Stellung der Frau
Besonders geprägt von überlieferten kulturellen Werten aus der vor-islamischen Zeit ist die Stellung der Frau in der Tuareg-Gesellschaft. Die soziale Bedeutung der Frau weicht von den üblichen islamischen Traditionen deutlich ab. Frauen genießen enorme Verhaltensfreiheiten im Umgang mit Männern und engen die Dominanz des männlichen Geschlechts ein.<ref>Arthur Köhler, Verfassung, Soziale Gliederung, Recht und Wirtschaft der Tuareg, S. 26 ff.</ref> Die Frau ist gleichberechtigt und hat keine Rechenschaft darüber abzulegen, wohin sie geht und was sie tut, solange sie die Fürsorge für die Familie nicht vernachlässigt. Nachforschungen Henri Lhotes (siehe Literatur) sollen ergeben haben, dass keine Forderungen nach Jungfräulichkeit vor der Ehe bestehen. Es gäbe im berberischen Sprachgebrauch nicht einmal ein Wort dafür.<ref name=Kalter /> Matrilokalität und deren Vorschriften lassen es zu, sich von einem ungeliebten Ehemann scheiden zu lassen. Auch können den Mann ihn benachteiligende Eigentumsrechte treffen.<ref>Bruce S. Hall, A History of Race in Muslim West Africa, 1600-1960, S. 123.</ref>
Allein das Erbrecht wird korangerechter ausgelegt; so erbt der Sohn grundsätzlich das Doppelte der Tochter. Aber auch diese Regelungen werden umgangen, indem zu Lebzeiten verschenkt („alchabus“) wird. Verschiedene Güter sind gar nicht übertragbar und können nur genutzt werden („ach iddaren“), was den Verbleib in der Familie der Frau bedeutet, soweit auch hier matrilokale Vorschriften Anwendung finden. Dabei handelte es sich zumeist um Nutztiere und deren Milch. Der Entzug aus dem Güterkreislauf und dem Verbleib in der mütterlichen Erblinie, werden diese Tiere auch zum Gegenstand des „ach ebowel“ (Milch des Nestes).
Einzelnachweise
<references/>
Literatur
- Hermann Forkl, Johannes Kalter, Thomas Leisten, Margareta Pavaloi (Hrsg.): Die Gärten des Islam. edition hansjörg mayer, Stuttgart, London in Zusammenarbeit mit dem Lindenmuseum Stuttgart, 1993
- Thomas Krings: Sahelländer. WBG-Länderkunden, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-11860-X
- Henri Lhote: Les Touaregs du Hoggar. Paris 1955 (zweibändige Neuauflage 1984 und 1986), ISBN 978-2-200-37070-1
- Johannes Nicolaisen: Economy and Culture of the Pastoral Tuareg. Kopenhagen 1963 (wichtige Studie auf strukturalistischer Basis)
- Jacques Hureiki: Tuareg - Heilkunst und spirituelles Gleichgewicht. Cargo Verlag, Schwülper 2004. ISBN 978-3-980-58365-7
- Herbert Kaufmann: Wirtschafts- und Sozialstruktur der Iforas-Tuareg. Köln 1964 (Phil. Diss.)